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Veröffentlicht am 15.07.2018

Ein Buch, das viele unangenehme, aber wichtige Fragen aufwirft

Ein mögliches Leben
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Hannes Köhler erzählt eine leise Geschichte, die immer wieder kurz von lauten, brutalen Blitzen aufgebrochen wird. Die Handlung spielt auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Gegenwart und der Zeit während des ...

Hannes Köhler erzählt eine leise Geschichte, die immer wieder kurz von lauten, brutalen Blitzen aufgebrochen wird. Die Handlung spielt auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Gegenwart und der Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Vermutlich hat der Krieg in vielen deutschen Familien ähnliche Spuren hinterlassen, wie das in „Ein mögliches Leben“ der Fall ist.

Drei Generationen sind von der Geschichte betroffen: Franz, seine Tochter Barbara und sein Enkel Martin. Sie alle verbindet eine eher oberflächliche Beziehung. Martin weiß wenig über die Vergangenheit seines Großvaters, sie stehen sich freundlich gegenüber, sind sich aber nicht besonders nahe. Sprachlich wird das schnell deutlich, da der Er-Erzähler Franz wiederholt als der „Alte“ bezeichnet, wenn er die Beziehung von Martin oder Barbara zu Franz beschreibt. Für mich drückt das emotionale Distanz aus. Die Familie kommt sich näher und reißt gleichzeitig alte Wunden auf, als Martin und Franz in die USA nach Texas und Utah an Orte aus der Vergangenheit von Franz reisen.

In der zweiten Handlungsebene wird Franz als junger Soldat während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich von US-amerikanischen Truppen gefangen genommen und landet als Kriegsgefangener in einem Lager in Texas. Die Amerikaner behandeln die Deutschen als homogene Truppe und erwarten daher keine großen Probleme. Die meisten von ihnen sind jung und stürzten sich – überzeugt von der Propaganda des Dritten Reiches – in den Krieg. Doch die Erfahrungen im Gefecht und in Gefangenschaft teilen die Kameraden schnell in zwei Gruppen: Die eine glaubt weiterhin fanatisch an den Nationalsozialismus und schwört Hitler ewige Treue. Die andere beginnt am Krieg und am Nationalsozialismus zu zweifeln, verfolgen liberalere Ideale. Da die Nazis im Lager jedoch äußerst gewaltbereit sind und sich bereits beim kleinsten Verdacht gegen die eigenen Kameraden wenden, halten diese ihre Treffen im Geheimen ab und versuchen ihre Zweifel und Gesinnungswechsel zu verbergen. Eine Ausnahme ist der deutsch-amerikanische Gefangene Paul, der sich aus Überzeugung freiwillig für den Kriegseinsatz in der deutschen Armee gemeldet hat. Er ist Franz‘ bester Freund in Gefangenschaft und arbeitet dort als Dolmetscher. Da ihn der Kriegseinsatz völlig desillusioniert hat, unterstützt Paul die Amerikaner heimlich dabei, Nazis unter den Gefangenen zu identifizieren – auch wenn er einigen seiner Kameraden in den Rücken fällt.

Franz hat Angst vor den Konsequenzen dieser Art des Handelns, doch Paul sagt ihm in einem denkwürdigen Moment: „Irgendwann muss man sich einfach entscheiden und die Konsequenzen tragen. Eine Seite. Eine Meinung. Man kann sich nicht immerzu raushalten.“ (S. 166)

Damit wirft er eine spannende moralische Frage auf, die alle Täter und Mitläufer im ganzen Naziregime betrifft (und die auch heute wieder brandaktuell erscheint): Darf man sich aus Angst um die eigene Sicherheit aus aktuellen Konflikten heraushalten, darf man still bleiben und nicht wiedersprechen, obwohl man mit aktuellen Geschehnissen nicht einverstanden ist? Natürlich gibt es darauf keine einfache Antwort. Weder Feigheit noch totale Selbstaufgabe führen in dieser Situation zum Ziel.

Wie kompliziert eine Entscheidung um die eigene (offene, nicht heimliche) Haltung ist, verdeutlicht der Autor an den beiden Freunden: Der risikoscheue, eingeschüchterte Franz steht dem selbstbewussten, von seinem moralisch korrekten Handeln überzeugten Paul gegenüber. Nur einer von beiden verlässt das Lager unversehrt. Als Franz nach Utah verlegt wird, ist er deutlich gereift. Hier folgt er Pauls Vorbild, meldet sich als Übersetzer und unterstützt die Amerikaner.

Ich fand dieses Buch besonders spannend, da es ein komplexes moralisches Thema anspricht. Darf man mit den Tätern Mitleid haben? Kann sich ein Soldat, der im Namen eines Unrechtsregimes Menschen getötet hat, durch moralisches Handeln rehabilitieren?

