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Veröffentlicht am 31.07.2023

Sterne über Siena - wenn ein Familienleben im Ausnahmezustand endlich auf die wahre Liebe trifft

Sterne über Siena
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Sterne über Siena ist die Geschichte von Emilia, liebevoll Em genannt. So warmherzig, wie ihr Name klingt, wächst Emilia jedoch nicht auf. Als Heranwachsende verliert sie ihren Bruder Matteo. Die ganze ...

Sterne über Siena ist die Geschichte von Emilia, liebevoll Em genannt. So warmherzig, wie ihr Name klingt, wächst Emilia jedoch nicht auf. Als Heranwachsende verliert sie ihren Bruder Matteo. Die ganze Familie befindet sich seitdem im Ausnahmezustand. Und dieser Ausnahmezustand hält bis in Emilias Erwachsenenalter an.

Emilia lernt in ihrer Kindheit vor allem, undurchdringlich nach außen Stärke zu zeigen: den Stolz als Sienesin, den Stolz als Mitglied der Contrade des Turms und den Stolz der Familie Volani. Einzig ihre jüngere Schwester Aurelia bleibt ihr als Verbündete. Egal, wie hart Emilia auch arbeitet, egal, wie sehr sie sich im Studium bemüht, das ihr in Wirklichkeit eine Last ist: ihren über alles geliebten Vater erreicht sie nicht. Luciano Volani wird einzig durch den alljährlichen Palio aus seiner Lethargie gerissen. - Der Lethargie geboren aus dem Hass auf die Familie Graziotti. Der Familie, die Luciano den Sohn nahm.

Zu dumm, dass Aurelia sich ausgerechnet in den jüngsten Sprössling der Familie Graziotti verguckt hat und Emilia zwischen die Fronten beider Familien gerät.

Claudia Winter erzählt die Geschichte der beiden Familien jeweils aus Sicht der älteren Kinder. Emilia Volani und Alessio Graziotti erlebe ich als Leserin mit all ihren Gedanken, Wünschen und Vorhaben und kann nur hoffen, dass sich alles irgendwie zum Guten wenden wird. Beide begleite ich durch eine aufregende Zeit mit versuchten Familienzusammenführungen, Vorbereitungen zum Palio - dem (!) Pferderennen in Siena, Freundschaften, die erneuert werden müssen und den üblichen Geschäften. Die Charaktere haben Tiefe. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich in Siena wäre und mir sämtliche Figuren begegnen würden. Die zurückhaltende, freundliche Emilia, die vor Glück überschäumende Aurelia, die warmherzige Familie Graziotti - sie sind alle da. Und ihr Dasein fühlt sich für mich aus der Ferne schon so real, so wirklich an.

Der lebendige Schreibstil lässt mich hautnah erleben, was den Charakteren in der Geschichte widerfährt. Mehr als einmal muss ich das Buch zur Seite legen, weil ich die Gefühle der Figuren so sehr nachempfinden kann.

Um den Roman zu mögen und nah bei den Charakteren zu sein, muss man kein Pferdeliebhaber sein. Es geht zwar um den Palio, das Pferderennen in Siena. Der Palio ist aber eher ein Lebensgefühl. Der Herzschlag Sienas, der dafür sorgt, dass die Contraden im Wettbewerb bleiben. 17 Contraden gibt es in Siena. Jedes dieser Stadtviertel hat ein eigenes Wappen, das mit Stolz getragen wird. Was könnte also mehr zählen, als ein Sieg beim Palio?

Sterne über Siena zu lesen, hat mir sehr viel Freude bereitet. Ich habe so unendlich viel gelernt über Siena, über Familienzusammenhalt und Schicksalsschläge. Mit den Charakteren konnte ich bangen, kämpfen und erleben, wie sie an ihren Herausforderungen wachsen. Wie sie lernen und lehren. Wie sie lieben und leiden.



Fazit
Sterne über Siena ist für alle Pferdeliebhaber, Freiheitsliebende und für all jene, die Leidenschaft für ihre eigenen Vorhaben empfinden.

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Veröffentlicht am 18.07.2023

Eine junge Frau zwischen Verantwortung und Mut zur Veränderung

22 Bahnen
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22 Bahnen erzählt die Geschichte von Tilda. Tilda lebt mit ihrer jüngeren Schwester Ida und ihrer Mutter in einer Wohnung in der Fröhlichstraße. Nur, dass Tilda vom Fröhlichsein meilenweit entfernt scheint. ...

