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Veröffentlicht am 21.09.2017

Eine sehr lange, gemächliche Erzählung

Swing Time
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„Es ist ein Leben im Schatten und irgendwann zermürbt einen das.“ (592)

Ein solches Leben führt die Erzählerin des Romans. Als Kind einer Jamaikanerin und eines Engländers fühlt sie sich im London der ...



„Es ist ein Leben im Schatten und irgendwann zermürbt einen das.“ (592)

Ein solches Leben führt die Erzählerin des Romans. Als Kind einer Jamaikanerin und eines Engländers fühlt sie sich im London der 80er Jahre, in dem sie ihre Kindheit verbringt, zwar irgendwie fremd, aber doch auch geborgen. In ihrem Viertel sind viele Familien mit Migrationshintergrund. Man bleibt gewissermaßen unter seinesgleichen und lebt in recht geordneten Bahnen. Ihr Vater ist sehr aufmerksam und freundlich, ihre Mutter lebt für ihren Wunsch nach Emanzipation (nicht nur persönlicher, sondern allgemeiner).
Die Erzählerin ist zwar klug und verfügt über eine gute Beobachtungsgabe, gleichzeitig schwirrt sie aber sehr um sich selbst mit ihren Gedanken und Wahrnehmungen. Sie hat eigentlich nur ein Interesse: Den Tanz. Doch selbst ist sie auf diesem Gebiet nur mittelmäßig begabt und so kann sie nur andere bewundern. Als Kind schließt sie sich einem Mädchen ihrer Ballettgruppe an. Dann wählt sie ohne große Passion einen Studiengang und gerät mehr zufällig in den Job als persönliche Assistentin eines Popstars. Sie betreut das karitative Projekt ihrer Chefin in Afrika mit: Die Gründung einer Mädchenschule. Ein charakterstärkerer Mensch wäre bei dieser Gelegenheit vielleicht auf Identitätssuche gegangen. Sie jedoch treibt nur zehn Jahre an der Seite des Popstars mit, ohne eigene Besonderheiten. Am Ende trifft sie wieder auf das Mädchen aus der Ballettschule.

„Swing Time“ ist ein über 600 Seiten dicker Schmöker, dem teilweise der Rote Faden zu fehlen scheint. Die Story plätschert dahin, die recht persönlichkeitslose Protagonisten nimmt uns mit in ihr Leben, das zwar nicht unbedingt ereignislos ist, aber dennoch sehr unspektakulär.
Das Besondere des Buches liegt wohl gerade in dieser Perspektive. Die namenlose Erzählerin ist ein sehr formbarer, angepasster Mensch. Ein Normalo ohne Ecken und Kanten, der aus seinem Leben erzählt, ohne dabei ein konkretes Erzähl-Ziel zu verfolgen. Nichts an der Geschichte scheint gestrafft oder künstlerisch zurechtgebogen. Aber am Ende fügt sich dann sogar diese scheinbar ziellose Geschichte zu einer runden Sache.

Wer es mag, sich über viele Lesestunden von einer Erzählung tragen lassen, und nicht unbedingt Handlungsstärke braucht, ist mit diesem Roman gut bedient.
Es fließen immer mal wieder interessante Alltagsbeobachtungen und intelligente Kommentare über das Leben ein.

„Was wusste sie schon von den Wellen der Zeit, die eine nach der anderen über uns hinwegrollten? Was wusste sie schon vom Leben als ständig provisorischem, niemals vollständigem Über-Leben dieses Vorgangs?“ (197)

Veröffentlicht am 19.09.2017

Drei Tage und ein Leben

Drei Tage und ein Leben
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"Sein Leben war nichts anderes als die riesige Niederlage, zu der ihn seine Kindheit, ein einziges Leid, bestimmt hatte." (93%)

Weihnachten 1999. Manch einer erinnert sich noch an die heftigen Stürme ...

