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Veröffentlicht am 08.10.2020

Rückblick auf viele schöne Jahre

Genau richtig
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„Ich sitze dem allen jetzt ganz allein gegenüber. Das ist jedoch irgendwie auch ein gutes Gefühl. Es bedeutet eine gewisse Freiheit. Ich muss ganz für mich selbst eine Entscheidung treffen. Aber wenn ich ...

„Ich sitze dem allen jetzt ganz allein gegenüber. Das ist jedoch irgendwie auch ein gutes Gefühl. Es bedeutet eine gewisse Freiheit. Ich muss ganz für mich selbst eine Entscheidung treffen. Aber wenn ich das tue, dann wird es für uns beide sein, ich meine, für uns alle fünf.“

Inhalt

Albert und Eirin haben fast ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht, sie sind durch viele Höhen und Tiefen gegangen, haben aber letztlich aneinander festgehalten und ihren Lebensweg gemeinsam bestritten. Und während Eirin auf einem Kongress weit weg von ihrem Mann ist, erhält dieser von seiner Ärztin, die ehemals auch seine Geliebte war, die vernichtende Diagnose über eine Krankheit, die ihn binnen kurzer Zeit zum Pflegefall machen wird und ihn letztlich das Leben kosten wird. Er fährt noch einmal hinaus an das gemeinsame Haus am See, füllt dort die Seiten des Hüttenbuchs mit seinen Erinnerungen an ein gelebtes Leben und muss sich allein darüber im Klaren werden, ob er die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, mit seiner Familie verbringen möchte, oder ob er dem unaufhaltsamen Prozess des Sterben entgegeneilt, um ohne unvermeidliche Verluste einen Schlussstrich zu ziehen.

Meinung

Vor vielen Jahren habe ich vom norwegischen Bestsellerautor Jostein Gaarder sein Buch „Sophies Welt“ gelesen und vor nicht allzu langer Zeit seinen Roman „Ein treuer Freund“. Beide Bücher beschäftigen sich mit einem Themenkomplex, den ich wahnsinnig gern in literarischen Texten wahrnehme, weil es dabei um viel mehr geht, als um ein Leben und das individuelle Schicksal, vielmehr sind es die großen Zusammenhänge der Welt, die Menschlichkeit und die Ängste Einzelner, die durch Interaktion mit anderen gemildert werden. Und so geht es auch hier um einen sterbenskranken Mann, dem es in Anbetracht seiner ihm noch verbleibenden Lebenszeit zwar gut geht, dessen Stunden aber gezählt sind.

Mit dem Untertitel „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, trifft es den Inhalt des Buches schon sehr genau, denn Albert macht nichts weiter, als sich an sein Leben zu erinnern. Im Rückblick beschreibt er seine Liebesbeziehung zu Eirin und sein Verhältnis zu Marianne, er lässt Augenblicke des Glücks und der Freude Revue passieren und versetzt sich in Vergangenes hinein, um möglicherweise eine Frage zu finden, die ihm mit dem, was kommen wird, versöhnen könnte. Was passiert mit dem Mensch, wenn er nicht mehr da ist? Was geschieht der Menschheit, wenn alles so schrecklich vergänglich ist und nichts von Bestand? Wer wird sich an ihn erinnern, wenn er gestorben ist und welche Spuren konnte er überhaupt hinterlassen?