22 Bahnen erzählt die Geschichte von Tilda. Tilda lebt mit ihrer jüngeren Schwester Ida und ihrer Mutter in einer Wohnung in der Fröhlichstraße. Nur, dass Tilda vom Fröhlichsein meilenweit entfernt scheint. Tilda studiert, liebt Mathematik, arbeitet an der Supermarktkasse, schwimmt zum Ausgleich gern 22 Bahnen und kümmert sich um ihre jüngere Schwester Ida und den Haushalt. An Tagen, an denen die Mutter nicht einmal mehr für sich selbst da sein kann, kümmert sich Tilda auch um sie.





Die Trennung von Tildas Vater hat die Mutter nie ganz verkraftet und so dämmert sie zwischen Depressionen und Alkoholsucht vor sich hin, bekommt nichts auf die Reihe und eskaliert im schlimmsten Fall vor ihren Töchtern.

Während Tilda die Zustände meistert, verschanzt sich Ida in ihrem Zimmer und hinter ihren Zeichnungen.

Eines Tages kommt Viktor zurück in die Stadt. Viktor, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda damals befreundet war. Ivan, der damals ums Leben kam. Viktor, der seitdem immer ein bisschen traurig aussieht und - wie Tilda - immer genau 22 Bahnen schwimmt.

22 Bahnen ist eine Geschichte, die im Laufe der Erzählung meine Aufmerksamkeit immer mehr fesselt. Tilda, die mit ihren Eigenarten und ihrer ruhigen Art stets so gut zu Ida ist. Während Tilda sich um Ida kümmert, bemerkt sie nicht, dass sie sich gar nicht um ihr eigenes Wohlergehen kümmert. Außer diesen 22 Bahnen und ihrem Studium gilt die gesamte Aufmerksamkeit Ida - und wenn es sein muss, ihrer Mutter.

Die Entwicklung der Geschichte und die Entwicklung der Charaktere zu beobachten, ist faszinierend für mich.

Caroline Wahl erzählt die Geschichte um Tilda in einem ruhigen Ton und lässt die Emotionen ihrer Figuren sprechen. Das macht 22 Bahnen für mich sehr lebendig. Die Realität wird ungeschönt dargestellt, während die Figuren gleichzeitig nach Harmonie suchen und dieser ein Eckchen in der grau wirkenden Umgebung einräumen.

Carolin Haupt liest die Geschichte mit ihrer jungen, ungestümen Stimme und lässt mich als Hörerin die Härte und vermeintliche Aussichtslosigkeit, die Zweifel und Ängste, die Resignation spürbar erleben. Gleichzeitig ist immer der Mut zur Veränderung spürbar, der gegen die Tristesse anstrahlen will. Und der winzige Keim der Hoffnung gedeiht.

22 Bahnen hat mich nicht nur gut unterhalten, sondern keinen einzigen Moment losgelassen.



Fazit
22 Bahnen ist für alle, die Coming of Age Romane mögen und sich von der Geschichte einer jungen Frau zwischen Verantwortung und des Heranwachsens in ein eigenes Leben mitreissen lassen wollen.

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Veröffentlicht am 11.07.2023

Hier entsteht Liebe und Freundschaft aus Wissen, Romantik und Gefahr.

Die Frau, die es nicht mehr gibt
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Die Frau, die es nicht mehr gibt erzählt die Geschichte zweier junger Frauen, die sich im Lubéron der 1980er Jahre erstmalig begegnen.


Alexandra Richter, Alex genannt, ist mit der Schule fertig. Ihr ...

Die Frau, die es nicht mehr gibt erzählt die Geschichte zweier junger Frauen, die sich im Lubéron der 1980er Jahre erstmalig begegnen.


Alexandra Richter, Alex genannt, ist mit der Schule fertig. Ihr Herz schlägt für die Fotografie und so ist sie trampend in Europa unterwegs, um eindrucksvolle, landschaftliche Fotomotive festzuhalten. Auf ihrer Reise entdeckt sie jedoch ihre Leidenschaft für den Ausdruck in den Gesichtern der Menschen. Alex hat einen Blick für bildhafte Momente von Persönlichkeiten, die Geschichten erzählen.