"Sein Leben war nichts anderes als die riesige Niederlage, zu der ihn seine Kindheit, ein einziges Leid, bestimmt hatte." (93%)

Weihnachten 1999. Manch einer erinnert sich noch an die heftigen Stürme Lothar und Martin, die über West- und Mitteleuropa hinwegzogen und großes Unheil anrichteten.
Drei Tage zuvor verschwindet der sechsjährige Remi aus dem kleinen französischen Ort Beauval. Er ist dem Nachbarsjungen Antoine in den Wald gefolgt, der dort eine Hütte gebaut hatte. Antoine, selbst gerade einmal zwölf Jahre alt und an der Schwelle zum Erwachsenwerden, durchlebt gerade eine schwierige Zeit. Seine Eltern haben sich getrennt. Der Vater ist sehr gleichgültig und abwesend. Die Mutter - und das ist vielleicht noch schlimmer - ist zwar anwesend, aber auch gleichgültig den Sorgen ihres Sohnes gegenüber. Dieser plagt sich mit Einsamkeit, buhlt um die Anerkennung seiner Altersgenossen und ist irritiert durch seine aufkeimende Sexualität.
Eine Lebenssituation, in der dem Heranwachsenden feinfühlig begegnet werden sollte. Aber in dem kleinen Dorf Beauval werden die Kinder mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen. Und noch zusätzlich mit Problemen und Taten der Erwachsenen konfrontiert, die sie erschüttern.
So muss Antoine mit ansehen, wie sein Nachbar, Remis Vater kurzerhand, seinen von einem Auto angefahrenen Hund erschlägt. Dieser Hund war Antoines einziger Freund und Begleiter.
Völlig aufgebracht zieht er sich in den Wald zurück, wohin Remi ihm folgt. Antoine projiziert seine Wut auf den kleinen Jungen und schlägt auf ihn ein.

"Das Ausmaß der Katastrophe hat ihn niedergeschmettert. Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder." (8%)

Pierre Lemaitre nimmt sich nicht vor, die Schuldfrage zu klären; Antoines Tat wird als Mord bezeichnet, nie als Unfall. Viel mehr geht es darum, was diese Tat aus Antoine macht.
Auch wie es zu dem Mord kam, spielt natürlich am Rande eine Rolle, doch es kommt nie zu einer Aufklärung und Reflexion der Umstände, da wir alles aus Antoines Perspektive erfahren. Und der bleibt auch in seinem weiteren Leben der selbstbezogene und verängstigte Zwölfjährige, der seine Tat nie verarbeiten wird.

So fühlt man als Leser mit dem jungen Antoine drei Tage lang mit, obwohl er einen Mord begangen hat. Doch den erwachsenen Antoine kann man nicht mögen. Er ist ein gebrochener Mann, dessen Leben von der Angst vor dem Entdecktwerden bestimmt wird.

Ein so bewegendes Buch wie "Drei Tage und ein Leben" habe ich selten gelesen. Es lässt den Leser verzweifelt und zerrissen zurück.

Veröffentlicht am 27.07.2017

Evolution und Revolution

Und Marx stand still in Darwins Garten
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„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische ...

„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische Weise zu betrachten.“ (69%)

Darwin und Marx. Zwei große Vor-Denker, die im Jahr 1881 nur wenige Kilometer voneinander entfernt in England leben.
Ilona Jerger nimmt diese Tatsache als Anlass zu spekulieren, wie ein Kennenlernen der beiden Männer hätte ablaufen können. Was hätten die beiden sich zu sagen? Wie passen ihre Weltansichten zueinander? Wie unterschiedlich sind ihre Charaktere und Temperamente?

Im Roman haben Darwin und Marx, beide schon alt und krank, denselben Arzt. Dr. Beckett erzählt seinen Patienten vom jeweils anderen. Er findet, dass ihre Theorien und Ansichten gewisse Überschneidungen haben und dass die beiden sich kennenlernen sollten.

