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Veröffentlicht am 19.01.2021

In der Dunkelheit gibt es keine Schatten

DUNKEL
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„Polizei und Justiz waren nun mal nicht die Einzigen, die über richtig und falsch entschieden. Manchmal musste man den größeren Zusammenhang betrachten. Sie machte sich keine Illusionen, wie gefährlich ...

„Polizei und Justiz waren nun mal nicht die Einzigen, die über richtig und falsch entschieden. Manchmal musste man den größeren Zusammenhang betrachten. Sie machte sich keine Illusionen, wie gefährlich solche Gedanken für jemanden in ihrer Position waren. Sie hatte schließlich vor Jahren geschworen, Recht und Gesetz zu vertreten.“

Inhalt

Für die Kommissarin Hulda Hermannsdóttir sind die Tage im aktiven Polizeidienst bei der Polizei in Reykjavik gezählt. In spätestens zwei Wochen muss ihr Büro geräumt sein, weil dann ein jüngerer Kollege ihren Arbeitsplatz belegen wird. Das Einzige, was die eigentlich unwillige Pensionärin mit ihrem Vorgesetzten aushandeln kann, ist die Möglichkeit ihre letzten Arbeitstage für einen Cold Case zu nutzen, bei dem vor etlichen Jahren eine Asylbewerberin ums Leben kam.

Die junge Russin Elena hätte nämlich keinen Grund gehabt, sich selbst umzubringen, so wie es in den Akten vermerkt ist, denn einen Tag vor ihrem Tod wurde ihr Asylantrag angenommen und damit wäre ihre Zukunft abgesichert gewesen. Hulda bleiben nur wenige Tage, um Licht in diesen Fall zu bringen, doch sehr schnell stößt sie auf zahlreiche Ungereimtheiten, die ihren Verdacht erhärten: Elena war das Opfer eines Gewaltverbrechens und ihr Mörder ist nach wie vor auf freiem Fuß. Ihre fast privaten Ermittlungen bringen sie nur minimal vorwärts, aber sie ist nicht gewillt aufzugeben, auch wenn sie sich dadurch anders als in den vergangenen Jahren, einem weit größeren Risiko aussetzt.

Meinung

Der isländische Autor Ragnar Jónasson beginnt seine Trilogie um die einsame Kommissarin Hulda Hermannsdóttir ganz ungewöhnlich, indem er ihren letzten Auftritt auf der Berufsbühne an den Beginn seiner Reihe stellt, um sich dann in den nun folgenden Teilen der Vergangenheit zu widmen. Im Rahmen einer Challenge habe ich mich diesem Reihenstart gewidmet, den ich jetzt natürlich weiterverfolgen werde, nicht nur auf Grund der ungewöhnlichen Ausgangssituation, sondern auch weil der Thriller sich flott lesen lässt, gut unterhält und großen Wert auf eine realistische Zeichnung der Figuren legt.

Zugegeben, der eigentliche Fall nimmt im Verhältnis zu der Schilderung der Personen einen eher kleinen Teil ein, was durchaus Sinn ergibt, da hier ja rückwärts erzählt wird und damit die Erwartungshaltung an die Folgebände geschürt wird. In Rückblenden erlebt der Leser einige Auszüge aus dem Leben der Kommissarin, die bereits als kleines Mädchen für einige Jahre in einem Kinderheim lebte, deren 13-jährige Tochter Selbstmord beging, deren Mann jung an einem Herzinfarkt verstarb und die sich nun kurz vor der Pensionierung nochmals auf eine Beziehung mit einem etwas älteren, verwitweten Arzt einlässt. Dadurch gewinnt die Zeichnung der Protagonisten an Tiefe, die ausführlichen Beschreibungen derer nehmen aber insgesamt viel Raum in diesem Buch ein, weshalb der potenzielle Mordfall um die Russin etwas ins Hintertreffen gerät.

