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Veröffentlicht am 18.09.2020

Mit den Küstenseeschwalben auf Wanderschaft

Zugvögel
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Frannys Vergangenheit hat sie zu einer schwierigen, komplexen und traumatisierten Persönlichkeit heranwachsen lassen, die sich in der nahen Zukunft auf eine Schiffsreise begibt, um den verbliebenen Küstenseeschwalben, ...

Frannys Vergangenheit hat sie zu einer schwierigen, komplexen und traumatisierten Persönlichkeit heranwachsen lassen, die sich in der nahen Zukunft auf eine Schiffsreise begibt, um den verbliebenen Küstenseeschwalben, den letzten ihrer Art, nachzujagen. Diese Schiffspassage ist für Franny ein Übergangsritus – so wie man es aus der Literatur hinlänglich kennt – denn sie stellt sich ihren Dämonen, ergründet ihre eigene Geschichte, wirft Ballast ab und findet eine neue Familie.

Zugvögel ist ein außergewöhnlicher, besonderer, aktueller, intensiver und bestechender Roman. Zwar gibt es auch schwächere (vielleicht auch für den Leser unangenehmere) Etappen in diesem Buch, aber insgesamt macht dieser Roman sehr, sehr viel so richtig, dass es zeitweise fast schwindelerregend ist.

Die Handlung ist in Grundzügen die der klassischen „rites of passage“, des Übergangs zwischen zwei Lebensabschnitten, der durch die Schiffspassage repräsentiert wird und Franny verändert und reifen lässt. Dabei bekommt diese Reise retrospektiv schon fast einen biblischen Charakter, deutliche Assoziationen mit einer umgekehrten Schöpfungsgeschichte oder der Arche Noah sind kaum auszublenden. Und genau das ist es, was diesen Roman dann auch groß macht: er ist keinesfalls Unterhaltungsliteratur, page turner oder annehmbare „Fridays for Future“-Variation, sondern zeigt auf allen Ebenen deutliche literarische Ambitionen, die man in den mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten spüren kann. Dieser Anspruch macht sich auch im Gattungsmix bemerkbar, denn der Roman vereinigt Krimihandlung, Liebesgeschichte, Coming-of-Age-Elemente und vor allem ökologische Gedanken, die ein Lesen des Textes vom Ansatz des Ecocriticism aus unabdingbar machen. Auch wenn die ökologische Kritik den Roman wie ein roter Faden durchzieht, so verzichtet er doch darauf, allzu plump oder mit erhobenem Zeigefinger Missstände hervorzuheben, vielmehr schwebt auf subtile Weise ein melancholischer Klang über allem, was erzählt wird.

Die verschiedenen Genres, die der Roman vereint, werden durch die geschickte Handlungsstruktur gekonnt kombiniert. So erfährt der Leser in zahlreichen Rückblenden, die nicht chronologisch erfolgen, sondern von einer Zeitebene zur nächsten springen und wieder zurück, viel über die Protagonistin Franny, ihre Vergangenheit und ihr Wesen. Allerdings sind diese Einblicke immer kurze Schlaglichter, sodass alles, was Franny betrifft, sehr mysteriös bleibt und man sich nur sehr langsam dem Kern der Geschichte annähert. Verwirrend ist der Roman dennoch nicht, da er von der Schiffsreise zusammengehalten wird und die einzelnen Erinnerungsteile klar als solche markiert werden.

Franny ist dabei zwar der Orientierungs-, aber sicher nicht der Ordnungspunkt. Zu eigenwillig, beladen und nebulös ist sie als Protagonistin und unzuverlässige Erzählerin. Als Figur ist sie jedoch ausgezeichnet konzipiert. Sie ist widersprüchlich und schwierig, unverständlich und durchaus auch unsympathisch, aber gerade deswegen äußerst spannend. Dies gilt auch für ihre „neue“ Familie, die Crew der Saghani, in deren Mitte sie eine Art Heimat findet.

Heimat findet auch der Leser in diesem sprachlich sehr anrührenden, bewegenden und stilistisch konsequenten Roman, der sicherlich auch von seiner herausragenden deutschen Übersetzung profitiert. Der Text ist zeitweise distanziert, fast emotionslos und holt einen dann wieder mit seiner Sprachgewalt, seinem Vermögen, die Kraft des Meeres, des Windes, der Wellen, die Schönheit Irlands und die Einsamkeit der Welt aufs Papier zu bannen, wieder ein. Das ist absolut begeisternd.
Bis auf einen kleinen Makel, der für mich an einer Stelle in einer etwas unausgereiften Handlungskonstruktion im letzten Teil deutlich wird, ist Zugvögel für mich sicher einer der Top-Romane 2020. Er ist einfach besonders, wichtig, packend, ruhelos und poetisch.

