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Veröffentlicht am 11.04.2023

Ende offen

Seemann vom Siebener
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Im Freibad in Ottersweiler laufen an einem der letzten warmen Sommertage die Schicksalsfäden ganz verschiedener Leute zusammen, die hier mit ihren Erinnerungen an ganz unterschiedlich lange vergangene ...

Im Freibad in Ottersweiler laufen an einem der letzten warmen Sommertage die Schicksalsfäden ganz verschiedener Leute zusammen, die hier mit ihren Erinnerungen an ganz unterschiedlich lange vergangene Zeiten konfrontiert werden: Bademeister Kiontke, der einen schweren Unfall vom Siebenmeterturm noch nicht verwunden hat. Josefine, die eigentlich heute ihren Mann, der bei einem Autounfall starb, beerdigen soll. Lennart, ihr Jugendfreund und weitgereister Fotograph, der für die Beerdigung zurückgekommen ist und, weil eine Sinnkrise seine Fotographiererei in Frage stellt. Isobel, deren Mann einst das Freibad baute und die nun immer mehr in die Vergangenheit abzugleiten droht. Renate, Kassiererin an der Kasse. Und die Ich-Erzählerin, die nach langer Abstinenz von der Welt aufgrund psychischer Probleme in Schwimmbad kommt, um dort einen ganz bestimmten Sprung vom eigentlich gesperrten Siebenmeter zu wagen, mit dem sie den Erinnerungen an das, was ihre Welt aus den Fugen brachte, die „Stirn zu bieten“, wie sie es ausdrückt. Denn die Stirn ist es, was bei diesem bestimmten, „Seeman“ genannten Sprung als erstes auf die Wasseroberfläche trifft. Kann das aus einer Höhe von mehr als sieben Metern gut gehen?
Der Leser fühlt sich anfänglich auch so, als sei er vom Sprungturm mitten ins kalte Wasser gesprungen oder eher geworfen worden. Er muss sich erstmal orientieren in den unterschiedlichen Geschichten der unterschiedlichen Figuren, die alle spannend sind, thematisieren sie doch unbewältigte Vergangenheit, auf deren Auflösung hin die Erzählfäden streben. Allerdings muss der Leser, den es fortdrängt, zu erfahren, was die Figuren antreibt, was sie erlebt und erlitten haben, das sie jetzt in ihren Erinnerungen immer wieder nur andeuten, sich stets aufs Neue gedulden, weil die Erzählstränge sich immer wieder abwechseln und somit die Fortsetzung immer wieder aufs Neue verschoben wird. Dabei kann es schon mal vorkommen, den Faden zu verlieren oder sich in den Fäden zu verheddern, zumal gerade die Erinnerung z. B. von Isobel sich seltsam mit der Gegenwart vermischen und auch nicht alle Erinnerungsfäden zielführend sich zu einem stringenten Erzählstrang verdichten lassen. Der ein oder andere findet sich, manche verlaufen einfach weiter und manche laufen ins Nichts. Einige finden an ein Ende, dass die Neugier des Leser befriedigt. Aber gerade der zentrale Faden der Ich-Erzählerin bricht einfach ab. Der Leser kann ihn in die ein oder andere Richtung weiterspinnen, aber ohne eine Gewissheit. Und so fühlt er sich am Ende selbst ein wenig wie einer, der nach großer Anspannung beim Erklimmen eines eigentlich gesperrten Siebenmeters ins Nichts fällt und nicht weiß, wie er aufkommt. Das muss man aushalten können.
So kunstvoll und letztlich auch verblüffend die Komposition auch ist, so spannend die Charaktere und so interessant der Erzählstil, so hat der Leser doch am Ende das Gefühl, er könnte da etwas überlesen haben und müsste vom Ende her die Geschichte noch einmal lesen, damit ihm sich die ein oder andere Merkwürdigkeit erschließt. Ohne zu viel verraten zu wollen, sei nur die Frage gestellt, wie viele Personen denn nun letztendlich auf dem Siebenmeterturm zu sehen waren?
Auf jeden Fall keine simple Sommer-Freibad-Strandlektüre, sondern wie ein konzentriert langsam freier Fall vom Turm mit heftigem Aufprall und verwirrendem Gefühl, in einem Wirbel aus Wasser und Blasen nicht unterzugehen.

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Veröffentlicht am 06.04.2023

In einen Künstlerkreis hineingeboren

Samuels Buch
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Samuel Finzi erzählt in seinem autobiographischen Roman „Samuels Buch“ in locker gefügten Anekdoten von seiner Kindheit und Jugend im sozialistischen Bulgarien, von der Künstler-Familie, von der Schule, ...