Ich muss zugeben, dass ich bisher nur wenig über die Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener in den Lagern der Alliierten gewusst habe. Laut dem Roman wurden diese Lager entsprechend der Genfer Konvention geführt. Das steht im starken Kontrast zu den deutschen Konzentrationslagern, wo Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben und sterben mussten. Daher war mein erster Impuls beim Lesen von Franz‘ Erfahrungen zugegebenermaßen: Ist das wirklich wichtig? So viele Menschen haben im Krieg wesentlich Schlimmeres erlebt…

Der Autor beschreibt ausführlich, wie die Gefangenen mit dem Schiff in New York eintreffen, wie sie in Zügen mit Betten (nicht in Viehwagen) die USA durchqueren und wie sie immer ausreichend Nahrungsmittel haben. Einer der Deutschen bricht beim Anblick der vollen Teller gar in Tränen aus. Aber gleichzeitig leben die Männer eben nicht selbstbestimmt, sondern in einem von Stacheldraht eingezäunten Lager. Sie müssen teils bei der Kartoffel- und Baumwollernte harte körperliche Arbeit erledigen. Sie vermissen ihre Familie und Freunde. Sie sind weit weg von Zuhause. Aber eben auch weit weg von einem Kontinent, der vom Krieg zerstört wird. Und keiner der Gefangenen ist unschuldig; alle wurden im Gefecht gefangen genommen.

Hannes Köhler nimmt sich hier einer schwierigen Grauzone an: Menschen können von meisterhaften Manipulatoren zu irrsinnigen Entscheidungen wie einem freiwilligen Einsatz als Soldat verführt werden. Das spricht sie nicht von Schuld und von der Verantwortung für ihre Handlungen frei. Aber Menschen können gleichzeitig die Entscheidung treffen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben und nicht in der Opferrolle zu verharren.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Gesellschaftskritischer Roman nah am Puls der Zeit

Leere Herzen
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Die Welt im Jahr 2025: Die EU zerbricht immer mehr. In Deutschland ist eine nationalistisch geprägte Partei an der Macht, die demokratische Rechte immer weiter einschränkt. Das bedingungslose Grundeinkommen ...

Die Welt im Jahr 2025: Die EU zerbricht immer mehr. In Deutschland ist eine nationalistisch geprägte Partei an der Macht, die demokratische Rechte immer weiter einschränkt. Das bedingungslose Grundeinkommen wurde eingeführt und es gibt eine Bundeszentrale für Leitkultur.

In diesem rauen politischen Klima führen Britta und Babak ihre psychologische Praxis „Die Brücke“, die mit selbstmordgefährdeten Menschen arbeitet. Britta rationalisiert ihre Arbeit als nützlich für die Gesellschaft und sieht sich ganz pragmatisch und gefühllos als einfache Dienstleisterin. Dass einige Aspekte der Brücke dabei höchst unethisch sind, lässt sie kalt. Erst als sie selbst in Gefahr ist, beginnt Britta sich selbst zu hinterfragen.

Juli Zeh entwirft ein schockierendes Szenario, das in der nahen Zukunft spielt und sich teilweise sehr real anfühlt. Sie zeigt, wie wenig demokratische Prinzipien garantiert sein können, die wir eigentlich als selbstverständlich wahrnehmen. Damit wird der Roman hochaktuell. All das packt sie in eine fesselnde Handlung, wobei sie einen dichten Erzählstil verwendet.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Martha tanzt durch brisante Zeiten

Wenn Martha tanzt
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Tom Saller gelingt die Kunst, wichtige historische Ereignisse mit den Einzelschicksalen seiner Protagonisten zu verknüpfen und daraus einen lehrreichen und mitreißenden Roman zu schaffen.

Die Rahmenhandlung ...

Tom Saller gelingt die Kunst, wichtige historische Ereignisse mit den Einzelschicksalen seiner Protagonisten zu verknüpfen und daraus einen lehrreichen und mitreißenden Roman zu schaffen.

Die Rahmenhandlung spielt im Jahr 2001, wo Thomas das Notizbuch seiner Uroma Martha zu einem Millionenpreis versteigert. Martha hielt darin ihre Erlebnisse an der Kunstschule Bauhaus in Weimar sowie nach Kriegsbeginn in ihrer Heimat Pommern fest. Berühmte Bauhaus-Künstler wie Paul Klee und Wassily Kandinsky verewigten sich ebenfalls in dem Büchlein. Die Höchstbietende bleibt zunächst anonym, lädt Thomas dann jedoch zu einem Abendessen voll überraschender Wendungen ein.

In der zweiten Erzählebene begleitet der Leser die junge Martha durch ihr wechselhaftes Leben vor und während des Zweiten Weltkriegs. In Pommern aufgewachsen, geht sie als Schülerin ans Bauhaus, wo sie sich zu einer Pionierin im Ausdruckstanz entwickelt. Kurz vor Kriegsbeginn kehrt Martha jedoch mit ihrer Tochter Hedi in ihre Heimat zurück und erlebt dort Tragisches, bevor sie schließlich fliehen muss.