Der Aufbau des Thrillers lässt wenig zu wünschen übrig, denn die Kapitel sind angenehm kurz, mittels unterschiedlicher Schriftarten gut voneinander zu unterscheiden und enden stets so, dass man ganz schnell weiterlesen möchte, um das nächste Puzzleteilchen aufzudecken. Der Schreibstil passt auch hervorragend zur Kulisse – etwas unterkühlt, auf Distanz bedacht und eher hinterfragend als dominant. Und obwohl mir die Thriller-Elemente etwas zu kurz kamen, insbesondere die psychologischen Beweggründe des Täters, konnte das Buch in seiner Gesamtheit überzeugen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen etwas anderen Island-Thriller, der viel Wert auf eine stimmige Charakterisierung der Protagonistin und eine persönliche Hintergrundgeschichte legt. Zwar handelt es sich nicht um einen nervenaufreibenden Thriller mit Höchstspannung, allerdings macht der passende Erzählton dieses kleine Manko wieder wett. Es handelt sich um gute, klassische Unterhaltungsliteratur, die ich mir auch in einer Verfilmung vorstellen könnte. Hier lebt die Geschichte von den Schatten der Vergangenheit, die sich erst langsam herauskristallisieren und sehr deutlich zeigen, wie viel Menschen tatsächlich offenbaren und wie viel sie vor anderen verbergen, weil auch ihre Entscheidungen niemals nur schwarz oder weiß sind.

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Veröffentlicht am 16.01.2021

Mit der Erinnerung gewinnt unser Leben ein Gesicht

Der Apfelbaum
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„War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam.“

Inhalt

Otto und Sala, zwei junge ...

„War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam.“

Inhalt

Otto und Sala, zwei junge Menschen lernen sich 1932 in Berlin kennen, er ist einer der Einbrecher, der von ihr überrascht wird, wie er sich nicht nach Wertgegenständen im gutbetuchten Hause Nohl umsieht, sondern seine Nase lieber in ein Buch steckt und sie ist die Frau, die ihn nicht an die Polizei verpfeift. Anfangs ist ihnen das Glück noch hold, denn obwohl Otto aus der Arbeiterklasse stammt und Sala aus einem intellektuellen Elternhaus kommt, steht für beide fest, dass sie füreinander bestimmt sind, egal, wie groß die Kluft zwischen ihren sozialen Hintergründen auch sein mag. Doch dann kommt der Krieg dazwischen und Sala muss Deutschland verlassen, denn als Tochter einer jüdischen Mutter, wird es für sie immer gefährlicher. Und Otto bleibt in Deutschland, wird Sanitätsarzt der Wehrmacht und gerät erst gegen Ende des Krieges in russische Gefangenschaft. Zwischen diesen Punkten bewegt sich ihre Liebesgeschichte, überschattet von den historischen Ereignissen, zerrissen von räumlicher Distanz und überfrachtet von unerfüllten Hoffnungen. Jeder beschreitet seinen Weg und trotz anderer Partner bleibt diese alles überdauernde Verbindung zwischen ihnen bestehen. Nach Kriegsende kehrt Sala zurück nach Deutschland, mittlerweile ist sie Mutter einer Tochter doch im Herzen hat sie nie aufgehört, an den Tag zu glauben, an dem sie mit Otto glücklich werden kann …

Meinung

Dies ist in weiten Teilen der persönliche Familienroman des als Schauspieler bekannt gewordenen Christian Berkels, der hier seinen Wurzeln nachspürt. Obwohl die handelnden Personen Vorbilder in der Realität haben, so sind es Kunstfiguren, deren Interaktion miteinander zu fiktiven Ereignissen und Situationen führt, wie der Autor selbst im Vorwort festhält. Und das merkt man der Erzählung auch an, denn sie wahrt immer einen gewissen Abstand zwischen einer deutlich emotionalen Beteiligung und einer objektiven Sicht der Dinge. Sie schwankt zwischen großer Nähe und sachlicher Abgrenzung, so dass alles auch reine Fiktion sein könnte und keinerlei biografische Bezüge aufweisen müsste. Dieser Umstand ist für mich ein ganz großes Plus der Geschichte, denn der Autor konzentriert sich mehr auf die Schilderung zweier Liebender, ihr jeweiliges Leben in Anbetracht der politischen Hintergründe und die Zuneigung zueinander, die sie immer wieder zusammenkommen lässt, selbst wenn es der Beziehung an Beständigkeit und Absolution fehlt. Und ganz nebenbei entwirft er damit ein Gesellschaftsporträt mit zahlreichen Nebenprotagonisten, Wegbereitern, Freunden, Zufallsbekanntschaften und mehr oder weniger glücklichen Zufällen.

