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Veröffentlicht am 25.02.2021

Der ganze verdammte unvermeidliche Schmerz

Hard Land
1

„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. ...

„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“

Inhalt

Sam Turner hat die typischen Probleme eines Teenagers, allen voran seine traurige Rolle als Außenseiter, der er nur zu gerne entkommen würde. Aber die coolen Typen meiden ihn und außerdem wüsste er gar nicht, was er machen sollte, um endlich dazuzugehören. Stattdessen bewirbt er sich für einen Ferienjob im ortsansässigen Kino in der amerikanischen Kleinstadt Grady, um wenigstens eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Dort arbeiten bereits drei weitere Jugendliche, die allerdings schon etwas älter als Sam sind. Eine davon ist Kirstie Andretti, die Tochter des Kinobetreibers. Und in diesem Sommer wird alles anders, denn Sam verliebt sich zum ersten Mal in ein Mädchen und auch wenn Kirstie schon mehr Erfahrung und einen Freund hat, entwickelt sich zwischen ihnen dennoch eine innige, lebensbejahende Freundschaft. Sam könnte glücklich sein, wenigstens für diesen einen Sommer, bevor seine neuen Freunde aufs College wechseln werden und er wieder allein dasitzt. Doch ausgerechnet da, kehrt die Krebserkrankung seiner Mutter zurück, diesmal schlimmer und kräftezehrender als beim ersten Mal und Sam muss einsehen, dass er schneller erwachsen werden muss, als ihm lieb ist.

Meinung

Der deutsche Autor Benedict Wells, dessen Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ einer meiner Favoriten ist, hat sich in seinem aktuellen Buch den Herausforderungen und Gedanken eines jungen Menschen angenommen, der einerseits ganz zeitlose, klassische Probleme Jugendlicher mit sich herumträgt doch zum anderen ein zwiegespaltener Teenager ist, der durch eine gewisse äußere Tragik schneller erwachsen werden muss, als andere.

„Hard Land“ ist ein Coming-of-Age Roman, der die gesamte Breite dieser besonderen Zeit abdeckt, sie bildlich wach werden lässt und dabei eine klare Figurenzeichnung und einen realistischen Blick in eine Welt wirft, in der jeder schon einmal feststeckte und an deren Ende die gereifte Persönlichkeit steht.

Der Roman bekommt von mir das Prädikat „Jahreshighlight“, weil es eines der Bücher ist, welches nicht nur universell gilt, sondern weil es Erinnerungen wachruft, den Leser selbst zurückversetzt in die eigene Jugend, in die Gedankenwelt einer vergangenen Zeit, die man doch nicht vergessen wird, weil die Erlebnisse von damals viel prägender waren, als gedacht. Egal, in welchem Lebensjahrzehnt man steckt, diese Erzählung schafft es mühelos, jene Gedankenstränge aufleben zu lassen und mit den Protagonisten mitzufühlen – eine Lektüre, die man auch ein zweites oder drittes Mal lesen kann und die immer wieder neue Töne anschlägt.

Besonders gut gefallen hat mir neben dem flüssigen Schreibstil und der facettenreichen Charakterisierung der Protagonisten, die bloße Schilderung diverser Momentaufnahmen. Egal ob es sich dabei um eine Party handelt, bei der zu viel Alkohol fließt oder um die Eindrücke eines Jungen als er seine Angebetete zum ersten Mal in ihrer Unterwäsche sieht, egal ob es die Verletzungen sind, denen sich ein Heranwachsender stellen muss, wenn er merkt, dass ein Elternteil ihn verlassen wird und es gerade derjenige ist, der ihm mental viel nähersteht.

Egal welcher Satz hier geschrieben steht, in jedem steckt eine Menge Weisheit oder einfach die Ehrlichkeit derjenigen, die hier agieren und stellvertretend für die Leser die Vergangenheit aufleben lassen. Auch als Verfilmung könnte ich mir diese Romanvorlage bestens vorstellen, weil es ein generalistisches Thema mit einer sehr emotionalen Umsetzung ist und dennoch niemals ins klischeehafte abdriftet.

