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Veröffentlicht am 19.11.2023

Liebe- und humorvolle Figurenporträts

Unsereins
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Eine epische Familiengeschichte ist der Roman „Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke eigentlich eher nicht, auch wenn der Familie Lindhorst in ihm mehr Platz eingeräumt wird als anderen Figuren. Neben dem ...

Eine epische Familiengeschichte ist der Roman „Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke eigentlich eher nicht, auch wenn der Familie Lindhorst in ihm mehr Platz eingeräumt wird als anderen Figuren. Neben dem Blick auf die Mitschüler und andere höher gestellte Familien des „kleinsten Staates des Deutschen Reiches“ fällt dieser eben auch auf das alternde Hausmädchen Ida, das nicht „im Dienst“ sterben, sondern noch etwas anderer im Leben erreichen möchte, den Ratsdiener Isenhagen und seine Liebe zu Matthilde Helms, die wiederrum mit dem schwulen Lohndiener Charlie eine Scheinehe führt, damit seine Neigungen nicht auffallen. Aber auch die Familien der Senatoren haben so mit ihren Problemen und Sorgenkindern zu kämpfen: die Schillings suchen nach gesellschaftlicher Anerkennung, da macht es eine unverheiratete Tochter aus erster geschiedener (!) Ehe nicht einfacher, zumal wenn sie auch noch Spukgeschichten schreibt, in denen der Nachbar mit seinem Hund die Hauptrolle spielt, und die nach einer Erbschaft ein unabhängiges Leben in der „Kurblase“ leben kann.
Auch die Kinder der Lindhorsts sind alles andere als gesellschaftsfähig, seien es unverwiderte Liebesgefühle, der Hang zur Spielsucht oder die „deutsche Krankheit“, die man sich in Bordellen holen kann. Hinzu kommt eine nervenkranke Mutter mit einem verschwenderischen Lebensstil und schlechter gehende Geschäfte, die, wenn schon keinen gesellschaftlichen Abstieg, so doch den Umzug in einfachere Verhältnisse bedeuten.
Nicht nur der Ort, auch viele Personen und die gesellschaftlichen Um- und Zustände lassen an Thomas Manns „Buddenbrooks“ erinnern. Der Dichter selbst taucht namentlich auf, zunächst noch als Schüler, genannt der Pfau, der allerdings nach dem Tod des Vaters recht klang- und sanglos aus der Gesellschaft verschwindet, um Jahre später mit seinem Buch, das er über die Gesellschaft seines einstigen Heimatortes geschrieben hat, dorthin zurückkehrt. Wer setzt wem hier ein Porträt? Eine Frage mit Tradition, aber letztlich ohne wirkliche Bedeutung. Der Roman ist keine Neuauflage, keine Modernisierung der Buddenbrooks.
Mit ihm gemein hat er die sehr detaillierte, liebevolle Porträtierung seiner Figuren, die sich manchmal aber auch nicht den humorvoll ironischen Seitenhieb verkneifen kann. Auch die Beschreibung von Natur und Stadtleben sind sehr anschaulich und atmosphärisch. Gerahmt – und das ist der jüngeren Zeit durchaus geschuldet – wird der Roman von der Einnahme einer Perspektive, die moderne Errungenschaften und die Erzählweise des Films voraussetzt: Wir nähern uns dem Erzählten aus der Perspektive eines Regentropfens, der auf den „kleinsten Staat des Deutschen Reiches“ fällt, und wir verlassen ihn wieder, indem wir auf die Kinder der Familie Lindhorst am Ende auf dem Dach ihres alten Familienhauses zurücklassen, aus Sicht einer darüber kreisenden Drohne. Auf jeden Fall ein interessanter erzähltechnischer Aspekt.
Einige Fragen sind für mich allerdings bei der Lektüre offengeblieben: Wohin will die Erzählung? Es gibt keinen stringenten Leitfaden, die Erzählung springt mal hier, mal dort hin, mancher Faden wird ab und an wieder aufgegriffen, mancher aber auch nicht mehr: Was wird aus dem Schüler der „Anstalt“ Georg, was aus seinem Mitschüler Otto? Was ist mit Robert, der sich aus Japan auf den Heimweg gemacht hat? Kündigt der Schlusssatz „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“ einen möglichen weiteren Teil an?
Die Geschichte ist nett zu lesen, die Figuren mehr oder minder sympathisch oder zumindest unterhaltsam, aber sind sie „unsereins“? Der Titel gibt Rätsel auf: Unsereins im Sinne der Zugehörigkeit zu einem kleinen Stadtstaat okay, aber dafür sind seine Bewohner viel zu unterschiedlich. Unsereins dann im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht? Aber dafür sind die einzelnen Figuren viel zu individuell, kaum eine achtet darauf, sich an die Konventionen zu halten: die Damen reisen allein, betrinken sich, suchen Liebschaften, die Herren haben Liebschaften oder besuchen Bordelle oder andere sexuelle Neigungen. Auch wenn sie es nicht offen ausleben, sondern sich hinter einer bürgerlichen Fassade verbergen – wie auch Thomas Mann, so weiß doch jeder darum. Nach außen hin geht es sehr häufig um gesellschaftliche Akzeptanz, darum, dazugehören zu wollen, wofür die Figur des Charlie Helms sinnbildlich steht, ist es doch seine Aufgabe, gesellschaftliche Kontakte zu den höheren Kreisen zu vermitteln. Am ehesten ist es noch Ida, die Angst hat, gegen ein Rollenbild zu verstoßen, wenn sie sich heimlich aufmacht, um Stenografie zu lernen, um mehr aus sich zu machen. Und doch geht es zugleich auch immer darum, sich selbst zu finden und zu leben, den Neigungen nachzugeben. Meint „unsereins“ insofern auch uns alle: unsereins Menschen? Ansonsten bliebe die Lektüre eines gesellschaftliche Porträts einer Zeit um 1900 zwar nette Unterhaltung und vielleicht historisch nicht uninteressant, aber darüber hinaus auch nicht viel mehr.