Bereits vergangenes Jahr habe ich „Ada“, den Folgeroman gelesen, in dem sich die hier begonnene Geschichte aus einer anderen Perspektive fortsetzt. Umgekehrt wäre das Leseerlebnis sicherlich noch beeindruckender, weil man dann die ein oder andere Wende besser versteht und die Figuren gewissenmaßen schon eine Vergangenheit haben, doch auch so funktioniert das Modell des Romans und lässt mich als zufriedenen Leser zurück.

Der Schreibstil des Autors entspricht absolut meiner Wellenlänge, nicht nur weil er schöne literarische Formulierungen verwendet und zahlreiche Parallelen zieht, sondern vor allem, weil er es schafft, tatsächlich mehr Geschichte zu vermitteln als persönliche Nähe entstehen zu lassen. Gerade für mich, als sehr emotionalen Leser, der sich lieber mit den Protagonisten identifiziert, ist das faszinierend, wie man so viel sagen und ausdrücken kann, ohne tatsächlich Sympathien zu wecken. Trotz persönlicher Einfärbung wirkt alles sehr neutral und gerade dadurch aussagekräftig und wahrhaftig. Ein zweiter Punkt, den ich normalerweise auch nur bedingt mag, ist das Wechseln der Erzählperspektive, das Springen der Handlung zwischen den Zeiten, mal in die Vergangenheit, dann wieder in die Gegenwart. Sehr oft wirken die Geschichten dadurch unruhig und unausgeglichen. Ganz anders hier – ich hatte niemals das Gefühl, dass es nicht passt, dass es zu bunt und wild durcheinander gewürfelt wurde. Einfach perfekt, genau im richtigen Maße und das schon von Anfang an.

Hinzu kommen viele Sätze, die ich gerne zweimal gelesen habe, weil sie so viel Aussagen über die Menschen, die Bedeutung der Familie, den Wert menschlicher Beziehungen bieten – ein weiterer Pluspunkt auf meiner imaginären Anspruchsliste an gute Belletristik (ein Beispiel aus dem Buch: „Erdrückender als das Schicksal, das man mit vielen teilte, war das Schicksal, das einen ganz allein betraf, der Moment, in dem sie für immer zu erkennen glaubte, wer sie war: ein Mensch, eine Tochter, die es nicht wert war, von ihrer Mutter geliebt zu werden.“)

Fazit

Für diesen objektiven und gleichzeitig biografisch inspirierten Familienroman, der mehrere Jahrzehnte, viele Generationen und einige Kontinente umspannt, vergebe ich gerne 5 Lesesterne. Es ist eine eher stille Erzählung, deren Tragik zwar klar auf der Hand liegt aber niemals auf dem Präsentierteller dargereicht wird. Es bleibt viel Raum zum Nachdenken, zum Nachspüren und Erwägen der verschiedenen Optionen. Manchmal bleibt nur das Fügen in das Schicksal, manchmal hilft das Aufbegehren, manchmal die Flucht nach vorn und dann wieder der Rückzug aus dem Schlachtgetümmel. Außerdem finde ich es sehr lobenswert, wenn sich Menschen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, wenn sie ihren vielleicht schon verstorbenen Familienmitgliedern ein Denkmal setzen und sich durch die vielen verstreichenden Jahre zwischen damals und heute kämpfen, um sich selbst im Kreislauf des Lebens zu sehen – die Großeltern, die Eltern, die Kinder, die Enkel, die Urenkel – jede Generation hat ihre Berechtigung, ihren Wert und eine weitreichende Bedeutung, wenn das eigene Leben ein Gesicht bekommen soll.

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Veröffentlicht am 12.01.2021

Du hättest überleben können

Und du bist nicht zurückgekommen
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„Du sollst wissen, dass unsere Familie es nicht überlebt hat. Sie ist zerbrochen. Du hattest Träume, die für uns alle zu groß waren, wir sind ihnen nicht gewachsen gewesen.“

Inhalt

Marceline und ihr ...