Im Moment der ersten Begegnung und des Verstehens ihrer Begabung, trifft Alex in Apt auf ein Trio aus Straßenkünstlern. Das Trio besteht aus einem Fackeljongleur mit Wolfsmaske, der sich als hübsche junge Frau namens Mado entpuppt, aus einem weiteren Fackeljongleur namens Fantomas, der immer ein wenig erstaunt aussieht und dem Seiltänzer Loic, der bei seinem Hochseilakt der ersten Begegnung auf dem Seil ganz schön ins Schwanken gerät.



Die Vier werden schnell zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Es stellt sich heraus, dass alle Vier ihrem Elternhaus den Rücken gekehrt haben. Fernab der Familie wollen sie ihren Platz im Leben finden, ergründen wer sie sind und was sie im Leben wollen. Es geht darum die eigenen Träume zu ergründen und zu verwirklichen. Und es geht darum, Erfahrungen nicht einfach zu verbuchen, sondern mit dem erworbenen Wissen tätig zu werden.

Maiken Nielsen hat mit dieser liebenswerten Bande vier Charaktere ins Leben gerufen, die unterschiedlicher Herkunft sind und vor ähnlichen Herausforderungen - nämlich der gefühlten Inakzeptanz mindestens eines Familienmitglieds - stehen. Wie soll der Mensch damit umgehen, wenn er noch nicht die notwendigen Erfahrungen gesammelt hat, außer er sammelt sie außerhalb und fernab der Familie?

Und so lande ich als Leserin in Apt gemeinsam mit allen, die im Verborgenen bleiben wollen, mit allen Künstlern, mit den Hippies, mit den Einheimischen und der wunderbaren Natur und mit Drogen und der unmittelbaren Gefahr durch die in der Nähe stationierten Atomraketen, Militär und sich verbündenden Terroristen.

Diese Mischung aus "ich bin hier geboren", ich gehöre nirgends anders hin" und der Gefahr sorgt für einen Zusammenhalt unter all den Fremden, die in Apt zusammenkommen, so dass ich mich ob des Zusammenhalts wie in einer Großfamilie bei ihnen zu Hause fühle.



"Je suis heureux que tu sois là", stand da. Ich bin glücklich, dass du da bist. - Seite 44



Maiken Nielsen hat eine ganz wunderbare Art die Geschichte zu erzählen. Klug und bildhaft, bildungssprachlich aber nie belehrend. Es ist mir ein wahres Fest die vier jungen Erwachsenen zu begleiten und ihre Entwicklung zu verfolgen. Die Arbeit an der Erfüllung der Träume; das Zurückstecken der eigenen Wünsche zugunsten der Freundschaft und der politischen Entwicklung; das sich treiben lassen, weil es Teil des Vorhabens ist und weil es Teil der eigenen Schwäche ist.



Mado sah sie unbewegt an. "Jetzt hör mir mal zu: Das Geheimnis der Freiheit liegt in der Bildung, während das Geheimnis der Tyrannei darin besteht, die Menschen dumm zu halten. Hat schon Robespierre gesagt!" "Wurde ihm für diese Aussage nicht der Kopf abgeschlagen?" "Netter Versuch, Alex." - Seite 63



Die Geschichte ist so malerisch erzählt, wie die Umgebung des Lubéron auf mich Eindruck macht. Gegen die aufkommende Romantik machen sich die Umstände der Gegenwart der 1980er Jahre und die Umstände der Wiederbegegnung der beiden Frauen rund dreißig Jahre nach ihrem ersten Treffen auf.

Ein Prozess, der schmerzhafte Erfahrungen und gelebtes Leben zusammenführt und von Liebe und Freundschaft zeugt.



"Vielleicht ist es der unbändige Wunsch zu leben. An unsere Grenzen zu stoßen und dann darüber hinauszugehen." - Seite 429



Am liebsten würde ich den Roman gleich noch einmal lesen.



Fazit
Die Frau, die es nicht mehr gibt ist für alle, die sich in den Genuss einer fiktiven Geschichte mit wahren geschichtlichen Hintergründen mit den jungen Erwachsenen in die Provence und nach Apt der 1980er Jahre begeben wollen.

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Veröffentlicht am 16.06.2023

Wenn Spannung sich anfühlt wie ein inneres Tauziehen, dann ist es "Verschwunden".

Verschwunden
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Verschwunden ist der neue Thriller um den Ermittler Commissario Neri. Neri ist dort wohnhaft und tätig, wo andere Menschen Urlaub machen: in der Toskana. Doch mancher Urlaub ist dazu verdammt nicht dem ...