Diese philosophischen Ansätze haben mir, wie immer sehr gut gefallen. Sie äußern sich in schönen Sätzen, über die man gerne nachdenkt. Es geht um das Leben, die Verluste, die Wünsche, die Rückschläge und die tiefe innere Überzeugung, das jedes Individuum, wie klein es auch sein mag und wie kurz es auch auf Erden existierte, immer irgendwo eine Entwicklung voranbringt, die in ihrer Summe einzigartig und wunderschön ist. Dadurch das dieser kurze Roman aber nur 125 Seiten umfasst und stellenweise sehr profane Dinge schildert, fehlt ihm eine gewisse Präsenz. Manchmal versteigt sich Albert regelrecht in seine Erörterungen, er fabuliert und denkt, ohne sich der tatsächlichen Auswirkungen seiner Selbst bewusst zu werden. Dadurch bleibt die emotionale Ebene, die dieses Buch direkt ansprechen könnte, seltsam leer. Es missfällt mir wirklich, wenn die an sich schon traurige Botschaft, das alles endlich ist, so nachhaltig vergeistigt wird und es nicht mehr um den Menschen geht, sondern nur noch um das Universum. Ich denke, diese distanzierte Schreibweise hätte sich auch nicht geändert, wenn der Roman den doppelten Umfang gehabt hätte. Deshalb war er so, wie er ist genau richtig.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunde. Leider erfüllt das Buch nicht den Anspruch, den ich ursprünglich an es hatte, obwohl fast alle Gedankengänge, die aufgegriffen werden, plausibel erscheinen, konnte es mein Leserherz nicht erreichen. Vieles bleibt im Verborgenen, die Protagonisten sind eher willkürlich und ersetzbar, die endgültige Entscheidung für oder gegen einen Sachverhalt wird zwar gefällt, nicht aber ausreichend begründet. Manches scheint Zufall, vieles scheint Schicksal, alles scheint einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Dennoch hat mir die Geschichte an sich gut gefallen, vielleicht muss man auch ein Auge zudrücken und nicht so viel Vergleiche mit anderen Texten ziehen, um diesen hier wirklich genießen zu können. Als Einstieg in die Materie der philosophischen Gedankenwelt ist es ein gutes Buch, wer bereits andere Bücher mit ähnlichen Strukturen kennt, wird möglicherweise enttäuscht sein.

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Viel zu beschäftigt für die andere

Jägerin und Sammlerin
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„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ...

„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ist intelligent, obwohl sie die Schule schwänzt, Alisa ist jung, obwohl sie die Last eines ganzen Lebens auf ihren Schultern trägt, Alisa ist verzweifelt, weil ihre Krankheit ihr den letzten Nerv raubt und sie sich den Fressattacken mit anschließendem Erbrechen doch nicht widersetzen kann. Alisa hat Bulimie und versucht irgendwie durch ihr Leben zu kommen, eine begonnene Therapie soll ihr helfen, sich und die Welt besser und echter wahrzunehmen, doch dabei muss sie leider feststellen, dass sie immer auf sich gestellt sein wird, wenn sie der Abwärtsspirale entkommen möchte.

Tanya, Alisas Mutter ist eine Kämpferin, sie hat sich in ihrem Leben nicht von widrigen Umständen abhalten lassen, ist durchaus den Weg mit Widerstand gegangen, immer auf der Suche nach dem Lebensglück und einem Partner, der ihr Halt bietet, den sie in sich selbst nicht findet. Die große Lücke, die bleibt, als sie einsehen muss, dass sie ihre einzige Tochter verloren hat, füllt sie zunächst mit Alkohol und später mit einer Innenschau, die zeigt, wie labil auch ihr eigenes Nervenkostüm ist. Wer kann Urvertrauen bieten, wenn er selbst keins besitzt? Beide sind viel zu beschäftigt für die Sorgen und Nöte der anderen und so schleicht sich immer mehr Distanz in eine traurige Mutter-Tochter-Beziehung ein, die letztlich zwei Menschen alleine dastehen lässt, obwohl sie sich irgendwo im Inneren doch wichtig sind …

Meinung

Bereits im Jahr 2017 habe ich den Debütroman „Kukolka“ von der ukrainischen Autorin Lana Lux mit viel Lesefreude und nachhaltiger Begeisterung gelesen, so dass ich ihr neuestes Werk natürlich auch kennenlernen musste.

Gerade die Thematik einer Essstörung, mit der ich persönliche Erfahrungen im Bekanntenkreis habe, lag mir dabei am Herzen, aber auch die Ausführung, warum Menschen, denen es eigentlich gar nicht so schlecht geht, an einer so zerstörerischen, nachhaltigen und lebensverändernden Erkrankung leiden und wie sie dort überhaupt hineingeraten sind. Und beide Punkte werden ausführlich, intensiv und ganz konkret in diesem Roman beleuchtet, so dass mir gerade im ersten Teil des Buches die körperlichen Befindlichkeiten der Kranken so deutlich vor Augen standen, dass ich hin und wieder eine kleine Lesepause einlegen musste.