„Du sollst wissen, dass unsere Familie es nicht überlebt hat. Sie ist zerbrochen. Du hattest Träume, die für uns alle zu groß waren, wir sind ihnen nicht gewachsen gewesen.“

Inhalt

Marceline und ihr Vater erleben die Schrecken des Holocaust aus nächster Nähe, sie wird in das Vernichtungslager Birkenau deportiert, ihr Vater kommt nach Auschwitz, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, fristen sie, behandelt wie Tiere auf dem Weg zum Schlachthof, ihr Dasein. Jeden Tag sterben tausende Menschen in den Gaskammern, durch Heldenmut oder einfach in Reihen aufgestellt vor ihren selbstausgehobenen Gräbern und einen fast gnädig anmutenden Rückenschuss. Alle die heute nicht sterben, könnten morgen tot sein oder übermorgen – das Überleben scheint zunächst das einzige Ziel aber die Wahrscheinlichkeit auf ein gutes Ende sinkt mit jedem Tag in Gefangenschaft.

Marceline schafft es dennoch, sie kehrt irgendwann zurück nach Hause zu ihrer Mutter und den Geschwistern, dies hat ihr Vater ihr damals kurz vor der Trennung prophezeit, weil sie jung ist, wird sie es schaffen. Doch ihr Lebensweg und der der anderen Hinterbliebenen wird nie mehr so sein, wie erhofft, denn Marceline glaubt, es wäre besser gewesen, ihr Vater wäre an ihrer statt nach Hause gekommen. Im hohen Alter von 86 Jahren schreibt sie ihm diesen Brief, einen Abriss über ihre Gedankenwelt und markante Lebenspunkte, die er nie mit ihr teilen konnte und die sie dennoch erzählen möchte, damit er weiß, wie sehr sie ihn all die Jahre vermisst hat.

Meinung

Die Thematik der Judenverfolgung ist für mich immer eine ganz Besondere, nicht nur weil solche Erzählungen auch Jahrzehnte nach ihrem Geschehen tief beeindrucken können, sondern auch, weil diese Schrecken nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Immer wieder zieht es mich auf dieses literarische Feld, egal ob es sich dabei um einen autobiografischen Text oder eine fiktive, realitätsorientierte Geschichte handelt.

Gerade wenn eine Überlebende erzählt, beschleicht mich beim Lesen des Textes normalerweise eine große Betroffenheit. In diesem Brieftext ist das meines Erachtens nicht so gut gelungen, weil Marceline gerade die Zeit im Konzentrationslager weitestgehend ausblendet und sich stattdessen mit der eigenen Schuld auseinandersetzt. Sie versucht sich zu erklären, ihren Lebensweg irgendwie zu rechtfertigen und das Auseinanderbrechen der Familie zu schildern, die nichts nötiger gebraucht hätte, als eine starke Vaterfigur und nicht eine hilflose Jugendliche, die zwar überlebt hat, aber nie mehr so sein konnte, wie vor ihrer Internierung.

Der Schreibstil des Buches ist sehr gut, die einzelnen Sätze sind kurz, prägnant und von immenser Kraft, aber alles bleibt fragmentarisch, weil sich hier Vergangenheit und Gegenwart auf so engem Raum begegnen, dass der Leser immer nur kurz das persönliche Leid aufblitzen sieht. Diese Erzählung hätte gerne den doppelten oder dreifachen Umfang haben können und gerade die Zeit in Birkenau und die Verwandlung eines Mädchens angesichts der traumatischen Erlebnisse hätte einen größeren Stellenwert bekommen können.

