„...Tonya schloss die Augen und atmete tief ein, weil sie diesen wunderschönen und unvergleichlichen Augenblick zwischen Jungsein und Erwachsenenwerden, zwischen Semesterferien und der nächsten Herausforderung an der Uni, zwischen Sommerende und Herbstanfang in ihrem Herzen verankern wollte...“
Tonya hat einen schönen Tag mit ihren Geschwistern sowie ihren Freund Dennis und dessen Schwester Delia am Bodensee verbracht. Während die anderen zu den Autos aufgebrochen sind, haben Tonya und Dennis noch eine kurze Zeit für sich. Tonyas Gefühle gibt das obige Zitat wieder. Da ahnt sie noch nicht, dass ihre Welt wenige Minuten später zerbrechen wird. Ein unbekannter Mann bedroht sie. Dennis stirbt. Sie kann fliehen.
Mittlerweile sind sieben Jahre vergangen. Tonya hat ihr Studium abgeschlossen. Sie arbeitet als IT – Expertin beim BKA. Als sie heute nach Hause kommt, stellt sie fest, dass bei ihr eingebrochen wurde.
Die Autorin hat ein bewegendes Buch geschrieben. Es liest sich wie ein fesselnder Krimi, berührt dabei aber tiefer gehende Fragen des Lebens.
Die Protagonistin wird gut charakterisiert. Tonya stammt aus einem Pfarrhaushalt. Sie ist das Nesthäkchen der Familie. Sie hat sechs ältere Brüder und eine ältere Schwester. Vehement währt sie sich gegen deren Beschützerverhalten, zumal Thomas, der Älteste, ebenfalls bei der Polizei arbeitet. In Tonyas Gedanken klingt das so:
„...Auf der kurzen Fahrt um den Block wünschte sich Tonya einmal mehr, nicht mehr die Jüngste in der Familie zu sein. Vielleicht würde dann nicht jeder, allen voran Thomas, den Wunsch hegen, sie zu beschützen...“
Auf Beziehungen hat sich Tonya nie mehr eingelassen. Das hat die Ursache in Dennis` Tod. Nie wieder soll jemand sterben, weil er sie beschützen wollte.
Der Einbruch bei Tonya sollte nicht das letzte verstörende Ereignis in den folgenden Tagen und Wochen sein. Plötzlich wird klar, das es schon seit einiger Zeit kurze, eher unauffällige Nadelstiche in ihrem Leben gab. Nun scheint das zu eskalieren. Deshalb wird Jake Sturm nicht nur mit den Ermittlungen betraut, sondern auch damit, ein Auge auf Tonya zu haben. Er hat keine Ahnung, was damit auf ihn zukommt.
Der Schriftstil ist ausgefeilt und abwechslungsreich. Dazu gehört auch ein feiner Humor. Das passiert häufig in Tonyaas Geanken, wie in dem folgenden Fall:
„...Sie würde bis fünf zählen, ehe sie ihrem Bruder einmal kräftig vor das Scheinbein trat, nahm sie sich vor....“
Tonyas Verhalten und ihre, teils kursiv gedruckten Gedanken, ermöglichen mir, einen tiefen Blick in ihre Seele. Trotz aller Verletzungen ist die eine starke Frau, die weiß, was sie will. Eigene Schuldgefühle hindern sie allerdings, innerlich frei zu werden. Jake, der tiefer sieht und sie mag, charakterisiert sie treffend:
„...Sie war wie ihre geliebten Hortensien: Auf den ersten Blick eine geballte Farbenpracht, stark und aufstrebend, doch aus der Nähe betrachtet, bestand sie aus vielen einzelnen filigranen Blütenblättern. Zart, verletzlich und schützenswert...“
Das Zitat ist gleichzeitig ein Beispiel für den gekonnten Umgang der Autorin mit passenden Wörtern und Metaphern.
Typisch Tonya ist auch ihre Antwort auf Jakes Frage, ob es einen Mann in ihrem Leben gibt. Für eine Bewerbung empfiehlt sie ihm:
„...Das Bewerbungsschreiben geht bitte an alle meine Brüder und meine Schwester. Das polizeiliche Führungszeugnis und der Lebenslauf an meine Eltern. Deine Referenzen an mich, allerdings in je zweifacher Ausfertigung....“
Der Ermittlungen, wer sich auf Tonya eingeschossen hat, erweisen sich als langwierig und schwierig. Das liegt nicht zuletzt daran, weil es so gut wie keine verwertbaren Spuren gibt und der Täter sehr irrational agiert. Hinzu kommt, dass die Abteilung, in der Tonya arbeitet, weitgehendst von der Öffentlichkeit abgeschirmt ist. Also bleiben letztendlich drei mögliche Spuren: einer ihrer Kollegen, ein Außenstehender, der durch ihre beruflichen Netzaktivitäten ins Radar der Polizei geriet oder Dennis` Mörder, der nie gefasst wurde.
In zwei kurzen Kapiteln kommt der Täter zu Wort. Dabei ist er als Person nicht fassbar. Es ist von der Person die Rede, kein Name, kein Bild,. Klar wird nur, dass er von seinem Tun selbst nicht überzeugt ist und eine unsagbare Einsamkeit ausstrahlt.
„...Verzweiflung, Wut, Hilflosigkeit und Ärger über sich selbst brach wie eine Lawine über sie herein. [...] Vermutlich war alles, was sie getan hatte, furchtbar falsch gewesen...“
Zu den stilistischen Höhepunkten gehört ein besonderes Gespräch zwischen Jake und Tonya. Kernpunkt dabei ist es, wie unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht, die nicht mithalten können. Leider ist das wesentliche Zitat, das ein Schlaglicht auf unsere Gegenwart wirft, zu lang, um es hier einzufügen.
Das überraschende Ende des Buches lässt sich kurz in einer einzigen Frage zusammenfassen: Wo beginnt Schuld?
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es verfügt über einen hohen Spannungsbogen, erlaubt tiefe Einblicke in die Psyche der Protagonisten und thematisiert Fragen, die unser Zusammenleben bestimmen. Nicht zuletzt geht es um Vergeben und Verzeihen, dem anderen gegenüber, aber auch sich selbst.