Die Geschichte bietet eine Menge emotionale, erschreckende und bewegende Momente und lässt sich flüssig lesen. Besonders zu Beginn hat mich die bildreiche Sprache begeistert, die das Geschehen auf ungewöhnliche Weise lebendig werden ließ. Leider hatte ich das Gefühl, dass der Stil mit dem Fortschreiten des Buches etwas nüchterner und weniger inspirierend wurde. Trotzdem halte ich „Wenn Martha tanzt“ für ein empfehlenswertes Buch, das in einigen Passagen besonders aktuell erscheint.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Überraschender Thriller mit kleinen Schwächen

Zu nah
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Nichts ist wie es scheint: Sowohl die Opfer als auch die Verdächtigen in einem Serienmordfall in Dublin verbergen dunkle Geheimnisse. Deswegen erwarten Detective Frankie Sheehan immer wieder Rückschläge, ...

Nichts ist wie es scheint: Sowohl die Opfer als auch die Verdächtigen in einem Serienmordfall in Dublin verbergen dunkle Geheimnisse. Deswegen erwarten Detective Frankie Sheehan immer wieder Rückschläge, Verwirrungen und Überraschungen bei ihren Ermittlungen. „Zu nah“ ist ein wirklich guter, wenn auch kein außergewöhnlich guter Thriller. Die spannende Handlung bietet einige unerwartete Wendungen (inklusive einer ziemlich abrupten Auflösung) und teils komplexe Charaktere. Vor allem Frankie ist tough und kompetent, aber aufgrund einer schrecklichen Erfahrung in ihrer Karriere gleichzeitig traumatisiert. Mir hat die dichte Erzählweise gefallen, jedoch hätte ich mir teilweise ein höheres Erzähltempo gewünscht. Manchmal verliert sich die Handlung in bürokratischen Details. Die Polizisten diskutieren beispielsweise ständig die Finanzierung ihrer Arbeit, aber am Ende führen sie alle benötigten Tests und Aufgaben trotz des Jammerns um das knappe Budget trotzdem durch. Das fand ich etwas irritierend. Abgesehen davon fesselt das Buch meistens und ließ sich leicht lesen.

Veröffentlicht am 15.07.2018

Interessante Ideen, aber zu konventionelle Umsetzung

Höllenjazz in New Orleans
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Die erste Hälfte zieht sich aufgrund der Struktur ziemlich stark hin, während die knappe zweite Hälfte deutlich spannender ausfällt. Insgesamt ist „Höllenjazz“ ein solider und durchaus unterhaltsamer Kriminalroman, ...

Die erste Hälfte zieht sich aufgrund der Struktur ziemlich stark hin, während die knappe zweite Hälfte deutlich spannender ausfällt. Insgesamt ist „Höllenjazz“ ein solider und durchaus unterhaltsamer Kriminalroman, der seinem Hype für meinen Geschmack jedoch nicht ganz gerecht wird.

Musik, Mafia, Mord: Das Romanumfeld bietet enorm viel Potential. Zwischen der verruchten Jazz-Szene in New Orleans, der mysteriösen Mordserie und dem extremen Kulturclash zwischen verschiedenen Einwanderergruppen habe ich eine besondere Atmosphäre erwartet, die vor Spannung und Exzentrizität knistert. Das war leider nicht der Fall. „Höllenjazz“ ist ein ziemlich konventioneller Krimi. Das ist nicht unbedingt schlimm, immerhin lässt er sich sehr flüssig lesen. Für mich hat jedoch das Besondere gefehlt.

Gleich vier Ermittler bearbeiten den Fall um den mysteriösen Axeman:

Detective Lieutnant Michael Talbot leitet die offiziellen Ermittlungen der Polizei und hofft, durch einen Erfolg endlich den Respekt seiner Kollegen zu gewinnen. Ihm zur Seite steht der irische Detective Kerry Behan, der seine eigene Agenda hat.
Der ehemalige Polizist Luca D’Andrea, der gerade seine Gefängnisstrafe wegen Korruption verbüßt hat, soll den Fall für den lokalen Mafiaboss aufklären.
Ida Davis arbeitet als Sekretärin in einer Detektivagentur. Sie ermittelt heimlich selbst im Fall Axeman, um sich ihren Traum, Detektivin zu werden, zu erfüllen. Ida ist mit Lewis Armstrong befreundet und bittet ihn ab und zu um Hilfe.
Der opiumsüchtige Journalist John Riley berichtet über den Fall für die Lokalzeitung.

Viele Personen (Eine vier Seiten lange Personenliste leitet den Roman ein… uff.), viele Motivationen. Durch die ständig wechselnden Erzählperspektiven dauerte es ziemlich lange, bis ich eine Bindung zu den Charakteren aufbauen konnte. Gerade im ersten Drittel war es teilweise schwer, den Überblick zu behalten, wer bereits welche Informationen herausgefunden hatte. Obwohl ich alle vier Perspektiven für sich genommen interessant fand, verloren sie durch die kurzen Kapitel und die ständigen Perspektivwechsel viel von ihrer Wirkung. Wahrscheinlich hätte mir der Roman besser gefallen, wenn sich der Autor auf zwei Ermittlungsansätze konzentriert und diese intensiver ausgebaut hätte.