Doch Marceline erzählt lieber Episoden aus ihrem Erwachsenenalter, als sie einen 30 Jahre älteren Mann geheiratet hat, der vielleicht mit ihrem Vater harmoniert hätte und der genau diese Funktion in ihrer Beziehung einnahm – ein verlässlicher, älterer Partner, der den verlorenen Menschen ein wenig ersetzen sollte. Emotional ist mir dieser Text leider nicht nahegekommen, ein sehr seltenes Ereignis bei dieser Art der Lektüre, die mich im Normalfall sehr mitnimmt und tief bewegt. Allerdings entscheidet jeder selbst, gerade bei einer Biografie, was er zum Ausdruck bringen möchte, deshalb möchte ich über den Inhalt und die für mich fehlenden Puzzleteile auch nicht urteilen, denn rein literarisch ist es ein gutes, lesenswertes Zeitdokument.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diese kurze Liebeserklärung an den Vater, der eine so große Lücke im Leben seiner Tochter und der Familie hinterlassen hat, dass dieser Umstand in Anbetracht der menschenverachtenden Verhältnisse in den Lagern so schwer wiegt, wie nichts anderes. Marceline schreibt erstaunlich neutral und immer in Erinnerungen schwelgend, so dass die Realität zu einer Hintergrundmelodie verklingt, während das Vermissen des geliebten Menschen ganz im Zentrum des Textes steht. Und der Rückblick auf das eigene Leben steht genau unter diesem Stern – Marceline hat gelebt, weil ihr Vater es so wollte, nicht weil sie es tatsächlich konnte.

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Veröffentlicht am 12.01.2021

Zwischen Vergessen, Erinnern und Verzeihen

Idaho
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„Wenn man jemanden liebt, der gestorben ist, und sein Tod nicht geschehen ist, weil man sich nicht mehr daran erinnert, bleibt nur noch der Schmerz von etwas Unerwidertem übrig.“

Inhalt

Ann ist die zweite ...

„Wenn man jemanden liebt, der gestorben ist, und sein Tod nicht geschehen ist, weil man sich nicht mehr daran erinnert, bleibt nur noch der Schmerz von etwas Unerwidertem übrig.“

Inhalt

Ann ist die zweite Frau von Wade Mitchell, dessen erste Beziehung durch eine Tragödie zerbrach, die seine erste Frau Jenny verursacht hat. Eines warmen Tages im August 1995 ist das Ehepaar Mitchell mit den beiden Töchtern im Wald, um Holz zu schlagen, doch der Nachmittag ändert das Leben aller Familienmitglieder, denn Jenny erschlägt ihre jüngste Tochter mit dem Beil und die ältere verschwindet spurlos im Wald und bleibt unauffindbar. Wade steht fortan allein da, während Jenny ihre lebenslange Haftstrafe im Gefängnis antritt. Irgendwann lernt er die junge Lehrerin Ann kennen, bei der er Klavierunterricht nimmt und sie vermag es als einzige, sein gebrochenes Herz zu erweichen, auch wenn er die Ereignisse jenes Sommers nicht rekapitulieren möchte. Und so versucht Ann selbst Antworten auf ihre Fragen zu finden, insbesondere weil Wade mit Anfang 50 an schwerer Demenz erkrankt und bald nicht mehr weiß, dass er überhaupt Vater zweier Töchter war …

Meinung

Der Debütroman der aus Idaho stammenden Autorin steht bereits seit seinem Erscheinen 2018 in meinem Bücherregal und nun habe ich es endlich geschafft, mir die bewegende Geschichte der Familie Mitchell im Rahmen einer Challenge zu erlesen.

Zunächst scheint es so, als würde Emily Ruskovich ganz tief in die Kiste der Tragödien greifen, denn hier sind es gleich mehrere, so dass man sich fragt, ob eine einzelne Familie wirklich so viel Unglück und Leid anziehen kann und das nicht nur als temporäre Erscheinung, sondern für den Rest ihres Lebens. Seltsamerweise passt es dennoch, denn eigentlich bleibt hier Vieles ungesagt und irgendwie im Dunkeln. Man erfährt nicht, warum die Mutter zur Mörderin wurde, man muss die Erkrankung des Mannes hinnehmen, weil es erbliche Veranlagung ist und die Töchter existieren nur in der Gedankenwelt der zweiten Frau.