Ich mag es, wenn Romane sich den großen Fragen des Lebens widmen, diese aber auf kleine persönliche Entscheidungen und Gedanken herunterbrechen, so dass gerade das Zwiespältige deutlich wird. Und dieses Buch vollzieht diesen Vorgang über die gesamte Länge von gut 300 Seiten. Es sind Gedanken zu Freundschaft, Familie, Trennung, Zukunft, Liebe, Verantwortung – und doch stehen diese einzelnen Punkte nicht separat im Raum sondern werden miteinander in eine Interaktion gebracht, so dass deutlich wird, wie schwer es fallen kann eine Entscheidung zu treffen und wie sehr man später daran verzweifeln kann, genau diese Option gewählt zu haben und nicht die andere, inklusive der persönlichen Vorwürfe so nach dem Motto: „Warum habe ich nur?“

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen zeitlosen, innigen Roman, der vom Protagonisten selbst aus seiner Erinnerung heraus geschildert wird. Große Lebensfragen, menschliche Beziehungen, getroffene Entscheidungen und der ein oder andere unvorhersehbare Einschnitt – alles wird hier miteinander in Einklang gebracht und ergibt ein nahezu perfektes Leseerlebnis, mit viel mehr als nur einer endgültigen Aussage.

Ganz nebenbei ist es auch ein Aufruf dazu, wie wichtig menschliche Bindungen sind, auch wenn sie manchmal sehr schmerzhaft sein können, auch wenn das Leben der Liebe nur eine gewisse Zeit zugesteht, so kann man doch gerade durch andere und deren Einfluss und Gedankenspiele wachgerüttelt werden und findet sich über kurz oder lang in einer Welt wieder, wo trotz Traurigkeit auch wieder Platz für neue Pläne geschaffen wird.

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Veröffentlicht am 15.02.2021

Glücklich ist, wer vergisst ...

Der zweite Reiter
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„Er dachte an seinen Beruf und daran, wie hart er stets gearbeitet hatte, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Alles vergebens. Alles umsonst. Die Menschen waren es nicht wert, gerettet zu werden.“

Inhalt

Rayonsinspektor ...

„Er dachte an seinen Beruf und daran, wie hart er stets gearbeitet hatte, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Alles vergebens. Alles umsonst. Die Menschen waren es nicht wert, gerettet zu werden.“

Inhalt

Rayonsinspektor August Emmerich ermittelt hier in seinem ersten Fall, der ihn in die dunklen Gassen und Kneipen Wiens nach dem ersten Weltkrieg führt. Mehrere Todesfälle, die zusammenzuhängen scheinen, säumen seinen Weg. Doch seine eigenen Ermittlungen sind nicht erwünscht, denn seine Vorgesetzten glauben nicht an Tötungsdelikte, wollen Emmerichs Arbeit lieber unterbinden und setzen ihn stattdessen auf den stadtbekannten Schmugglerring an, dessen Chef ein alter Bekannter des Inspektors aus Kindertagen ist.

Aber Emmerich gibt keine Ruhe und seine Gegner müssen schwere Geschütze auffahren, um den Ermittler auszuschalten. Plötzlich wird er selbst verhaftet, weil er angeblich der Mörder sein soll und keinen interessieren seine Unschuldsbeteuerungen. August Emmerich gelingt die Flucht aus dem Gefängnis und er taucht nun als Flüchtling selbst ab, stellt aber umso engagierter Nachforschungen an, welcher Zusammenhang zwischen den vielen Toten besteht. Als er auf ein altes Foto stößt, wird die Gemeinsamkeit aller schnell deutlich: sie waren Soldaten in Galizien und sind dort durch brutale Foltermorde bekannt geworden – steht der Rächer nun auf der Seite der Guten und übt Selbstjustiz, oder handelt es sich um den einzigen Mann auf dem Bild, dessen Gesicht unkenntlich gemacht wurde …

Meinung

Bereits mehrfach bin ich auf die Kriminalreihe um den Inspektor Emmerich aufmerksam gemacht worden und habe das Buch nun im Rahmen einer Challenge aus dem Regal geholt, um mir ein eigenes Urteil zu bilden. Und auch mich konnte dieser Krimi, der 2017 mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet wurde, vollends überzeugen.

Normalerweise lese ich lieber Thriller, weil dort die psychologische Komponente des Mörders im Zentrum steht und weniger die mühsame Polizeiarbeit der Ermittler, doch dieser Krimi hat ganz andere Qualitäten.

