Beeindruckendes Debüt
Postkarten an Dora„...Das Trugbild ihrer Hoffnungen, das sie die letzten Monate aufgebaut hatte, zerbarst in tausend Stücke. Die Scherben bohrten sich tief in ihr Herz, stachen hinein, dass der Schmerz sie fast wahnsinnig ...
„...Das Trugbild ihrer Hoffnungen, das sie die letzten Monate aufgebaut hatte, zerbarst in tausend Stücke. Die Scherben bohrten sich tief in ihr Herz, stachen hinein, dass der Schmerz sie fast wahnsinnig machte...“
16 Jahre ist Dora, als sie ihre erste Enttäuschung erlebt. Davon spricht das obige Zitat. Dora möchte Schauspielerin werden. Deshalb lässt sie sich heimlich von Wilhelm recht freizügig fotografieren. Vorbild für sie ist ihre Lieblingsschauspielerin. Sie ahnt nicht, dass Wilhelm die Fotos als Postkarten verkauft. Der Schock sitzt tief, als sie es erfährt.
Hinzu kommt, dass ihre Eltern für ihren Berufswunsch kein Verständnis haben. Doras Vater ist Gymnasiallehrer. Dora gehörte zu den besten Schülern der Schule und soll nun die Ausbildung zur Lehrerin machen. Damit agiert er erstaunlich fortschrittlich, denn Mädchen sollte in der Zeit heiraten und benötigten demzufolge keine höhere Ausbildung. Als ihren Begleiter zum Internat hat der Vater den jungen Offizier Alfred von Nathusius bestimmt. Dora übernachtet im Hause seiner Familie und flieht eines Nachts. Sie möchte nach Amerika und träumt von einer strahlenden Karriere.
Die Autorin hat einen spannenden und abwechslungsreichen Roman geschrieben. Die Geschichte beginnt im Jahre 1905.
Der Schriftstil des Buches ermöglicht ein flottes Lesen. Sehr detailliert werden die gesellschaftlichen Verhältnisse wiedergegeben. Alfred von Nathusius hatte auch andere Träume als eine militärische Laufbahn, aber als dritter Sohn blieb ihm nur diese Möglichkeit. Jack, dritter Sohn eines Earls, ist eine Lebemann, der durch die Welt reist, jede feste Bindung ablehnt und sich gern seiner Verantwortung entzieht.
Auf Doras Reise von Thüringen zum Hause derer von Nathusius lerne ich einige interessante Bahnhofsgebäude kennen. In London werde ich in die dunkelsten Gegenden, aber auch in die Bezirke der Reichen und Schönen geführt. Das farbenprächtige Leben in Argentinien kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dort die moralischen Ansprüche wesentlich stärker sind als in Europa. Schnell ist man abgestempelt.
Dora weiß, was sie will. Über den Weg zu ihrem Ziel aber hat sie sich kaum Gedanken gemacht. Ihr Reisegeld reicht nicht für die Schiffspassage nach Amerika. Glücklicherweise nimmt sie die Ballerina Martha Löwenstein unter ihre Fittichen und bringt sie nach England.
Sehr genau wird das harte Leben einer Schauspielerin dargestellt. Die Rollen sind dünn gesät, die Gage langt nicht zum Leben und nicht zum Sterben und eine Wohnung will auch bezahlt werden. An Doras Seite lerne ich als Leser das Auf und Ab des Berufes kennen. Missgunst und Neid sorgen für Reibereien unter den Akteuren. Es gibt Stunden, in denen bereut Dora ihren Schritt. Doch ein Zurück gibt es nicht. Das verbietet ihr der Stolz. Andererseits ist sie sehr ichbezogen. Was ihr Handeln auf andere für Auswirkungen hat, begreift sie meist erst zu spät.
Gekonnt erzählt die Autorin einige kleine Geschichten im großen Geschehen. Sie liegen in der Vergangenheit der Protagonisten und entwerfen schlagartig ein Bild von den dunklen Seiten des Lebens.
Den Umgang mit Metaphern und die bewusste Verwendung passender Adjektive beherrscht die Autorin sehr gut. Die Gespräche sind aussagekräftig. Emotionen äußern sich nicht nur in Worten, sondern auch in den Taten der Handelnden.
Das Nachwort gibt ausführlich Aufschluss darüber, wie die Autorin auf die Idee für das Buch kam. Die Postkarten, die an vielen Stellen eine Rolle spielen, existieren wirklich. Einige sind im Buch abgebildet.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Zwar habe ich über Dora häufig den Kopf geschüttelt, das ändert aber nichts an der Faszination ihres Lebensbildes.