Trotzdem stören die zahlreichen Baustellen nicht, denn die Hauptprotagonistin des Buches macht deutlich, wie das menschliche Vergessen, mit den bitteren Erinnerungen, der unbegreiflichen Schuld und dem gnadenvollen Verzeihen funktioniert. Sie hinterfragt, stellt aber keine Bedingungen, sie akzeptiert ihr Schicksal und das ihres Mannes, sie bricht aber niemals die Brücken ab, sie sucht weiter nach der verschwundenen Tochter und kümmert sich um die Wiedereingliederung der straffälligen Ehefrau, als diese hochbetagt aus dem Gefängnis entlassen wird. Eigentlich ist Ann hier der Engel mit den zarten Flügeln, unschuldig aber voller Ängste, entschlossen aber machtlos gegen die Realität, tief verwurzelt und doch bereit zum Aufbruch. Der Leser wird hier in erster Linie mit ihren Sichtweisen vertraut gemacht und kann nur erahnen, wie sich die anderen Rädchen gedreht haben.

Die Lektüre ist so voller Tragik und Emotionalität, dass sie mir gerade zu Beginn fast vollkommen erschien, absolut auf meiner Wellenlänge und fesselnd bis ins kleinste Detail. Nach dem ersten Drittel war ich mir fast sicher ein absolutes Highlight gefunden zu haben, aber dann kippt diese Perfektion, weil deutlich wird, dass die Hintergründe hier nicht aufgedeckt werden und weil sich der gesamte Verlauf fast auf ein ganzes Menschenleben konzentriert, denn ausgehend vom Jahre 1995, erlebt der Leser auch noch das Jahr 2024 mit den verbliebenen handelnden Personen. Das größte Manko ist aber das sprunghafte Wechseln zwischen den Jahren, den Orten und Menschen – ein wildes, undurchschaubares Durcheinander, was zunehmend den Charakter der Erzählung bestimmt, die sich dadurch verzettelt und viel von ihrer Aussagekraft einbüßt.

Fazit

Dieses Buch schafft es nach anfänglicher Begeisterung nicht, meine Erwartungen zu erfüllen, deshalb werden es nur 4 Sterne für diese Familientragödie, die ich voller Interesse verfolgt habe.

Es gibt so vieles, was ich mir gewünscht hätte: eine klare Erzählstruktur, mehr Kontinuität, eine deutlich formulierte Aussage, mehr Wissen über die tatsächliche Welt der beiden Kinder, ein grundlegendes Verständnis für die mordende Mutter. Und es gibt gleichermaßen sehr viel, was die Geschichte hinterlässt: ein Gefühl für jedwede Veränderung auf diversen Lebenswegen, den Glauben an das Gute im Menschen, die Möglichkeit wie man mit Schuld umgehen kann und warum man trotz herber Rückschläge selbst im Dunkelsten noch Hoffnung schöpfen kann.

Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen, er ist angenehm anders und rüttelt auf, selbst wenn mir nicht jeder Fingerzeig der Autorin gefällt, hat mich ihr vielschichtiges, vernichtendes, unerschrockenes Weltbild überzeugt. Man sollte am besten ohne konkrete Erwartungshaltung in die Lektüre starten, sie spricht für sich selbst.

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Veröffentlicht am 21.12.2020

Der nicht kontrollierbare Erinnerungshund

Und ich war da
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„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist ...

„Wenn es nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, hätte ich längst tot sein müssen, aber manche Rechnungen sind zwar richtig durchgeführt, also in einem mathematischen Sinne korrekt, das Ergebnis ist dennoch bedeutungslos.“

Inhalt

Der junge August Unterseher, ist ein einfacher Mensch, der sich in seiner Zeit sehr unwohl fühlt, nicht nur weil Gleichaltrige immer politisch aktiver werden und sich direkt positionieren, sondern auch weil sein Elternhaus mit einem zu Gewaltausbrüchen neigendem Vater, der gerne Prügel verteilt und einem Bruder, der bei der Hitlerjugend Karriere macht, ihm keinerlei Rückhalt schenkt. August will zunächst nur seinen Frieden, merkt aber verstärkt, dass ihm das nicht gelingen wird, weil er für nichts und niemanden Partei ergreift.