Zunächst einmal entwirft er ein realistisches Bild der damaligen Umstände und Lebenssituation, er nimmt den Leser direkt mit auf die Straßen Wiens und zeigt förmlich nebenbei die gesellschaftlichen Bedingungen auf. Er sensibilisiert den Leser für die große Armut, die vielen Kriegsverletzten, die Trinker, Bettler und Drogenabhängigen, die ihr Leben nur noch ertragen, indem sie irgendwie den nächsten Tag überleben. Für Frauen, die sich prostituieren, die ihre Kinder kaum durchbekommen und deren Lebenserwartung so niedrig ist, wie ihr Geld für eine warme Mahlzeit. Und er zeigt auch das andere Gesicht der Weltstadt, wo es für all jene, die es mit der Wahrheit nicht so ernst nehmen, die ein oder andere Lücke gibt und die Möglichkeit durch glückliche Zufälle an ungeahnte Reichtümer zu gelangen. Und mittendrin steht August Emmerich, der es meist nicht so genau mit dem Gesetz nimmt, sich aber konsequent auf die Seite der Armen und Geschundenen stellt, die er zwar nicht alle retten kann, aber ihnen wenigstens zu Gerechtigkeit verhelfen möchte.

Alex Beer schafft eine besondere Atmosphäre, fast filmreife Szenen, sympathische Protagonisten und eine temporeiche, von vielen glücklichen Umständen begleitete Erzählung, die ich mit zunehmender Begeisterung gelesen habe.

Die Kapitel sind angenehm kurz und der Stil animiert zum Weiterlesen, weil sich alles recht dramatisch entwickelt und gekonnt auf das Finale zusteuert. Tatsächlich bekommt man hier als Leser wesentlich mehr als eine Kriminalhandlung präsentiert – es ist vielmehr ein Abtauchen in die Erzählung selbst. Wunderbar sympathisch auch die Zeichnung des Hauptprotagonisten und dessen Assistenten Ferdinand Winter – zwei ganz unterschiedliche Menschen, die zunächst mit großer Skepsis dem anderen begegnen, dann aber ein immer besseres, eingespieltes Team werden.

Fazit

Ich freue mich, dass ich nun noch weitere 3 Bände dieser Serie vor mir habe und vergebe begeisterte 5 Lesesterne für den Auftakt der Reihe. Dieser Krimi kombiniert eine geschickte Handlung mit einem historischen Sittengemälde und starken, einprägsamen Figuren, die man schnell ins Herz schließt. Man erlebt immer wieder überraschende Wendungen und findet gerade den Einfallsreichtum von August Emmerich verblüffend und amüsant.

Für mich definitiv ein Lieblingsbuch und das erste Highlight im Kalenderjahr! Ich werde diese Reihe zeitnah weiterverfolgen und mich mit anderen Ermittlungen des Rayonsinspektors, der es nun endlich in seine bevorzugte Abteilung „Leib und Leben“ geschafft hat und sich im folgenden gleich von Anfang an um die Mordermittlungen in der österreichischen Hauptstadt kümmern darf.

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Veröffentlicht am 11.02.2021

Kim Jiyoung, eine Frau wie jede

Kim Jiyoung, geboren 1982
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„Es gibt viele Menschen, die die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Dinge wie Wirtschaftsflaute, hohe Preise, ein schlechter Arbeitsmarkt oder persönliche Lebensnöte Mann und Frau gleichermaßen ...

„Es gibt viele Menschen, die die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Dinge wie Wirtschaftsflaute, hohe Preise, ein schlechter Arbeitsmarkt oder persönliche Lebensnöte Mann und Frau gleichermaßen treffen.“