Verschwunden ist der neue Thriller um den Ermittler Commissario Neri. Neri ist dort wohnhaft und tätig, wo andere Menschen Urlaub machen: in der Toskana. Doch mancher Urlaub ist dazu verdammt nicht dem Erholungszweck zu dienen.







Dieses müssen Gitta und ihr Mann Elmar erfahren, als in dem Trubel des toskanischen Marktgewimmels ihr Sohn mit einem Mal verschwunden ist. Wohin kann Jonas verschwunden sein?

Während Neri schon von seinem Altersruhesitz träumt, sind die Eltern von Jonas in heller Aufregung.



"Ich hab gehört, dass sie irgendwann mal gesagt haben, dass sie auch noch ein Herz brauchen. Für ein Kind. Blutgruppe 0." - Seite 143


Die Geschichte erlebe ich wie ein inneres Tauziehen. Auf der einen Seite möchte ich die Natur und die imposanten Gebäude mit tollem Blick auf die Toskana genießen, die ich an der Seite der Maklerin Elena Ludwig kennenlerne, auf der anderen Seite bin ich gefangen zwischen den Wünschen und Träumen von Neri und seiner Gabriella und der Verzweiflung der Eltern.

Sabine Thiesler beherrscht das Spiel mit der Angst und nutzt ihr Wissen, um mich als Leserin an die Geschichte zu fesseln und die Angst der Opfer und der potentiellen Opfer erlebbar zu machen. Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen und das Geschehen daher wohldosiert in kleineren Leseabschnitten erlebt. Der intensive Austausch hat das Erlebte noch einmal verstärkt verbildlicht und ließ dabei zu, die Geschichte auch noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu erleben.



"Er sah lange in die angstvoll geweiteten Augen des Vogels. Und plötzlich verstand dieser kleine Junge die Welt. Da waren die Starken und die Schwachen. Um zu überleben, musstest du zu den Starken gehören, sonst warst du verloren. Und wenn du schwach warst, musstest du dich stark machen." - Seite 173



An verschiedenen Perspektiven mangelt es in der Geschichte aber nicht. Sabine Thiesler lässt mich das Geschehen aus dem Blick der unterschiedlichen Charaktere erfahren und lässt mich Seite an Seite mit den Figuren an den Erlebnissen teilhaben. Und manchmal möchte ich gar nicht so nah am Geschehen sein.



Fazit
Wenn Spannung sich anfühlt, wie ein inneres Tauziehen, dann ist es "Verschwunden".

Dieser Thriller ist für alle, die starke Nerven beweisen, wenn es um Kindesentführung und Machtmissbrauch geht.

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Veröffentlicht am 09.06.2023

Von Freundschaft und von Liebe, die mehr als hundert Leben hält

Der Ruf des Eisvogels
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Der Ruf des Eisvogels ist die Geschichte um Olga. Olga Blume, von ihrem Pa - also ihrem Großpapa - auch liebevoll Gänseblümchen genannt. Olga erblickte am 1. April 1925 das Licht der Welt. Genau in dem ...

Der Ruf des Eisvogels ist die Geschichte um Olga. Olga Blume, von ihrem Pa - also ihrem Großpapa - auch liebevoll Gänseblümchen genannt. Olga erblickte am 1. April 1925 das Licht der Welt. Genau in dem Moment, in dem ihre Mutter Elli Blume starb. Elli Blume war zu der Zeit mit ihrem Mann Otto und ihrem kleinen Sohn Karl allein zu Haus. Pa - also Olgas Großpapa - war zu der Geburt Ellis Freundin Ira geeilt, die genau an dem Tag zur selben Stunde ihre Tochter erwartete.





Während die Seele von Elli Blume durchs offene Fenster entschwindet, macht Olga ihren ersten Atemzug und ein Eisvogel schaut zum Fenster herein. 21 Gramm wiegt der kleine Racker - so viel, wie eine geliebte Seele wiegt.

Olga wächst zwar bei ihrem Vater Otto und ihrem Bruder Karl auf, wird aber von Pa gehegt, umsorgt und mit allerlei spannendem Wissen über Medizin und die Wunder der Natur versorgt. Mit ihrer pragmatischen und dabei sehr liebevollen Art wächst mir Olga nach und nach ans Herz.