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Veröffentlicht am 15.09.2020

Ganz famos!

Der falsche Preuße
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Das war ein Roman, der mir so richtig Spaß gemacht hat, weil hier einfach alles so richtig gut passt. Der Kriminalfall ist wunderbar verzwickt, mit verschiedenen Strängen, Ermittlungsrichtungen, red herrings ...

Das war ein Roman, der mir so richtig Spaß gemacht hat, weil hier einfach alles so richtig gut passt. Der Kriminalfall ist wunderbar verzwickt, mit verschiedenen Strängen, Ermittlungsrichtungen, red herrings und möglichen Motiven und lädt so richtig schön zum Miträtseln ein. Die Ermittlungen laufen auch durchaus mal ins Leere, aber an keiner Stelle entsteht der Eindruck einer überflüssigen Szene – im Gegenteil, jeder Schritt ist eine Mosaikstein zu der absolut schlüssigen und sinnvollen Auflösung am Ende, die überzeugt, gerade weil sie völlig ohne wilde Konstruktionen oder Exkurse in am Rande erwähnte Szenarien auskommt, und darüber hinaus schließlich sogar ein Ende im Stil von Arthur Conan Doyle präsentiert.

Der Roman überzeugt aber nicht nur auf der Handlungsebene, die Figuren sind ebenfalls sehr gut konzipiert. Gryszinski selbst liegt irgendwo zwischen Sherlock Holmes und Watson, er ist durchaus gewitzt und verfügt über ein scharfe Wahrnehmungsgabe, aber es gibt auch immer wieder Situationen, in denen er mit dem Leser auf Augenhöhe ist und sich von dem Fall überfordert fühlt. Es ist wunderbar, eine solche freundliche, gemütliche und dem Essen zugetane Ermittlerfigur durch die Handlung begleiten zu dürfen. Gryszinskis kulinarische Vorlieben sorgen für sehr viel München-Flair und vermenschlichen diesen Protagonisten auf eine sehr angenehme Art. Meine liebste Figur ist jedoch Gryszinskis Gattin Sophie, mit deren Lesebegeisterung ich mich sehr gut identifizieren konnte und deren weitreichende Literaturkenntnisse den Roman um viele treffende Verweise bereichern. Die Romanfiguren sind insgesamt zwar in Grundzügen alle von der Art, wie man sie in einem Krimi alter Schule anzutreffen erwartet, aber die Typen sind hier sehr liebevoll und mit eher ungewöhnlichen Charakteristika ausgestattet, was neben dem großen Wiedererkennungswert im Verlauf der Handlung auch einen sehr hohen Unterhaltungseffekt hat.

Dazu wartet der Roman als historischer Krimi noch mit allerlei sehr gut recherchiertem Kontext auf und bietet spannende Einblicke in Deutschlands Kolonialzeit. Besonders gut – und dazu noch recht neutral - aber ist der culture clash zwischen Bayern und Preußen herausgearbeitet, die Zerrissenheit Gryszinskis zwischen alter und neuer Heimat.

Zu dem großen Lesevergnügen trägt natürlich auch wesentlich der flüssige, aber anspruchsvolle und sehr geschliffene Schreibstil bei. Man merkt sehr rasch: hier schreibt jemand, der es kann. Syntax und Wortwahl sind keinesfalls einfach, aber unglaublich unterhaltend und vor allem absolut stimmig für eine Roman der Ende des 19. Jahrhunderts spielt. Der falsche Preuße atmet sozusagen 1894 und das fin-de-siècle und erweckt die Zeit auf allen Ebenen zum Leben.

Uta Seeburgs Roman ist ein famoser, sehr lesenswerter, äußerst unterhaltsamer und vortrefflich geschriebener Kriminalroman, der durch zahlreiche amüsante Details, verschrobene Figuren, viel Kontextwissen und Flair zu glänzen versteht. Dazu verfügt er noch über eines der dekorativsten Cover unter den derzeitigen Neuerscheinungen. Chapeau!

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Veröffentlicht am 11.09.2020

öde Ehe-/Lebensproblematik

Flüchtig
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Obwohl ich das Cover einzigartig schön und die Hörprobe unglaublich vielversprechend fand, bin ich leider insgesamt enttäuscht von dem Hörbuch und dies bezieht sich sowohl auf die Romanhandlung auch als ...