Inhalt

Für Chong Daehyon ist es erschreckend, dass seine Frau nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes ernstlich an einer Depression erkrankt und in bestimmten Momenten ihre Stimme und den Charakter ändert, um stellvertretend für andere zu sprechen. Er geht mit ihr zu einem Therapeuten, der die Ursachen dieser Veränderung herausfinden soll, doch der ist sich ziemlich sicher, dass es für Kim Jiyoung keine Medikamente gibt, denn was die junge Frau durchlebt, hat er selbst an seiner eigenen Frau wahrgenommen und die Gründe sind kein festgeschriebenes Krankheitsbild, sondern die akute Verzweiflung der Frauen immerzu zwischen allen Stühlen zu sitzen und egal welche Entscheidung sie treffen, es ist niemals die richtige. Sie sind gebildet, sie sind höflich und zuvorkommend, sie sind engagiert in ihrem Beruf und ganz bewusst Mutter geworden, doch die Rolle, die sie für die Gesellschaft spielen gesteht ihnen keinen Platz zu und orientiert sich an übernommenen Denkmustern und fehlender Bereitschaft, Frauen als einen wesentlichen Bestandteil der Welt wahrzunehmen …

Meinung

Die junge koreanische Autorin Cho Nam-Joo hat mit diesem Roman ein Statement abgegeben, dem man mit zunehmender Begeisterung folgen kann, weil ihre Gesellschaftskritik weder anmaßend, noch schockierend, noch unbedeutsam erscheint, sondern sich an schlichten, unabwendbaren Fakten orientiert, die sie mittels Quellentexten direkt in die Geschichte einbaut. Sie selbst hat es so erlebt, ebenso wie tausende andere. Im Nachwort gibt sie in einem schlichten Satz wieder, was es eigentlich mit diesem Stück zeitgenössischer Literatur auf sich hat: „Die ganze Zeit über, in der ich diesen Roman schrieb, hatte ich Mitleid mit ihr und war bedrückt. Doch ich weiß, dass sie genauso aufgewachsen ist und keinen anderen Weg gewusst hat.“ Und der Erfolg des Buches, welches sich weltweit schon über zwei Millionen mal verkaufte und mittlerweile erfolgreich verfilmt wurde gibt ihr jene Stimme, die ihre Protagonistin so gerne hätte, ein Wort welches nicht nur eine leere Phrase ist, sondern wirklich Veränderungen herbeizuführen vermag.

Der Schreibstil des Buches ist eher distanziert, man spürt die Emotionen weniger direkt als vielmehr unterschwellig im Verhalten der Akteure. Dieser Abstand zwischen den tatsächlichen Gefühlen wie Wut, Scham, Verletzlichkeit, Unverständnis und Anpassung wird aber gerade durch diese sachliche Intonation sehr generalistisch und präsent. Denn die Autorin führt sehr langsam und Schritt für Schritt an diese geballten Vorwürfe heran, die sie eigentlich nicht als solche entlarvt und die dennoch genau das sind: Vorwürfe, warum es auch in der Gegenwart nicht möglich ist, als Frau freie Entscheidungen zu treffen. Dabei klagt sie nicht nur eine Person an, sondern de facto das Zusammenspiel aller Faktoren, welches sich möglicherweise durch Erziehung und Konsequenz ergibt.

Sie geht auch zurück in die Generation der Mütter und Großmütter, die sich bei der Geburt eines Mädchens schon schlecht fühlten und später sogar zu Abtreibungen angehalten wurden, damit dem Land um Himmels Willen keine männlichen Nachkommen vorenthalten werden. Sie thematisiert das stigmatisierte Heranwachsen der Mädchen, die schon als kleine Kinder all jene Fähigkeiten beigebracht bekommen, die sie später als gute Frau und Mutter beherrschen müssen. Sie macht ebenso deutlich, dass sich die Bildungschancen zwar für beide Geschlechter gebessert haben, aber Geld und Einfluss eine große Rolle spielen, wer, wann, welchen Posten oder welche Ausbildung bekommt. Spätestens wenn die Frauen sich für eine eigene Familie entscheiden, ist ihr berufliches Fortkommen ad acta gelegt, denn die Männer in der Gesellschaft wollen keine arbeitenden Mütter und staatliche Unterstützung bleibt aus, ganz im Gegenteil, sie ist entweder nicht bezahlbar oder nicht lohnenswert, und wenn die Frau dennoch arbeiten möchte, lassen sich weder die Zeiten noch das geringe Einkommen damit vereinbaren. Warum sollte denn eine Mutter arbeiten gehen, wenn doch der Mann der Versorger ist?