Seine Unentschlossenheit bringt ihm in erster Linie Häme oder Unglück – während ihn die einen verachten, weil er nicht voller Begeisterung für den Führer und dessen Maxime ist, bemitleiden ihn die anderen, weil er es nicht fertig bringt, sich gegen dieses menschenverachtende System zu stellen und aktiv an der Gegenbewegung teilzunehmen. August verrät seine Freunde, die er immer in letzter Minute sitzenlässt, bevor die Falle zuschnappt und er zieht notgedrungen in einen Krieg, dessen Unheil ihm bewusst ist, der ihn aber irgendwie durch die kommenden Jahre trägt. Das einzige, was August rückblickend feststellen kann, ist die Tatsache, dass er zwar da gewesen ist, sich aber niemals anwesend fühlte. Irgendwie hat er gehofft, dass seine zahlreichen Begegnungen mit dem Tod, ihn eines Tages selbst überwältigen würden, dass er nun der nächste sein würde, der jung stirbt, doch als dies nicht geschieht, erkennt er, dass seine Rechnung mit Abwarten und Aussitzen nicht aufgehen wird …

Meinung

Dies ist die einfache, gut nachvollziehbare und in ihrer Sanftmut und Ehrlichkeit bedrückende Geschichte über einen klassischen Mitläufer, der weder Entscheidungen für oder gegen etwas treffen konnte und stets mit körperlicher Anwesenheit glänzte, aber niemals mit seinen Taten. Und er erzählt seine Geschichte selbst, die dadurch sehr persönlich wirkt, auch wenn sie in einer distanziert-sachlichen Sprache verfasst wurde. Der Autor Martin Beyer, Jahrgang 1976 entwirft hier das Porträt eines einfachen Menschen, der durchaus in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dem es aber an Rückgrat und Mut fehlt.

All seine Handlungen entbehren jeglicher Motivation. Er tötet andere ohne Mitleid, es ist sein Auftrag zu schießen, also führt er ihn aus. Er hilft seinen Freunden aus der Patsche, verliert sie aber auch schnell aus den Augen und bedauert ihr unglückliches Schicksal ohne innere Beteiligung. Sogar als er selbst angeschossen wird, schließt er schnell seinen Frieden mit der Situation, ist sich sicher, dass alles was passiert, seine Richtigkeit hat und das es nicht lohnt, sich für das Leben oder den Tod zu entscheiden.

Sprachlich wirkt der Text durchgängig neutral, Emotionen haben vordergründig wenig Platz in diesem fiktiven Roman, der dennoch literarisch ansprechend umgesetzt wurde. Als Leser kann man sich kaum mit den handelnden Figuren identifizieren, sie scheinen aus einer weit zurückliegenden Zeit zu stammen. Diese mangelnde Identifikationsmöglichkeit wirkt aber ausgesprochen passend, in Anbetracht des Charakters des Protagonisten. Jemand, der selbst keine innere Motivation verspürt, kann andere auch nicht für sich begeistern, weder seine Zeitgenossen noch den geneigten Leser aus der Gegenwart. Deshalb empfand ich die Umsetzung gelungen, sie ergibt ein schlüssiges, glaubwürdiges Gesamtpaket.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für gute Unterhaltungsliteratur mit Ansprüchen, die erst auf den zweiten Blick wirken. Der Roman animiert zum Nachdenken, er stellt viele Weichen und zeigt mögliche Wege auf. Ebenso ernüchternd lässt er einen Menschen dastehen, der zum Täter wurde, zum Opfer gleichermaßen und nichts gefunden hat, was für ihn Bestand haben könnte. Gerade diese psychologische Komponente des Romans hat mir besonders gut gefallen, sie lässt verschiedene Spielräume für Interpretationen. Sie stellt auch die alles entscheidende Frage in den Raum, ob es genügt anwesend und da zu sein, oder ob Schuld erst entsteht, wenn man auch innerlich beteiligt ist. Je länger ich über diesen Sachverhalt nachdenke, desto mehr Wirkung entfaltet der Text. Dieses Buch ist eine ausgezeichnete Lektüre für Diskussionsrunden, Lesekreise und weiterführende Literatur über die Thematik des Mitläufertums. Sie könnte der Anfang einer ganzen Reihe von Überlegungen sein und das schafft längst nicht jedes Buch.

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