Obwohl ich das Cover einzigartig schön und die Hörprobe unglaublich vielversprechend fand, bin ich leider insgesamt enttäuscht von dem Hörbuch und dies bezieht sich sowohl auf die Romanhandlung auch als die Lesung.

Die Handlung des Romans ist rasch zusammengefasst: Maria und Herwigs Ehe ist so gut wie am Ende. Nach jahrelanger gegenseitiger Vernachlässigung, verlässt Maria Herwig, weil sie glaubt, dass er mit einer anderen Frau eine Familie gründen will.

So alltäglich diese Ausgangssituation auch sein mag, im Fall der beiden Protagonisten kann dies kaum überzeugen. Denn sowohl Maria als auch Herwig haben im Grunde überhaupt kein Interesse mehr am anderen, leben nur nebeneinander her und nicht nur Herwig, sondern auch Maria hatte Affären. Daher wirkt Marias Entschluss, zu flüchten, in Anbetracht der Situation nicht allzu überzeugend, kann allenfalls im Rahmen ihres schwierigen Verhältnisses zur eigenen unerfüllten Mutterschaft nachvollzogen werden. Was dann folgt, ist ein absolut konventioneller, wenig interessanter und auch uninspirierter Selbstfindungstrip der fünfundfünfzigjährigen Maria, die sich mit Lisa anfreundet, die altersmäßig kaum zu ihr passt, und mit dieser zunächst Teil einer Hippie-Kommune wird. Anschließend folgt ein Roadtrip nach Griechenland, bei dem ein sexuelles Dreiecksverhältnis einen nicht unerheblichen Teil der Bewältigung der Midlife-Crisis ausmacht. Abschließend kommt es noch zu pseudoreligiösen Erleuchtungen. Derweil wandelt Herwig daheim in Österreich auch durch eine ausgemachte Lebenskrise, die im Wesentlichen durch Drogenkonsum abgemildert wird. Im Grunde bekommt der Hörer es also mit zwei abgrundtief frustrierten Menschen zu tun, die in Erkenntnis der Tatsache, dass ihr Leben nicht nur aus dem Ruder gelaufen ist, sondern einfach "nichts" war, versuchen, mit unpassenden, ihrem Alter kaum entsprechenden und leider auch klischeebeladenen Methoden, ein Stück Lebensglück zurückzuerobern. Für den Hörer ist dies nicht nur mühsam und uninteressant, sondern auch in höchstem Maße frustrierend. Beide Figuren sind so öde, ihr Leben von so wenig Bedeutung und Marias Flucht so wenig mysteriös und absolut gewöhnlich, dass man sich die ganze Zeit fragt, was dies alles soll. Hinzu kommen die absolut unerquicklichen, wenig zielführenden und ebenso öden Exkurse mit ihren überladenen Backstories zu zahlreichen Nebenfiguren, die zur Handlung nur Länge beitragen. Der Roman kann sprachlich durchaus überzeugen, auf der Inhaltsebene schafft er es leider nicht.

Caroline Peters schätze ich und höre sie sehr gerne, aber ihre Art der Lesung ist in diesem Fall leider zu uninspiriert und auch gleichbleibend. Die einzige Figur, die zeitweise von ihr wirklich mit Leben gefüllt wird, ist Lisa. Alle anderen Figuren sind stimmlich kaum zu unterscheiden und besonders die Protagonisten stechen in dieser Lesung kaum heraus. Es wirkt alles etwas müde - manchmal auch wie ein oberflächliches Lesen.

Insgesamt konnte mich as Hörbuch leider nicht überzeugen. Zu viele Nebenthemen, keine Spannung, zu wenig Identifikationsmöglichkeiten, zuviel Frust und Bitterkeit, und leider auch nicht besonders ansprechend vorgetragen.

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Veröffentlicht am 09.09.2020

Nicht schön, aber gut

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
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Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante ist eine faszinierende, aber keine schöne, Reise durch die Untiefen weiblichen Heranwachsens mit allem, was dazugehört. Giovanna, genannt Giannì, ...

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante ist eine faszinierende, aber keine schöne, Reise durch die Untiefen weiblichen Heranwachsens mit allem, was dazugehört. Giovanna, genannt Giannì, sucht durch den Kontakt mit anderen Menschen nach sich selbst, verliert und erfindet, missversteht und erkennt sich dabei immer wieder aufs Neue.

Mag ich Giovanna? Das ist die Frage, die mich beschäftigt. Und die Antwort darauf lautet: Nein. Ein klares, kategorisches Nein. Es gibt nichts, was mir an ihr gefällt – so wie ihr selbst eigentlich auch nichts an ihr gefällt. Kann ich Giovanna verstehen? Ja, sehr häufig sogar.