Fazit

Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne für diesen fiktiven Roman, der so viele Wahrheiten auf wenigen Zeilen hervorzuheben vermag. Der Wert einer Frau, ihr Wirken in der Welt, ihr tatsächlicher Einfluss außerhalb der Familie – all das wird auf bedrückende Art und Weise vermittelt.

Die Geschichte selbst umspielt eine gewisse Zeitlosigkeit, eine Einfachheit, die jeder irgendwo kennt und in mehr oder weniger hohem Maße bestätigen kann. Dadurch wird der Text universell und eignet sich für fast jeden Leser, egal ob für die Verfechter der Frauenrechte oder für Männer, die die Sorgen und Nöte der eigenen Frau nicht verstehen, wenn diese plötzlich Mutter geworden ist. Möglicherweise wird so ein Roman in entsprechenden Kulturen, die eher rückschrittlich orientiert sind, noch mehr Aufruhr verursachen, denn in vielen kleinen Nebensätzen ergießt sich das ganze Ausmaß der Kritik, die hier schön sachlich und wohldosiert verpackt wird.

Schade nur, dass ich den direkten Bezug zu den Personen vermisst habe– dadurch das es eine so universelle Geschichte ist, fehlt ihr eine für mich nennenswerte Individualität. Deshalb ziehe ich ein halbes Sternchen ab, verbunden mit der Bitte, dass sich möglichst viele Leser an die Lektüre wagen und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.

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Veröffentlicht am 10.02.2021

Mehr als ein verschlissenes Herz

Schwarz und Silber
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Der Trost, sie so stark zu wissen, vermischt sich mit der Angst, nicht wirklich unentbehrlich für sie zu sein und unter den zahllosen Arten, mit denen ich an ihr hänge, an ihr zu hängen wie ein Blutsauger, ...

Der Trost, sie so stark zu wissen, vermischt sich mit der Angst, nicht wirklich unentbehrlich für sie zu sein und unter den zahllosen Arten, mit denen ich an ihr hänge, an ihr zu hängen wie ein Blutsauger, der anderen das Leben aussaugt, eine Art riesiger Parasit.“

Inhalt

Anna ist das Kindermädchen von Emanuele, dem Sohn von Nora und dem Ich-Erzähler und hat in der Kleinstfamilie einen unentbehrlichen Stellenwert eingenommen, eine noch viel bedeutsamere Rolle als die Großeltern oder andere Bezugspersonen.

Doch nun ist sie krank, so krank, dass ihre Lebenszeit bemessen ist und der Krebs wird sie zunächst nur schwächen aber bald schon einen hohen Tribut einfordern und dann kann sie weder für das Ehepaar da sein,noch für den Schulanfänger, den sie liebevoll seit seiner Geburt betreut. Deshalb zieht sie sich zurück, schraubt den Kontakt auf ein Minimum herunter und konzentriert sich auf den Kampf gegen die tödliche Krankheit.

Für das Paar brechen ungeahnte Zeiten an, denn Signora A., die sie als ihre engste Vertraute ansehen, hat das Gleichgewicht in der Paarbeziehung anscheinend erst hergestellt und nun müssen sich Mann und Frau erneut finden, wenn sie nicht so einsam bleiben möchten, wie sie es tatsächlich schon sind.

Meinung

Der in Turin geborene Autor, der mich mit seinem Buch „Die Einsamkeit der Primzahlen“ vor einigen Jahren schon überzeugen konnte, widmet sich in diesem Roman nicht nur dem langsamen Zerbrechen einer zunächst stabilen Paarbeziehung, sondern in erster Linie den Bruchstellen, die andere hinterlassen, wenn sie gehen müssen. Gerade die Beschreibung des Klappentextes, hat mich sehr in ihren Bann gezogen, denn ich habe ein Faible für tiefgründige Themen, die sehr gerne auch den Tod oder das Verlassenwerden betreffen dürfen. Und zu gern hätte ich Antworten auf die versprochenen Fragen (Was hält Menschen zusammen, was trennt sie? Was passiert, wenn plötzlich jemand fehlt, der immer da war?) bekommen, was leider nur unzureichend durch die Lektüre geleistet wird.