Samuel Finzi erzählt in seinem autobiographischen Roman „Samuels Buch“ in locker gefügten Anekdoten von seiner Kindheit und Jugend im sozialistischen Bulgarien, von der Künstler-Familie, von der Schule, den Freunden, vom Urlaub, vom Kino, von der Zeit beim Militär, von der Schauspielschule bis hin zu seiner Übersiedlung nach Berlin, um an einem Schauspielprojekt teilzunehmen und zugleich dem zu eng gewordenen Bulgarien den Rücken zu kehren.
In leichtem Plauderton gewährt der Schauspieler und jetzt auch Autor Finzi aus der Sicht eines neugierigen, aufgeweckten Jungen Einblick in seine Familiengeschichte, bereits der Großvater ist Musiker, die Mutter Pianistin, der Vater Schauspieler, aber auch in die Geschichte Bulgariens, Sattelitenstaat der Sowjetunion, kommunistisch geprägt, von der Stasi überwacht. So manche Freiheiten sind dem jungen Finzi zwar gewährt, kann er doch mit seiner Familie eine Urlaubsreise über Italien nach Paris machen, wohin es Teile der jüdischen Familie verschlagen hat. Auch seine schulische Karriere ist eher die Ausnahme als die Regel: Besuch einer experimentellen weiterführenden Schule, bei dem er engen Kontakt zur Enkelin des Staatschefs gewinnt, dann einer Schule für alte Sprachen, mit der er auf Exkursion in Griechenland ist, um Ausgrabungen zu unterstützten. Darüber hinaus ermöglichen die Kontakte in die Künstlerszene, die Besuche von Konzerten und Theateraufführungen des Vaters, aber auch die Liebe zum Kino Blicke in die weite Welt, die stark kontrastiert mit der Enge des sozialistischen Alltags, die ihren Höhepunkt in seinem Militärdienst erreicht. Kein Wunder, dass es den Erzähler in die Freiheit drängt.
Neben allerlei teils lustigen, teils erstaunlichen Geschichten aus der Familie Finzi mit und ohne t erfährt der Leser auch immer wieder interessante historische Details aus der Geschichte Bulgariens, seiner politischen Entwicklung, des Schicksals der jüdischen Bevölkerung, die ursprünglich von Spanien kommend unter stalinistischem Terror auch wieder in alle Welt verstreut wurden, aber auch aus der Geschichte des Kinos und aus der Mentalitätsgeschichte eines Jugendlichen, der sich nicht von kommunistischer Doktrin den Blick verstellen lässt auf die Vorzüge einer kapitalistischen Welt, angefangen von Adidasschhuhen bis hin zum Erotikkinobesuch auf Klassenfahrt.
Unterhaltsam, amüsant, lehrreich und kurzweilig zu lesen, wenn man das Anekdotische mag, das bewusst auf so etwas wie Vollständigkeit und vertiefte Zusammenhänge verzichtet und in diesem Zusammenhang vielleicht bisweilen doch ein wenig auf Vorkenntnisse setzt.

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Veröffentlicht am 05.04.2023

Das Leben zu meistern wissen

22 Bahnen
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Tilda studiert Mathe, arbeitet an der Supermarktkasse und geht schwimmen. Ganz nebenbei kümmert sie sich noch um ihre kleine Schwester Ida. Ihre Mutter ist Alkoholikerin. Väter gibt es keine mehr. Nun ...