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Veröffentlicht am 17.11.2023

Klug

Welt in Aufruhr
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Herfried Münkeler beschreibt in seinem Buch „Welt in Aufruhr“ Theorien der Weltordnung und Ursachen für Aufruhr in der Welt. Seine Ausführungen reichen von Thukydides bis in die Neuzeit. Er erklärt die ...

Herfried Münkeler beschreibt in seinem Buch „Welt in Aufruhr“ Theorien der Weltordnung und Ursachen für Aufruhr in der Welt. Seine Ausführungen reichen von Thukydides bis in die Neuzeit. Er erklärt die Konflikte der jüngeren und jüngsten Gegenwart bis hin zum Krieg in der Ukraine mit Hilfe der Theorien und der aus ihnen resultierenden Deutungen und Narrative. Dabei geht es auch um die Rolle der jeweiligen Großmächte und um geopolitische Faktoren. Ein breit gefasst Blick auf Vergangenheit und Zukunft mit dem Ziel, sich der Frage anzunähern, wie eine künftige Weltordnung aussehen könnte, wer Akteur und Garant dieser sein könnte, welche Chancen und Gefahren in ihr liegen.
„Gedankenfunkelnd“ bewertet der Klappentext Münkelers Analyse. Dem kann der Leser nur zustimmen. Beeindruckend sind die breite und weit zurückreichende Kenntnis historischer, globaler Entwicklungen und die Zusammenhänge, die der Autor herzustellen weiß. Dabei reicht sein Blick nicht nur weit zurück, sondern erweist sich auch im Blick auf die Zukunft als sehr weitsichtig.
Einzig hemmend ist der bisweilen etwas aufgeblähte Satzbau und der Hang zum exaltierten Fremdwort, das gut und gerne auch hätte durch einen einfacheren Begriff zum Ausdruck gebracht werden können. Die funkelnden Gedanken des Autors hätten dieses äußeren Scheins nicht bedurft.

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Veröffentlicht am 18.10.2023

Clever, witzig und ein wenig tollpatschig

Grüne Gurken
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Das ist die Helden des Jugendbuches „Grüne Gurken“. Lotte ist mit ihren Eltern nach Berlin gezogen und findet dort alles sch… . Als sie durch Zufall an einen Job im Kiosk gegenüber kommt, lernt sie aber ...