Der Ich-Erzähler tritt hier in einer dermaßen einseitigen Erzählperspektive auf, das seine Gedanken den ganzen Roman dominieren. Und vielleicht weil er wie der Autor selbst Physiker ist und seine Stärken mehr auf Logik und klaren Strukturen basieren, bleibt mir alles Gesagte seltsam fremd und erscheint trotz Bedeutsamkeit eher nüchtern und objektiv. Beim Lesen habe ich die tiefere Bedeutung immer nur erahnt, sie dringt viel zu schwer an die Oberfläche und nimmt mich als Leser nicht gefangen. Selbst die Protagonisten untereinander wahren eine gewisse Distanz und sind sich zwar nah, aber weniger auf einer emotionalen Ebene als in ihren ganz alltäglichen Handlungen. Egal ob es sich dabei um Nora seine Frau, Emanuel seinen Sohn oder Anna, ihr Kindermädchen handelt, ich komme einfach nicht an deren Gedankenwelt heran und sie bleiben mir bis zuletzt sehr fremd.

Der Schreibstil selbst ist lobenswert, er transportiert passend zur Thematik eine große Portion Melancholie und schafft schöne Bilder. Auch der Wechsel zwischen den Zeitstrukturen des Romans konnte mich überzeugen, denn manches wird rückblickend anderes vorausschauend betrachtet, so dass ein stimmiges Gesamtbild entsteht.

Umso ärgerlicher bin ich über die inhaltliche Zerrissenheit des Textes, die ausgehend von verschiedenen Berührungspunkten immer wieder Gedankensplitter aufnimmt, über die ich nachdenken möchte, sie aber ebenso schnell wieder fallenlässt. Damit zerfasert sich der Text immer mehr und es bleibt nur wenig Lobenswertes zurück. Sehr gern hätte ich über die ein oder andere Frage länger nachgedacht als es der Autor für notwendig hält, denn er erstickt seine guten Gedankengänge und bringt sie viel zu abrupt zu Ende, in dem er absolute Antworten auf Fragen liefert, die nicht so ohne Weiteres zu beantworten sind.

Darüber hinaus kritisiere ich so manche abstruse Äußerung wie zum Beispiel seine Aussage über die Familie (S. 57): „Eine Familie in ihren Anfängen ist manchmal auch das: ein vor Egozentrik zusammengezogener galaktischer Nebelfleck, in Gefahr zu implodieren.“ Sorry, aber so etwas lässt mich nur noch den Kopf schütteln und macht vielleicht auch deutlich, warum ebenjener Protagonist ein so unausgesprochenes Eheproblem mit sich herumträgt.

Fazit

Das werden leider nur 2,5 Lesesterne (aufgerundet 3) für diesen durchaus interessanten Roman, der sich mit inneren Konflikten und Sichtweisen beschäftigt, die ich generell gut nachvollziehen kann, hier aber nur mäßig umgesetzt sehe. Positiv beurteile ich hingegen die literarische Wertschätzung eines Menschen. Egal wie nah oder fremd uns eine Person stehen mag, menschliche Verbindungen leben von einem Gleichgewicht zwischen dem Nehmen und Geben, in diesem Text verschiebt sich der Adressat und wechselt die Seiten und dennoch erhält jeder Faktor eine Bedeutsamkeit, die auch nach dem Ende der Beziehung sichtbar bleibt.

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Veröffentlicht am 10.02.2021

Tödliches Wiedersehen in der Einöde

INSEL
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„Die traumatischen Ereignisse von vor zehn Jahren hatten sie härter getroffen als irgendjemanden sonst. Auch Dagur war damals in die Knie gegangen, hatte sich dann aber wieder aufgerappelt.“

Inhalt

Hulda ...