Die Story ist sehr dialoglastig. Darwin redet mit Dr. Beckett über Marx, die Religion und seine Krankheiten. Marx redet mit Dr. Beckett über Darwin, die Religion und seine Krankheiten. Zu einem Treffen der beiden Großen kommt es dann eher zufällig und ohne das Dazutun des Arztes. Und auch erst, nachdem gut die Hälfte des Romanes gelesen ist.

An dieses ruhige Erzähltempo und die wenigen Schauplätze muss man sich als Leser erst gewöhnen. Bis auf einige Ausnahmen findet das gesamte Geschehen in einem der beiden Krankenzimmer und in Dialogform statt.
Auch merkt man, dass Darwin und Marx sich in der Realität nie begegnet sind, denn die Autorin zögert das Treffen hinaus und nähert sich der Thematik nur sehr vorsichtig. Sie scheint den realen Personen nicht allzu viele Worte in den Mund legen zu wollen. Entsprechend unspektakulär gestaltet sich der vermeintliche Höhepunkt des Romans: Marx und Darwin beobachten sich gegenseitig bei ihrem Treffen, die Gespräche übernehmen zu großen Teilen andere Figuren.

So ist dann auch die interessanteste Figur die des Dr. Beckett. Ein sehr moderner und progressiver Arzt, der seiner Zeit weit voraus ist. Er stellt die Arzt-Patient-Beziehung in den Vordergrund, weiß um die Wirkung der seelischen Verfassung auch auf den Körper.
"Am Bett des gebeutelten Professors war ihm klargeworden, dass es zwischen Arzt und Patient einer Allianz bedurfte, nicht nur einer Diagnose." (22%)

„Und Marx stand still in Darwins Garten“ ist ein eigenartiges Buch, wie ich es bisher noch nicht kannte. Aber es ist auch sehr unterhaltsam und lehrreich. Und auf jeden Fall etwas Besonderes.

Veröffentlicht am 27.07.2017

Bücher, die ein Kinderleben prägen

Die Romantherapie für Kinder
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„Zwischen ‚Es war einmal‘ und ‚glücklich bis ans Ende ihrer Tage‘ liegt ein Land, in dem wir alle schon waren. Ein Land, in dem merkwürdige und wundervolle Dinge passieren.“ (9)

Es handelt sich um ein ...

„Zwischen ‚Es war einmal‘ und ‚glücklich bis ans Ende ihrer Tage‘ liegt ein Land, in dem wir alle schon waren. Ein Land, in dem merkwürdige und wundervolle Dinge passieren.“ (9)

Es handelt sich um ein Land zwischen zwei Buchdeckeln, das man jedem Kind zeigen sollte.
Doch welche Bücher sollte man seinem Kind unbedingt nahelegen? Was könnte das eigene Kind in seiner Situation und seinem Alter interessieren? Die Auswahl an Büchern ist riesengroß und man sucht manchmal lange nach den besten und passendsten Büchern zu einer bestimmten Thematik.

Die beiden Autorinnen Ella Berthoud und Susan Elderkin stellen als Romantherapeutinnen eine Auswahl an Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern zusammen, die den Kindern in bestimmten Lebenssituationen gefallen und vielleicht sogar helfen kann.

Dieser Ansatz ist sehr originell und witzig. Statt „normale“ Lesempfehlungen zu geben, werden sie thematisch nach den Problemen abgehandelt, die im Leben eines Kindes und Jugendlichen irgendwann einmal eine Rolle spielen können und dringend einer Roman-Therapie bedürfen. Darunter finden sich ernste Themen wie „Depressionen“, „Vergewaltigung“, „Tod“ oder Krankheiten, aber auch eher banale Probleme und Wehwehchen im ganz normalen Alltag eines Kindes. Die empfohlenen Bücher werden für verschiedene Altersstufen gegeben und sind entsprechend gekennzeichnet. Hinzu kommen viele Listen der zehn besten Bücher, z.B. „Die zehn besten Fühlbücher“ (52).