Ich bin von dieser Erzählung nachhaltig beeindruckt, weil sie ohne irgendwelche Anklagen auskommt und sehr emotional aber dennoch sachlich die Eckpunkte einer absolut verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung aufzeigt. Während Alisa sich einzig nach Anerkennung und Liebe sehnt, versucht Tanya das beste aus der Tochter herauszuholen, weil sie selbst niemanden hatte, der sie gefördert hat und tatsächlich glaubte, dass irgendwann mal etwas aus ihr werden könnte. Doch Alisa ist nicht wie Tanya – egal wie stark sie sich um Anerkennung bemüht, ihre Mutter sieht nur die Unzulänglichkeiten und Defizite, die es zu verbessern gilt, im Zentrum steht nicht die Liebe zu ihrer Tochter, sondern die Erziehung eines patenten, starken Menschen, der sehr genau um seine Schwächen weiß.

Die Verstrickungen, die beide miteinander teilen, geben niemanden Genugtuung, immer bleibt zu wenig übrig, zu wenig Liebe, zu wenig Stolz, zu wenig Zuversicht, zu wenig Anerkennung. Erst eine Trennung der beiden Lebenspunkte Mutter und Tochter beruhigt die Lage, allerdings sind damit auch alle Möglichkeiten, die in einer intakten Beziehung stecken, versiegt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen intensiven, empathischen Roman über eine labile bis nachteilig wirkende enge Bindung, die trotz einiger Möglichkeiten nie den gewünschten Erfolg erreicht. Die Schilderung der Umstände ist gleichermaßen akribisch wie generalistisch angelegt, durch die vielen Textpassagen in wörtlicher Rede, ist der Leser immer ganz nah dran an der jeweiligen Protagonistin und kann sowohl Verständnis für die eine als auch für die andere entwickeln.

Es wird mit verschiedenen Zeitsprüngen gearbeitet, so dass einerseits die Verfehlungen der Vergangenheit sichtbar werden, andererseits auch die Sorgen der Gegenwart und die Ängste bezüglich der Zukunft. Gerade diese umfassende Betrachtung eines Sachverhalts, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Wer persönliche Erfahrungen mit Essstörungen hat, muss hier manchmal innehalten und tief durchatmen, allerdings fördert der Text auch das Miterleben der Krankheit, die manchmal sogar als Freundin betrachtet wird (für psychisch gesunde Menschen eine absolut unglaubliche Vorstellung).

Wer Romane mit Tiefgang und Unterhaltungswert schätzt und sich für die vielen Facetten menschlicher Belange interessiert, sollte unbedingt dieses Buch lesen. Für mich steht fest: Wenn Lana Lux den nächsten Roman veröffentlicht, greife ich ganz bewusst danach, weil ich mich von ihrer schriftstellerischen Sorgfalt und Intensität nun schon zweimal überzeugen konnte.

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Veröffentlicht am 01.09.2020

Die Bescheidenheit des kleinen Mannes

Ein ganzes Leben
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„Egger fühlte, wie die Traurigkeit in seinem Herzen hochstieg. Er fand, es hätte noch so viel zu tun gegeben in ihrem Leben, viel mehr wahrscheinlich, als er sich vorstellen konnte.“

Inhalt

Dies ist ...