Das ist die Helden des Jugendbuches „Grüne Gurken“. Lotte ist mit ihren Eltern nach Berlin gezogen und findet dort alles sch… . Als sie durch Zufall an einen Job im Kiosk gegenüber kommt, lernt sie aber nette Leute kennen, Yunus, den Kiosbesitzer, Miri, seine Freundin und einen Jungen, der einmal wöchentlich grüne saure Gurken im Kios kauft und ein Geheimnis zu haben scheint. Aber nicht nur das macht ihn anziehend. Wäre da nur nicht Lottes Talent, jede peinliche Situation mitzunehmen.
Lotte ist klug, wenn auch für ihre Eltern manchmal nicht klug genug, sie kann Leute zum Lachen bringen, manchmal eben auch durch ihre kleinen Missgeschicke. Somit wächst sie dem Leser gleich ans Herz. Der Erzählton passt ganz zur Heldin der Geschichte, aus deren Perspektive erzählt wird: locker, witzig, intelligent. Und so bringt Lotte auch ihre Leser immer wieder dazu, laut loszulachen. Aber der Roman hat auch ernste Seiten, es geht um das Selbstbild, um das Gefühl, anders zu sein, um Verantwortung, um Festhalten und Loslassen, um das Erwachsenwerden und natürlich um die Liebe.
Ein besonderes Highlight sind die Graphiken, ein Faible von Lotte, lustige und pointierte Untermalungen ihrer Erfahrungen und Stimmungslagen.
Ein Roman, der gut unterhält, ein wenig nachdenklich und viel Spaß zum Lesen macht, nicht nur für Berlinliebhaber, Jugendliche, Verliebte oder Fans von sauren Gurken.

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Veröffentlicht am 20.06.2023

Nicht ganz mit Schirm, Charme und Melone

Die Kriminalistinnen. Der Tod des Blumenmädchens
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ermittelt die Kriminalpolizeianwärterin Lucia Sprecht im Fall des Todes eines Blumenmädchens, wie der erste Titel der Reihe „Die Kriminalistinnen“ von Matthias Berg lautet.
Lucia Specht ist eigentlich ...

ermittelt die Kriminalpolizeianwärterin Lucia Sprecht im Fall des Todes eines Blumenmädchens, wie der erste Titel der Reihe „Die Kriminalistinnen“ von Matthias Berg lautet.
Lucia Specht ist eigentlich gelernte Sekretärin und kommt aus dem Zechenmilieu des Ruhrpotts. Doch sie will mehr aus ihrem Leben machen und ergreift die Chance, als erstmals 1969 in Düsseldorf Frauen bei der Kripo in Düsseldorf ausgebildet werden. Zusammen mit ihren 5 Kolleginnen, die unterschiedlicher nicht sein können, doch alle dasselbe Ziel verfolgen, steht Lucia ihre Frau in einer männerdominierten Domäne. Dabei hat sie nicht nur mit den Vorurteilen der Kollegen zu kämpfen. Doch in dem Fall des toten Hippiemädchens, der zunächst wie ein Unfall aussieht, sich dann aber schnell als ein Mord im Milieu von Drogenkriminalität und Pornographie erweist, ist weibliche Intuition nicht immer fehl am Platz.
Während die kriminalistische Handlung eher konventionell und frei von unverhofften Wendungen ist, besticht der Roman eher durch sein historisches und lokales Kolorit. Geschickt verflicht der Autor historische Begebenheiten mit der Romanhandlung und lässt den Leser gänzlich eintauchen in das Lebensgefühl der späten 60er Jahre zwischen dem konservativ-spießigen Establishment und den die freie Liebe praktizierenden Hippies, die sich gegen alles Konventionelle verwehren. Die Figuren und ihre Beziehungen sind sehr vielschichtig angelegt und weit entfernt vom Klischee, was es umso interessanter macht, an ihren Leben, ihrer Gefühls- und Gedankenwelt Anteil zu nehmen. Und dabei sind es nicht nur die Frauen, die sich in einer neuen Rolle zwischen Hausfrau, Mutter und selbständiger Berufstätigkeit finden müssen, sondern auch die Männer müssen sich dazu positionieren mit ihren Wünschen von der braven, fürsorgenden Ehefrau und der erotisch verführerischen Geliebten, die sich nicht unbedingt mit Frauen à la Emma Peal vereinbaren lassen, die sich in diese Schubladen nicht fügen wollen.
Wer den actionreichen, psychologisch raffinierten Krimi liebt, wird hier wohl nicht unbedingt ganz so auf seine Kosten kommen. Wer aber die Atmosphäre und die historische Eigenheit an einem Krimi schätzt, der wird sich gut unterhalten finden.