Irgendwo findet sich jeder wieder! Und wenn nicht, kann man das Buch auch einfach von vorne nach hinten komplett durchlesen, statt es als Nachschlagewerk zu nutzen. Denn zu jedem Thema gibt es einen einleitenden und beschreibenden Text, der teilweise in einem sarkastischen, immer aber in einem humorvollen Ton daherkommt.

Die Autorinnen vertreten den Ansatz, dass Kinder eigensinnige, selbstbewusste Persönlichkeiten sein und werden dürfen („Eigensinn“). Sie dürfen sich auch mal schmutzig machen. (Hier gibt es sogar ein Kapitel für diejenigen unter den Kindern, die das nicht wollen: „Schmutzig, es nicht werden wollen“.) Und z.B. das Thema „Bestrafung“ handeln sie leicht sarkastisch, aber auch auf robuste Art ab.

„Die Romantherapie für Kinder“ ist ein sehr empfehlenswertes Buch für Erwachsene, die auf der Suche nach schönen Kinderbüchern sind. Es verschafft einen tollen Überblick und unterhält dabei auch noch gut. Außerdem kommt die gebundene Ausgabe in einer wunderschönen Aufmachung daher.



P.S.: Interessanterweise handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen. Vermutlich hat die Übersetzerin Trudl Bünger einige Empfehlungen für den deutschsprachigen Raum ergänzt, immerhin wird sie auch als Mitherausgeber auf dem Cover genannt. Allerdings gibt es zur Übersetzung keine editorischen Anmerkungen im Buch. - Das fehlt mir persönlich.

Veröffentlicht am 12.07.2017

Poetisch, kunstvoll, bezaubernd

Kein anderes Meer
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"Poetisch und farbenprächtig: Eine märchenhafte Reise in eine fremde Welt." (Klappentext)

Ein armer, verwitweter Fischer, der sich gezwungen sieht, seine kleine Tochter Claire in fremde Hände zu geben. ...

"Poetisch und farbenprächtig: Eine märchenhafte Reise in eine fremde Welt." (Klappentext)

Ein armer, verwitweter Fischer, der sich gezwungen sieht, seine kleine Tochter Claire in fremde Hände zu geben. Eine Stoffhändlerin, die Mann und Kind unter tragischen Umständen verliert. Ein junger, ebenfalls sehr armer Mann, der einen Lebenstraum verwirklichen möchte. Und ein Radiosender, bei dem die Schicksale der unterschiedlichsten Menschen zusammenzulaufen scheinen.

Über einen Zeitraum von zehn Jahren begleiten wir einige der Bewohner Ville de Roses auf Haiti und alle Erzählstränge führen an Claires siebtem Geburtstag zueinander. Die Einzelschicksale sind in anachronistischer Erzählweise miteinander verwoben. So führt eine Geschichte thematisch zur nächsten und am Ende ergeben sie ein stimmiges und sehr kunstvolles Ganzes.

Liest man den Klappentext könnte man zunächst vermuten, dass es nur um das Schicksal der kleinen Claire geht. Das Mädchen ist in der Tat Dreh- und Angelpunkt des ganzen Romans, aber die Geschichte entfaltet sich in so vielschichtiger Weise, dass sie durch diese Beschreibung zu kurz gefasst wäre.

Für mich ist „Kein anderes Meer“ eine kleine Perle. Ein kurzweiliges Lesevergnügen, das durch die wunderschöne Sprache und die faszinierende Erzählweise überzeugt. Edwidge Danticat hat den Blick fürs Detail und die Sonderbarkeiten des Lebens.

Der Schauplatz Haiti ist ein ganz besonderer. Da ist die Schönheit der Natur und aber auch die Armut der meisten Bewohner von Ville de Rose. Auch sind viele der beschriebenen Schicksale sehr tragisch, aber das tut der bezaubernden Schönheit des Romans keinen Abbruch.

Dieses Buch ist eines meiner Lesehighlights.