Der Name Elena Ferrante war mir zwar geläufig, gelesen hatte ich aber bisher keinen ihrer Romane, daher habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten, stehe außerhalb des #FerranteForever-Hypes und konnte mich sehr unvoreingenommen daran machen, ihre Protagonistin Giovanna auf dem steinigen Weg durch das Alter von 13-16 zu begleiten. Was Ferrante hier gelungen ist, verdient Hochachtung, denn sie versteht es aufs Überzeugendste, die Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, Ausgeschlossenheit, Neugier, Erkenntnis, Eigenständigkeit und Hilflosigkeit des Heranwachsens einzufangen. Die Verwirrungen der Teenagerzeit, das Desinteresse am Leben, die Enttäuschung gegenüber den Eltern, all dies wird von der Autorin gnadenlos, atemlos und tabulos durch eine ungeschönte Innensicht auf ihre Protagonistin geschildert. Der Leser ist unglaublich nah an Giovanna dran, die sich selbst nur selten schont, auch wenn sie sich selbst nicht immer versteht. Diese sehr authentische Darstellung der Introspektion einer Heranwachsenden ist allerdings nicht der Glanzpunkt des Romans, es ist vielmehr die graduelle Weiterentwicklung der Protagonistin durch diese Einblicke in ihr eigenes Ich. So sieht man sich als Leser am Ende des Roman fast staunend einer erwachseneren Giovanna gegenüber, aber weiß kaum mehr, wie sich diese Reifung eingeschlichen hat – nur, dass sie eben allmählich passiert ist. Giovannas Konzeption und ihre Darstellung sind rundum gelungen. Selten gibt es so realistische, authentische, verstörte und dabei nachvollziehbare Romanfiguren wie sie.

Sprachlich (und auch inhaltlich) gleitet der Roman in dem Wunsch, die unterschiedlichen sozialen Hintergründe überzeugend darzustellen, ab und an ins Vulgäre ab. Derbe Sprache und Handlungsteile sind nicht mein Fall, aber in diesen Roman sind diese Aspekte sinnvoll in die Erzählung integriert und notwendig, um die Frage nach Herkunft und Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die beiden Einflussgrößen, die von Giovannas Heranwachsen prägen, werden durch ihre Tante Vittoria und ihren Vater bzw. den Studenten Roberto repräsentiert. Diese Nebenfiguren polarisieren in gewisser Weise, vor allem, weil sie im Gegensatz zu Giovanna und dadurch, dass die Wahrnehmung dieser Figuren ausschließlich durch Giovannas Ich-Perspektive gefiltert wird, zu simpel, zu einfach sind, wie im Übrigen alle Nebenfiguren des Romans. Giovanna schreibt jeder Figur nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten und Charakteristika zu, sie hinterfragt diese nur sehr begrenzt und ist auch nicht an ihren Motiven interessiert. So tritt durch die wenig komplexe Nebenfigurendarstellung die grenzenlose Ich-Bezogenheit der Heranwachsenden auch erzählerisch zutage – und wird so zu einem kleinen Meisterstück.

Darüber hinaus erfüllt der Roman auch sonst alle Kriterien, die es für einen (weiblichen) Bildungsroman braucht: zahlreiche Mentorenfiguren, an denen sich die Protagonistin ausrichtet (lediglich der Uneigennutz dieser Figuren muss angezweifelt werden), eine Reise, die zu Erkenntnis führt, unerfüllte Liebe, die Diskussion der eigenen, angeblich mangelnden Attraktivität (das ist ja bereits seit Charlotte Brontës Jane Eyre DAS Thema in der weiblichen Entwicklung), das Auflehnen gegen Autorität usw. Dies ist alles sehr überzeugend, aber auch sehr konventionell – fast schon klassisch – aufbereitet, und birgt daher nicht zu viele Überraschungen und auch das immer wieder zentral gestellte Armband kommt als Symbol nicht besonders raffiniert daher – da wäre sicherlich mehr möglich gewesen.

Der Roman hat mich unterhalten, interessiert, einen Lesesog entfaltet, aber hat mich auch manchmal abgestoßen. Am Ende stelle ich fest: ich habe das lügenhafte Leben aufgesogen, aber „schön“ in der reinsten Form des Wortes war es nicht. Ich mag den Roman nicht einmal besonders, aber gut ist er.

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Veröffentlicht am 30.08.2020

Von Gefühlen überwältigt

Die Wahnsinnige
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Der Roman lässt mich betroffen und vielleicht auch in gewisser Weise ohnmächtig zurück. In den vergangenen Tagen habe ich an der Seite von Johanna um Liebe gekämpft, Gefühle unterdrückt, Kinder bekommen, ...