Tilda studiert Mathe, arbeitet an der Supermarktkasse und geht schwimmen. Ganz nebenbei kümmert sie sich noch um ihre kleine Schwester Ida. Ihre Mutter ist Alkoholikerin. Väter gibt es keine mehr. Nun hat Tilda die Aussicht auf eine Promotionsstelle. In Berlin. Was soll da aus Ida werden, die gerade erst auf das Gymnasium gekommen ist und eher verträumt und zurückhaltend scheint? Und dann ist da noch Viktor, der eigentlich so gar nicht in Tildas streng getaktetes Leben passt, das schon ein nichtfunktionierender Kopierer in der Uni aus dem Lot bringen kann
Tilda ist die beeindruckende Hauptfigur und Erzählerin in Carolina Wahls Debütroman „22 Bahnen“. Noch so jung, aber schon so erwachsen, so zielstrebig, so klug, so verantwortungsbewusst, so warmherzig und so empathisch im Umgang mit ihrer kleinen Schwester. Was sie sich ausdenkt, um diese für das Leben mit ihrer Mutter zu rüste, wenn Tilda in Berlin sein sollte, ist einfach umwerfend. Und trotzdem ist Tilda eben auch jung, auf der Suche, will leben und feiern. Sie wirkt nicht wie eine Kunstfigur, sondern wie eine Person aus Fleisch und viel Herzblut, die man gern zur Freundin oder eben zur großen Schwester hätte. Aber auch Ida ist ein toller Charakter, den die Autorin da geschaffen hat: eigenwillig, kreativ, originell, sehr sensibel, aber viel stärker als sie und Tilda selbst es für möglich gehalten haben. Beide richten sich - trotz der schweren Umstände – die aggressive, ichbezogene, von Depressionen geplagte Mutter, die am Leben verzweifelt und ihre Töchter im besten Falle gar nicht wahrzunehmen scheint – in ihrem Leben ein, sie führen ein gutes Leben als Schwesternfamilie und reifen zu tollen Menschen heran. Es gibt kein Leiden und Klagen, kein Selbstmitleid, sondern der Roman vermittelt einen solchen bodenständigen Optimismus und ein Gewissheit um das gelingende Leben, wie ihn Ida selbst in Worte fassen kann, wenn sie zu ihrer Mutter sagt: „Wir wissen, dass du es ohne Hilfe nicht schaffst, und wir wissen, dass wir es ohne dich und auch mit dir schaffen.“ Wer braucht da noch Lebenshilfe- oder Glücksratgeber, wenn er dieses schmale Bändchen lesen kann.
Der Stil wechselt von schlicht, rau und sehr neuhochdeutsch, sodass der ältere Leser bisweilen mein, ein Wörterbuch zu brauchen, hin zu magisch-poetisch, wenn Tilda Stimmungen in der Natur spiegelt und die wunderschönen Zeichnungen ihrer kleinen Schwester beschreibt, die die Wirklichkeit in Märchen spiegelt, ein Spiel, das die beiden bis zur Perfektion beherrschen.
Ein ruhiges Buch, ein tief rührendes Buch, ein Herzensbuch!

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Veröffentlicht am 03.04.2023

Ein lohnenswertes Ende

Fine und die Zeit der Veränderung
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Im vorläufigen letzten Band der Reihe „Eine Familie in Berlin“ von Ulrike Renk führt die Geschichte zu Fine, Ullas Tochter, Enkelin der Künstler Richard und Paula Dehmel. Ihrer Mutter Ulla droht das Leben ...

Im vorläufigen letzten Band der Reihe „Eine Familie in Berlin“ von Ulrike Renk führt die Geschichte zu Fine, Ullas Tochter, Enkelin der Künstler Richard und Paula Dehmel. Ihrer Mutter Ulla droht das Leben immer mehr zu entgleiten: ihre Ehe mit dem Arzt Heinrich ist erkaltet, das Geld ist knapp, als Mutter von drei kleinen Mädchen muss sie sich zwischen ihrer künstlerischen Arbeit und dem Haushalt aufteilen. Und dann ist da noch ihr Engagement für die Politik, für den Kommunismus und seine soziale Projekte in Berlin, was mit dem Erstarken der Nationalsozialisten immer gefährlicher wird. Als Tochter einer mehr als unkonventionellen Mutter muss Fine bald lernen, selbständig zu sein und für sich und ihre beiden jüngeren Geschwister zu sorgen. Sie empfindet bewundernde Liebe für die Mutter und eifert ihr nach in ihrer Begierde nach Leben und Teilhabe an der Gesellschaft. Doch zugleich sehnt sie sich nach der Geborgenheit einer Familie, nach Ritualen und Sicherheit, die ihre Mutter ihr nicht geben kann. In Zeiten der Inflation müssen Fine und ihre Geschwister tagsüber oft ohne Mutter auskommen, die auf Arbeitssuche ist. Und trotzdem bleiben die Mägen der Kinder häufig leer. Bis von unerwarteter Seite Hilfe naht, die Fine und ihren Schwestern aber ein großes Opfer abverlangt.
Im ersten Teil – zum Glück nicht ganz die Hälfte des Romans – steht noch Ulla im Mittelpunkt. Die Dialoge mit Familie und Freunden kreisen ermüdend lang und redundant immer wieder um erkaltete Liebe, um den Konflikt zwischen Muttersein und unerfüllter künstlerischer Selbstverwirklichung und um kommunistische Weltverbesserungsparolen, denen die Autoren zum Glück auch gemäßigtere und kritische Stimmen entgegensetzt. Gepackt hat mich das Buch erst, als es ab Seite 180 endlich um Fine geht, die bis dahin gänzlich in einer Erwachsenenwelt untergeht. Nicht nur die Eltern, sondern auch die Autorin scheint bisweilen zu vergessen, dass es sich um eine 8jährige handelt, die aber wie die Erwachsenen von politischem Aktivismus träumt. Stimmiger wird das Bild erst, als sich ihr die Aufmerksamkeit ganz zuwendet. Zuerst die Schilderung einer Reise mit ihrer Mutter und Heinrich Vogeler zu einem kommunistischen Urlaubsprojekt in Italien versöhnt mit der Hürde des Anfangs. Anschaulich und packend begleiten wir Fine in eine für sie gänzlich unbekannte Welt. Der Höhepunkt für mich ist die Erzählung des Abschnittes in Fines Leben, der sie in das Heim der Familie Sperling nach Tabarz führt. Hier sehen wir die Welt aus den Augen eines jungen Mädchens, das mit 12 Jahren schon eine Menge gesehen und erlebt hat, aber jetzt eigentlich erst erfährt, welche Sicherheit und Geborgenheit ein geregeltes Familienleben bringen können, die die Kraft der Familiengemeinschaft und eines Lebens im Rhythmus der Jahreszeiten erlebt. Dankbar ergreift sie die Möglichkeit eines einfachen, bodenständigen Lebens als Ausgangspunkt für ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben später, wenn der Nationalsozialismus ihr als Vierteljüdin diese Chance ließe, ohne aber die bewundernde Liebe zu ihrer unkonventionellen Mutter jemals aufzugeben. Damit ist Fine für mich bereits eine trotz ihres jungen Altes beeindruckende, reife Persönlichkeit.