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Veröffentlicht am 07.06.2023

Die im Dunkeln leben

Die Reisenden der Nacht
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Über vier Generationen erstreckt sich der Roman „Die Reisenden der Nacht“ von Armando Lucas Correa. Schon Ally muss ihre Tochter Lilith, einen „Rheinlandbastard“, die die dunkle Haut von ihrem Vater geerbt ...

Über vier Generationen erstreckt sich der Roman „Die Reisenden der Nacht“ von Armando Lucas Correa. Schon Ally muss ihre Tochter Lilith, einen „Rheinlandbastard“, die die dunkle Haut von ihrem Vater geerbt hat, bei Nacht auf eine Reise ins Unbekannte schicken, um sie vor den Hygienegesetzen der Nazis zu retten. Mit Hilfe eines jüdischen Ehepaares erreicht sie auf der St. Louis Kuba, wo sie bei ihnen aufwächst, sich in einen Mann verliebt und mit ihm eine Tochter bekommt, Nadine. Und zwar genau in der Nacht, als die Kommunisten die Herrschaft über das Land übernehmen und die Anhänger der alten Regierung, wie Lilith Mann, beseitigen. Auch Lilith muss sich von ihrer Tochter trennen, die zu Adoptiveltern kommt. Das Ehepaar zieht sie in New York groß, bis die Frau und Adoptivmutter Nadines als Österreicherin der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Nazi-Regimes in Deutschland angeklagt wird. Somit schließt sich der Kreis, denn Nadine macht sich mit ihrem Adoptivvater nach Deutschland auf, da er seine Frau in ihrem Prozess unterstützen will. Nadine fasst in Berlin Fuß, studiert, verliebt sich und bekommt eine Tochter, Luna, die vieles von ihrer Urgroßmutter geerbt hat: die Dichtkunst und die Vorliebe für die Dunkelheit.
Correa gibt mit seinem Familienroman ein erschütterndes Zeugnis ab über die Grausamkeit der Menschen und des Schicksals, das die Protagonistinnen immer wieder aus ihrem Leben vertreibt und mit schrecklichen Schlägen dafür straft, das sie anders sind, nicht dazu gehören und dafür verfolgt und ausgegrenzt werden. In einer seltsam anmutenden Verbindung von Poesie und der historisch fundierten Schilderung zweier verschiedener Epochen des Unrechts und der Gewalt in Deutschland und Kuba nimmt er den Leser mit auf diese Reise durch die Nacht, die zeigt, dass der Mensch der Geschichte und auch seiner eigenen Lebensgeschichte nicht entkommen kann. Während das Leben Allys in Deutschland sehr surreal wirkt, weil sie quasi nur bei Nacht lebt, um ihre Tochter zu verstecken, wirkt die Lebensphase Liliths in Kuba dagegen solange recht real und lebendig, bis auch sie sich gänzlich in der Finsternis ihres Haus abschottet vom Leben ohne ihre Tochter. Der letzte Teil, Nadines und Lunas Leben in Berlin, wirkt dagegen wieder sehr realitätsnah. Hier stören ein wenig die großen Zeitsprünge, die den Leser immer wieder aus der Kontinuität der Geschichte reißen. Vielleicht will der Autor hier zu viele Erzählfäden zu ihrem Ende und zusammenführen, ohne sich dafür die Zeit zu nehmen. Auch die Art, wie der ein oder andere Faden sein Ende findet, ist im Angesicht des dramatischen Schicksals dieser Familie dann doch mit zu großem Willen zur Harmonie zu Ende gesponnen.

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