Der Roman lässt mich betroffen und vielleicht auch in gewisser Weise ohnmächtig zurück. In den vergangenen Tagen habe ich an der Seite von Johanna um Liebe gekämpft, Gefühle unterdrückt, Kinder bekommen, Macht verloren, um ein Leben gefürchtet, einen Platz in der Welt eingenommen - und bin darin bestätigt worden, dass die Maßstäbe für einen gesunden Geist von Männern gemacht werden. Immer wieder kommt mir der Satz in den Sinn, der über Johannas ganzer Geschichte steht, und den man ausschließlich Frauen gegenüber verwendet: "Nun sei doch nicht so emotional." Dies ist schlussendlich Johannas einziges Vergehen in dieser fiktionalen Aufarbeitung ihrer Ehe: sie lässt sich von ihren Gefühlen leiten und oftmals beherrschen.

Alexa Hennig von Lange ist eine äußerst intensive Charakterstudie gelungen, die durchgehend die klaustrophobische Abhängigkeit Johannas, ihr Leben in Unfreiheit und und mit Einschränkungen, fühlbar macht. Bereits die erste Seite zeigt diesen Mangel an Selbstbestimmung in klaren, treffenden Worten deutlich auf. Zu keiner Zeit vergisst der Roman, wie verfahren Johannas Situation ist. Jeder noch so kleine Moment, den Johanna als Sieg verbuchen möchte, wird von ihren Feinden zum weiteren Beleg ihres ungesunden Geisteszustands umgedeutet. Johannas begrenzte Aktionsmöglichkeiten werden dadurch verstärkt, dass sie ihrem Mann verfallen ist, und sie ihm ein Kind nach dem anderen schenkt - ein weiterer Umstand, der sich vortrefflich dazu eignet, Johanna einzusperren, zu kontrollieren und einzuschränken.

Neben diesem außerordentlichen Gefühl der Unfreiheit, das der Roman beständig transportiert, erkennt der Leser, dass Johanna vor allem sehr einsam ist. Sie hat keine Freunde und kaum Verbündete, ihre "engste Vertraute" wird ihr von ihrer Mutter zugeteilt und soll Johannas Verhalten in die richtigen Bahnen lenken. Die Beziehung zu ihrem Mann ist emotional einseitig und wenig vertrauensvoll, denn Philipp der Schöne lebt das typische Leben eines Renaissancefürsten mit allem, was dazu gehört. Für ihre Eltern ist sie lediglich ein Machtpfand und die Beziehung zu ihren eigenen Kindern bleibt trotz aller Bemühungen zerrissen. All diese Aspekte sind ausgezeichnet und sehr authentisch in die Erzählung eingebettet. Johanna und ihre Familie sind sind so plastisch dargestellt, dass die Lektüre durchweg von dem Eindruck bestimmt wird, man habe es mit realen Menschen zu tun und nicht nur mit literarischen Figuren, die auf einer historischen Vorlage beruhen. Erzählerisch ist dies sehr stark, weil es dem Roman tatsächlich gelingt, immer wieder auch Distanz zu Johanna aufzubauen. Der Leser zweifelt so ab und an, ob Johanna nicht vielleicht doch einen Hang zum Wahnsinn haben könnte und stellt ihr Verhalten infrage.

Auch wenn die Charakterstudie im Vordergrund steht, so ist der Autorin darüber hinaus ein sehr authentisches Bild der Renaissancezeit gelungen. Man wird mit Johanna in alte, kalte Gemäuer eingesperrt und arbeitet sich an den patriarchalische Machtstrukturen ab. Als Bonus wird der Kleidung der Zeit sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt und so der zeitliche Kontext noch stärker herausgearbeitet. Auch der politische Hintergrund und die dynastischen Verhältnisse finden ihren Platz in diesem Roman. Dies alles hat mir ausgesprochen gut gefallen.

Trotz meines absolut positiven Fazits habe ich zwei Punkte zu bemängeln. Die Autorin neigt zu einigen Redundanzen. Johannas rotes Haar, ihre blasse Haut, Philipps Kinn und noch ein paar weitere Details werden zu gehäuft angesprochen. Dadurch tritt der Erzählfluss etwas auf der Stelle. Und: das Nachwort hätte dringend um den letzten Absatz gekürzt werden müssen. Es ist leider überhaupt nicht gut, wenn ein Autor dem Leser abschließend erklären möchte, wie er den Text hätte verstehen sollen. Ein guter Roman kann und muss für sich selbst sprechen. Dieser könnte es.

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