„Die traumatischen Ereignisse von vor zehn Jahren hatten sie härter getroffen als irgendjemanden sonst. Auch Dagur war damals in die Knie gegangen, hatte sich dann aber wieder aufgerappelt.“

Inhalt

Hulda Hermannsdóttir steht mitten im Berufsleben, sie ist als eine hartnäckige weibliche Ermittlerin bei der isländischen Polizei bekannt, die zwar nach wie vor auf den beruflichen Durchbruch hofft, dafür aber umso sorgsamer in ihren Ermittlungen arbeitet. Als auf ihrem Schreibtisch ein neuer Fall landet, bei dem es sich auf den ersten Blick um einen tragischen Unfall handelt, nimmt sie sich der Sache voll und ganz an. Die Obduktion ergibt wenig später, dass der tödlich verunglückten jungen Frau kurz vor ihrem Sturz von der Klippe Würgemale am Hals zugefügt wurden, demnach erhärtet sich der Verdacht, dass es sich weder um einen Absturz, noch um Selbstmord handeln kann, sondern um einen Mord. Auf der einsamen Insel Elliðaey haben sich vier Freunde getroffen, die schon seit Schulzeiten eine Clique waren. Doch bald muss Hulda feststellen, dass sich zwischen den beiden Männern und den beiden Frauen längst nicht nur freundschaftliche Gefühle äußern, sondern auch diverse Spannungen bestehen. Es ist nämlich genau 10 Jahre her, als eine weitere gemeinsame Freundin ums Leben kam und das Treffen in der Gegenwart bringt alte Gefühle wieder ans Tageslicht. Hulda rollt nicht nur den aktuellen Fall auf, sondern nimmt sich der deutlichen Parallelen zu dem alten Verbrechen an und muss mit Schrecken feststellen, dass damals höchstwahrscheinlich der falsche Täter verhaftet wurde …

Meinung

Dies ist der zweite Band der Trilogie um die Ermittlerin Hulda Hermannsdóttir, die anders als gewöhnlich von ihrem Ende zu ihrem Anfang erzählt wird. Bereits der erste Band hat mir gut gefallen, obwohl ich mir dort noch mehr Spannungsmomente und etwas weniger Privatleben gewünscht hätte. Das findet man nun in diesem zweiten Teil, der gerade zu Beginn ein höheres Erzähltempo vorlegt und dafür weitere kleine Details aus dem Leben der Ermittlerin aufgreift, jedoch eher in einem Nebenstrang, der deutlich macht, wie einsam Hulda nach dem Tod der Mutter, des Mannes und der Tochter ist. Diesmal macht sie sich auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater, der ein auf Island stationierter amerikanischer Soldat war und bisher gar nichts von der Existenz einer Tochter wusste.

Der Schreibstil des Autors ist angenehm ruhig und führt mehr durch Beobachtungen und Kombination der einzelnen Sachverhalte durch den Kriminalfall. Gerade die zahlreichen Landschaftsbeschreibungen und die Wirkung der Natur bilden hier einen stimmigen Hintergrund, der dazu animiert, sich ein genaueres Bild von den Örtlichkeiten machen zu wollen. Erschreckend fand ich auch die unterschwellige Korruption innerhalb des Polizeiapparates, die hier ganz deutlich herausgearbeitet wird, nicht nur weil Hulda damit in der Rangliste der führenden Kommissare weiter nach hinten rückt, sondern weil gerade alte Fälle so schlampig, fast mutwillig manipuliert werden, nur um an den entsprechenden Stellen Erfolge einzustreichen. Eine implizierte Falschaussage führt letztlich nicht nur zur Zerstörung einer Familie und dem Selbstmord eines Mannes, sie ist auch Grund dafür, dass sich nach Jahrzehnten andere schuldig fühlen und sich erneut in der Zwangslage sehen zu handeln.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diese gelungene Fortsetzung des Thrillers, der nach wie vor eher ein stiller Begleiter als ein absoluter Pageturner ist, was der Geschichte aber keineswegs schadet. Tatsächlich würde meine Bewertung noch höher ausfallen, wenn Ragnar Jónasson zusätzlich zu der Kerngeschichte einige Cliffhänger eingebaut hätte und insgesamt ein höheres Tempo vorlegen würde. Manchmal fehlt mir einfach die Perspektive des Täters und seine Beweggründe, die sich zwar immer aufklären, jedoch nie aus der Innensicht, sondern vorwiegend durch die Ermittlungsarbeit von Hulda.

Wer Gefallen an atmosphärischen, dichten Erzählungen findet und neben einer reinen Kriminalhandlung auch noch persönliche Empathie zu den Protagonisten wünscht, ist mit dieser Reihe bestens beraten – ich freue mich schon auf den dritten Teil, den ich zeitnah lesen werde und spreche gerne eine Leseempfehlung aus.

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