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Veröffentlicht am 31.03.2023

Zwei gänzlich verschiedene Welten und eine beeindruckende Frau, die sich in beiden zu behaupten weiß

Der Geheimnishüter von Jaipur
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In der Fortsetzung des Romans „Die Hennakünstlerin“ von Alka Joshi schickt Lakshmi ihren einstigen Schützling Malik zurück nach Jaipur, um Einblick zu nehmen in die höchsten Gesellschaftsschichten Indiens ...

In der Fortsetzung des Romans „Die Hennakünstlerin“ von Alka Joshi schickt Lakshmi ihren einstigen Schützling Malik zurück nach Jaipur, um Einblick zu nehmen in die höchsten Gesellschaftsschichten Indiens und an dem Bauprojekt des königlichen Palastes mitzuwirken, ein Kino in gigantischem Ausmaß zu bauen. Doch am Tag der Eröffnung kommt es zu einem folgenschweren Unglück, und Lakshmi muss alles daransetzen, ihre engsten Vertrauten in Jaipur vor dem Schlimmsten zu bewahren. Dabei überschlagen sich doch auch die Ereignisse in Schimla, Lakshmis neuer Heimat, um die junge Nomadin Nimmi, die Maliks Herz erobert hat.
Spannend wie ein Krimi geht es um illegale Machenschaften im Bauwesen und Goldhandel. Dabei taucht der Leser ein in die faszinierende Welt Indiens Ende der 60er Jahre, in denen das ursprüngliche Leben der Nomaden des Himalaya auf das anglo-amerikanisch geprägte Leben in Indiens großen Städten trifft. Ein sehr reizvoller und verblüffender Kontrast, den man nur sehr schwer zeitgleich zusammen vorstellen kann. Sinnlich, farbenprächtig und voller Kulinarik beschreibt die Autorin das Indien dieser Zeit. Ihr Stil ist klar und packend und strahlt zugleich eine solche Ruhe aus, wie er auch von ihrer Heldin Lakshmi ausgeht. Zum einen mag man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, weil man von Satz zu Satz und von der Spannung immer weiter gezogen wird. Zum anderen wird der Leser dabei dem eigenen hektischen Alltag so entrissen, dass er zur Ruhe kommt und sich von der Schönheit des Himalaya und der Naturverbundenheit der Nomadenfamilien ganz gefangen nehmen lässt. Die Fokussiertheit, Klarheit, Souveränität und Umsicht, mit der Lakshmi handelt und ihre Lieben zu schützen weiß, erfüllt den Leser nicht nur mit Bewunderung für die Figur, sondern lässt ihn das selbst nachempfinden, was sie schon als Hennakünstlerin im ersten Band zu bewirken vermochte: Menschen heil zu machen. Eine stark beeindruckende und berührende Leseerfahrung!

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