Bewegende Geschichte
Jos Story„...Je mehr sich Alina von meiner Ehefrau zu meiner Chefin wandelte, desto mehr verlor sie den Respekt vor mir. Wann immer ich ihr sagte, sie solle langsamer machen, weniger Aufträge annehmen, sich mehr ...
„...Je mehr sich Alina von meiner Ehefrau zu meiner Chefin wandelte, desto mehr verlor sie den Respekt vor mir. Wann immer ich ihr sagte, sie solle langsamer machen, weniger Aufträge annehmen, sich mehr um die Kinder kümmern, wurde sie wütend...“
In Joys Ehe ist Eiszeit eingekehrt. Der Wendepunkt kam mit dem Tod von Alinas Vater. Seitdem zählt für Alina nur noch die Schreinerei, die sie von ihrem Vater geerbt hat. Sie überhäuft Joy mit Aufträgen. Die Zwillinge sehen sie meist nur am Abend. Ansonsten werden sie bei Joys Geschwistern geparkt.
Dann eskaliert die Situation. Alina schmeißt Joy aus der Wohnung. Der fährt nach München und baut sich dort ein neues Leben auf. Jedes Wochenende besucht er allerdings seine Söhne. Dabei erfährt er, dass Alina schwanger ist - nicht von ihm.
Die Autorin hat einen tiefgründigen Roman geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen.
Die Protagonisten werden gut charakterisiert. Joy ist ein tief verunsicherter junger Mann. Er steckt voller Schuldgefühle. Die Ursache liegt in seiner Kindheit. In mehreren Kapiteln gibt es einen Rückblick in diese Zeit.
Sein älterer Bruder Alex ist Kinderarzt. Seine Frau arbeitet beim Jugendamt. Alex hatte sein Leben lang ein Auge auf Joy. Er war ihm Ratgeber und Helfer. Deshalb fällt es Joy nach wie vor schwer, Entscheidungen zu fällen, ohne Alex zuvor zu kontaktieren.
Der Schriftstil ist ausgefeilt. Passende Sprachbilder loten die psychischen Tiefen der Protagonisten aus.Joy fühlt sich in München wohl. Er hat Freunde. Seine Arbeit mit behinderten Jugendlichen ist für ihn nicht mehr Pflicht, wie es die in der Schreinerei war, sondern Erfüllung.
Doch dann trifft ihn der nächste Schicksalsschlag. Alina kommt bei einem Autounfall ums Leben. Jetzt ist er nicht nur für seine beiden Jungen verantwortlich, sondern auch für Emma, die vor kurzem geborene Tochter seiner Frau. Zu den stilistischen Höhepunkten gehört das Gespräch mit Robin. Sein Neffe möchte, dass er Emma behält.
„...Ich kann all das, was in den letzten Wochen auf mich eingestürmt ist, nicht von heute auf morgen verarbeiten und die richtigen Entscheidungen treffen. Das kann ich nicht. Das kann niemand...“
Als sich Joy ein Wochenende mit seinen Freunden in München gönnt, wird Emma entführt. Joy gibt sich die Schuld. Seine innere Zerrissenheit nimmt zu. Er verletzt die Menschen, die ihm helfen wollen. Besonders hart trifft es seine Schwester. Sie hatte auf Emma aufgepasst. Es ist immer wieder Alex, der ihn auffängt und ihm gegebenenfalls den Kopf wäscht.
Das Wichtigste, was ihm momentan noch Halt gibt, sind seine Söhne. Die Rückblicke in die Vergangenheit zeigen, dass Joy sonst zu Depression neigt. Er kämpft darum seine Wut, die eigentlich eine Wut gegen sich selbst und seine Schuldgefühle ist, in den Griff zu bekommen.
Und er begreift in dieser Zeit, was ihm Emma bedeutet.
An seltenen Stellen schwingt ein feiner Humor in der Geschichte mit.
„...Ich stand im Bad und kämpfte mit der Krawatte. Ich hasste diese Dinger. Wer immer diese Kulturstricke erfunden hatte, musste meiner Meinung nach geistesgestört gewesen sein. Wer band sich schon selbst einen Strick um den Hals?...“
Das Buch verfügt über einen hohen Spannungsbogen. Der ergibt sich aus der inneren Konstellation der Protagonisten. Letztendlich geht es um die Frage, ob es Joy gelingt, seine Schuldgefühle zu überwinden, ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen und seine Vergangenheit nicht mehr seine Leben bestimmen zu lassen. Es sind die dunklen Stunden, die seine Entwicklung voranbringen. Durch die Hilfe seiner Familie lernt er zu begreifen, was er kann, was er hat und woran er unbedingt festhalten sollte.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es hat mein Interesse an den beiden Büchern geweckt, die das Leben seiner Geschwister zum Inhalt haben.