„Egger fühlte, wie die Traurigkeit in seinem Herzen hochstieg. Er fand, es hätte noch so viel zu tun gegeben in ihrem Leben, viel mehr wahrscheinlich, als er sich vorstellen konnte.“

Inhalt

Dies ist die Erzählung über ein Menschenleben, über Andreas Egger, einen Mann der an den einfachen Dingen des Lebens Gefallen fand: arbeiten, sich mit der Natur verbunden fühlen, rechtschaffen und zuverlässig zu sein, ohne allzu hohe Ansprüche und abstrakte Wunschvorstellungen zu hegen. Mit seiner großen Liebe Marie, deren Herz er auf scheinbar wundersame Weise erobern konnte, möchte er alt werden. Doch ihre bescheidene Hütte, mit den wenigen Dingen, die Andreas Egger wichtig waren, wird unter einer Schneelawine begraben. Und während er mitten in der Nacht von einem seltsamen Geräusch geweckt wurde, kommt für Marie jede Hilfe zu spät. Und so muss der junge Mann lernen, mit diesem doch so schweren Schicksalsschlag zu leben. Aufrecht und zuversichtlich beschreitet er auch diesen noch so langen Lebensabschnitt, der vor ihm liegt – ohne seine Heimat, die Berge, zu verlassen. Tiefverwurzelt und mit zunehmendem Alter etwas absonderlich schwört Andreas Egger auf die Kraft, die in ihm wohnt und erhaben über menschliche Befindlichkeiten wirkt. Sein Leben war gut, so wie es war.

Meinung

Nachdem ich vor kurzem den neuesten Roman von Robert Seethaler „Der letzte Satz“ gelesen habe und dort zwar vom Schreibstil angenehm überrascht war, mich mit den vielen Fragmenten aber nicht so ganz zufriedengeben konnte, musste ich zu Vergleichszwecken unbedingt ein weiteres Buch des Autors entdecken. Allerdings zeichnet sich für mein Empfinden bei Seethalers Romanen eine Tendenz ab, die ich durch ein drittes Buch gerne bestätigt haben würde. Die Thematiken die der Autor wählt, finde ich sehr ansprechend, es sind Dinge, über die ich selbst gerne nachdenke: das Leben, die Bestimmung, die Verfehlungen und Abschiede auf der großen Bühne des Daseins. Diese vermag er in einen angenehmen Kontext zu setzen, der erzähltechnisch mit einer Leichtigkeit besticht und zusammenhängend schildert, wie sich Dinge entwickeln, die man manchmal durch Entscheidungen beeinflussen kann und manchmal durch Schicksalshaftigkeit hinnehmen muss. Doch beide Bücher haben ein Manko, welches mich hier besonders stört, weil es möglich scheint, durch die Wortwahl genau jenes zu erzeugen. Den Texten fehlt es für mich schlicht und einfach an Emotionalität, trotz ihrer greifbaren Dramatik. Für den Protagonisten Andreas Egger konnte ich einfach keine nennenswerte Sympathie empfinden. Er ist für mich der Inbegriff des einfachen Mannes, der mit wenig Worten und kargen Gefühlen durchs Leben geht und den Augenblick ergreift, ihn lebt, ohne zu urteilen, ihn akzeptiert ohne zu Grollen, der weitermacht, weil es ein Morgen gibt. Einerseits sind das Eigenschaften, die ich bewundern könnte, aber in ihrer Omnipräsenz erscheint mir das irgendwie unverständlich.

Fazit

Auch hier reicht meine Bewertung nur für 4 Lesesterne, obwohl ich dieses Buch gerne gelesen habe, mich gewissermaßen auf der gleichen Bewusstseinsebene bewege. Ein Roman der gut und gerne für 5 Sterne de Luxe hätte stehen können, der mich aber einfach nicht berühren konnte. Nur selten treffe ich auf literarische Texte, die einerseits so selbstverständlich über die wichtigen Dinge des Lebens berichten und gleichermaßen so sachlich und objektiv dabei vorgehen. Inhaltlich wäre „Ein ganzes Leben“ genau mein Buch gewesen, eins bei dem der ganze Weltschmerz auf 155 Seiten wirken könnte, bei dem Tränen fließen und Verständnis überwiegt. Doch eigentlich klappe ich dieses Buch zu und habe es fast schon wieder vergessen – sehr schade.

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Veröffentlicht am 20.08.2020

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis

Der letzte Satz
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"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für ...