"Seit sie klein ist, geht sie mit ihm Gesundheit pflücken. Schließlich dienen ihm alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel als Apotheken, so hat zumindest der große Paracelsus es behauptet." - Seite 49



Anne Prettin macht es mir als Leserin sehr leicht Olga ins Herz zu schließen. Auf der anderen Seite hält sie die ganzen 464 Seiten lang die Spannung, wie sich die Geschichte um Olga schlussendlich entwickelt und sich die Auflösung der Geschichte bis zum Tag des Wiedersehens gestaltet. In verschiedenen Rückblenden in die Kindheit, die Jugend, die frühen Erwachsenenjahre und die Zeit des zweiten Weltkrieges bekomme ich einen lebendigen Einblick in das Leben, das Olga führt. Ich spüre die Last der Verantwortung, die sie trägt. Ich wünsche mir für Olga ein anderes, leichteres Leben und doch kann ich nachvollziehen, dass sie die Bürde trägt - auch wenn ich Meilen von der Wahrheit entfernt bin.

Anne Prettin hat einen für mich sehr bildhaften Erzählstil. Ich könnte jederzeit an jedem Ort tatsächlich dabei gewesen sein, so eindrücklich ist das Geschehen erzählt, so präsent sind die Charaktere, mit solch einer Wucht sind die geschichtlichen Ereignisse beschrieben.



"Aber waren die Schatten nicht schon immer ein Teil von dir? Schon als kleines Mädchen hast du geglaubt, du müsstest dir deinen Platz in der Welt verdienen, als stünde dir nichts zu." - Seite 442



Ich erwische mich beim Lesen dabei, dass ich hoffe, dass niemand an die Tür klopft und um Einlass bittet. Als hätte ich jemanden versteckt. Als hätte ich etwas zu verbergen. Und doch sehe ich mich Olga so verbunden, dass ich ihr Geheimnis mit bewahre, sie schütze, auch wenn ich ihr Geheimnis noch nicht in Gänze kenne. Ich vertraue ihr.



"Mehr kann man doch für einen anderen Menschen nicht tun, als ihn zu heilen und dafür zu sorgen, dass er weiterleben und -lieben kann." - Seite 278



Wann immer ich von Pa´s Gänseblümchen lese, habe ich die Gewissheit, wie rein diese Liebe von Großvater zur Enkelin ist. Das Vertrauen, das Zutrauen und der Werdegang. Diese Gewissheit macht mich froh und weckt Zuversicht in die Zukunft. Solange es Menschen wie Pa und Olga gibt, ist unsere Welt zu retten. Und all die Menschen darin.



"Wie Mamme immer sagte: "Man begegnet in seinem Leben vielen Leuten, aber nur wenigen Menschen." - Seite 271



Und ich erfahre von Pa, dass es zwar Zeit braucht, aber jeder Lebensabschnitt einen eigenen Herbst hat.



"Olga steckt sich den Herbst in die Manteltasche, drei Kastanien sowie eine Handvoll gelbgrüner, ockerfarbener und weinroter Ahornblätter, die sie im Botanischen Garten auf dem Weg zur Universität aufgelesen hat. Das wird ihr Glück bringen. Pa sagte immer, Herbst sei ein uraltes Wort für Ernte, und die müsste man einfahren, wenn die Zeit reif dafür sei." - 315



Dank Olga weiß ich nun, dass ich nicht bis zum Herbst des Lebens warten muss, um die Ernte einzufahren. Sondern genau dann, wenn es Zeit ist zu ernten. Denn dann ist Herbst.

Der Ruf des Eisvogels ist eine fiktive Geschichte und erzählt doch aus der Geschichte von Jochen Prettin, dem Vater der Autorin. In der Danksagung erzählt Anne Prettin, wieviele Parallelen zur Geschichte es gibt. Und auch das war für mich als Leserin noch einmal spannend zu erfahren.

Ich habe noch ganz viele Stellen im Buch markiert und freue mich schon heute, das Buch immer mal wieder zur Hand zu nehmen und die klugen Sätze von Anne Prettin zu lesen und ihr innerlich Recht zu geben, zu schmunzeln und den Menschen dieser Welt genug Raum zu geben, dass sie gegen all die Leute bestehen können.

Liebe Anne Prettin, ich freue mich sehr hoffentlich bald wieder von Ihnen zu lesen.



Fazit
Der Ruf des Eisvogels ist für alle, die eine ruhig und bildhaft erzählte Geschichte genießen wollen. Für die Lektüre der Geschichte habe ich mehrere Tage benötigt. Die Zeit des intensiven Lesens und Verinnerlichens ist es allemal wert. Viel Freude an all die Menschen, die Der Ruf des Eisvogels für sich entdecken.

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