"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für den berühmten österreichischen Komponisten und Operndirektor Gustav Mahler ist es die letzte Reise zurück in die europäische Heimat, nachdem er in Amerika große Erfolge feiern konnte. Seine immer schlechter werdende Gesundheit zwingt ihn in die Knie und lässt sein grandioses Lebenswerk als Künstler unter dem Licht der Vergänglichkeit nochmals ganz anders erscheinen. Oben auf dem Schiffsdeck der „America“ eingewickelt in eine Decke, die gegen das Fieber nichts ausrichten kann, hängt Mahler seinen Erinnerungen nach und schließt Frieden mit einer Welt, aus der er sich bald verabschieden wird. Zurück bleibt die Überzeugung, dass er Vieles hätte anders machen können, nachdem seine ältere Tochter im Kindesalter verstorben ist, dass er in seiner Rolle als Mann und Vater nur mäßigen Erfolg hatte, ganz anders als auf den Bühnen der Welt. Seine große Liebe Alma begleitet ihn zwar auf dieser Reise, doch ihre Zuneigung hat sich schon längst auf ein Mindestmaß reduziert und orientiert sich mehr an den Verpflichtungen einer Ehe, denn an wirklicher Liebe. Und er wird sich immer sicherer: das Leben seiner Familie wird weitergehen, auch wenn er stirbt, sein Werk jedoch wird Bestand haben, obwohl ihm immer bewusster wird, dass er seine Prioritäten möglicherweise falsch gesetzt hat …

Meinung

Nun habe ich es endlich geschafft, einen Roman des in Wien geborenen Autors Robert Seethaler zu lesen, der bereits zahlreiche internationale Publikumserfolge erzielen konnte. Sein Schreibstil ist äußerst klar und zielgerichtet, wirkt reflektierend und angepasst an die traurige Handlung der Erzählung.

Fasziniert hat mich vor allem seine gekonnte Auswahl an Gedankengängen, die es dem Leser ermöglichen, ganz nah an die Person des Gustav Mahler heranzukommen. Insbesondere die minimalistische Benennung biografischer Sachverhalte, die mich direkt dazu animiert hat, mich parallel zu diesem Buch intensiver mit dem Künstler Mahler zu beschäftigen. Prinzipiell ein cleverer Schachzug, denn immer dann, wenn ich einen Gedanken im Kontext hatte, stockt die Erzählstimme und lässt die Neugier auf mehr Hintergründe wachsen.

Gleichzeitig sind diese Lücken aber auch ein Kritikpunkt meinerseits, denn hätte der Autor nicht so viele Fragmente geschaffen und sich stattdessen noch intensiver auf die historischen oder menschlichen Aussagen konzentriert, wäre meine Begeisterung für das Buch noch weit größer gewesen. Dieser Roman hätte gerne den doppelten Umfang haben können, oder die tatsächlich letzten Stunden des Protagonisten lebendig werden lassen. Der Schiffsjunge selbst, der die Abschlussszene gestaltet, ist doch eine viel zu blasse, willkürliche Person, die mir zu wenig Gewicht auf diesen persönlichen Rückblick legt.

Fazit

Ganz klar eine Leseempfehlung, der ich gute 4 Sterne gebe, gerade wenn man als Romanliebhaber auch mal in eine Biografie hineinschnuppern möchte. Wie der Klappentext bereits verspricht, erlebt man glasklare Momente der Schönheit und des Bedauerns – doch zu vieles bleibt ungesagt oder unbedacht. Ich lese definitiv noch ein anderes Werk des Autors, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen.

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Veröffentlicht am 19.08.2020

Was uns zusammenhält

Ein Sonntag mit Elena
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„Wir sind immer viel gereist. Unser Vater, Sonia, Ale. Von mir ganz zu schweigen – ich lebe praktisch aus dem Koffer. Aber zu Hause war ja Mama: Sie drehte sich mit uns, durch uns, und wir kreisten ...

„Wir sind immer viel gereist. Unser Vater, Sonia, Ale. Von mir ganz zu schweigen – ich lebe praktisch aus dem Koffer. Aber zu Hause war ja Mama: Sie drehte sich mit uns, durch uns, und wir kreisten um die Wohnung am Lungo Po Antonelli wie Satelliten um einen Planeten.“

Inhalt

Giulia, die mittlere von drei Geschwistern erzählt hier rückblickend die Geschichte der eigenen Familie. Vom Vater, der nun allein in der Turiner Wohnung lebt, nachdem die Mutter bei einem tragischen Unfall das Leben verlor, von der großen Schwester, die mit ihrer Familie fortgezogen ist und vom kleinen Bruder, der als erfolgreicher Chemiker ständig um die Welt reist. Sie beschreibt den langsamen und erwartbaren Zerfall einer Familie, nachdem alle Kinder erwachsen geworden sind und ihrer eigenen Wege gehen. Dabei spart sie weder die kleinen noch die großen Verletzungen aus, die in der Vergangenheit geschehen sind, sie schildert ehrlich und manchmal auch anklagend all jene zwischenmenschlichen Verfehlungen, die nun dazu geführt haben, dass „Papa“ allein in seiner Wohnung sitzt und sich damit auseinandersetzen muss, den Lebensabschnitt des Alters neu zu strukturieren. Eine Zufallsbekanntschaft, die er eines Sonntags im Park trifft, wird ihm dabei helfen, ebenso wie er dieser unbekannten Frau mit dem Namen Elena neue Perspektiven eröffnet.

Meinung

Die Leseprobe zu diesem Buch hat mich sehr angesprochen und da ich Familienromane mit einer Botschaft sehr mag, habe ich zu dem aktuellen Roman des italienischen Autors Fabio Geda gegriffen, der eine komplexe und zugleich mühelose Handlung mit Empathie für seine Charaktere verspricht. Insgesamt bietet dieses Buch guten, weil bekannten und nachvollziehbaren Unterhaltungsstoff. Die Themen der Entfremdung und Annäherung zwischen Eltern und Kindern ziehen sich hier wie ein roter Faden durch die Geschichte. Und obwohl es inhaltlich nichts Neues ist und darüber hinaus ein ständiges Wechseln zwischen Haupt- und diversen Nebenhandlungen gibt, hat mich dieser Text dennoch bei der Stange gehalten. Dafür verantwortlich ist meines Erachtens der flüssige, liebevolle und weitsichtige Schreibstil des Autors, der in kurzen Kapiteln immer tiefer in die Geschehnisse zwischen den Familienmitgliedern hineinführt.

Am ehesten gestört hat mich die gewählte Erzählperspektive, die doch ungewöhnlich und auch nicht immer glaubhaft erscheint – die mittlere Tochter schildert hier ganze Passagen, die sie bestenfalls gehört haben könnte, jedoch nicht selbst erlebt hat. Als eine Möglichkeit, die Ereignisse intensiver und weniger individuell zu schildern kann man da noch mitgehen, allerdings hätte mir der Vater als Erzähler wesentlich besser gefallen. Wer kann schon aus zweiter Hand die Gedankengänge und Beweggründe eines anderen beschreiben?

Sehr sympathisch hingegen empfand ich die Kernaussage des Buches: Selbst wenn sich Lebenswege anders entwickeln als gehofft, bleibt die Chance, sich mit den Gegebenheiten auszusöhnen und einander wieder neu zu begegnen. Vielleicht nicht stereotypisch in der Rolle als Erziehender und Kind dafür aber auf Augenhöhe und mit der festen Absicht einander wichtig zu sein.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen generalistischen, ehrlichen Familienroman der durchaus Parallelen zum Geschehen anderer Familienverbände aufwirft. Hier kann man sich wiederfinden und hineindenken, muss wenig interpretieren oder hinterfragen, denn es fügt sich eins zum anderen. Wer eine schöne, harmonische Erzählung sucht, ist hier genau richtig. Besonders nachhaltig, anspruchsvoll und aussagekräftig ist die Lektüre aber nicht – also kein Buch, mit dem ich viele Erinnerungen teilen werde.

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