eine tolle autobiografie
DschungelkindAnfangs habe ich den Eindruck, diese Autobiographie ist noch nicht fertiggeschrieben. Die Autorin befindet sich noch mitten in dem schmerzvollen Prozess der Selbstfindung, schreibt das Buch, um diesem ...
Anfangs habe ich den Eindruck, diese Autobiographie ist noch nicht fertiggeschrieben. Die Autorin befindet sich noch mitten in dem schmerzvollen Prozess der Selbstfindung, schreibt das Buch, um diesem Ziel näherzukommen. Auch das macht es so ehrlich.
Sabine Kuegler wuchs im Dschungel von West-Papua auf. Der Vater brachte den Kindern als Abendgebet den 91. Psalm bei. "Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt..." Diesen Schutz hatten sie auch nötig. Und doch schreibt sie: "Für mich birgt diese Zivilisation mehr Risiken als das Leben im Dschungel."
Spannend wie ein Piratenroman liest sich der Expeditionsbericht über die Suche ihres Vaters nach dem neuentdeckten und gefährlichen Stamm der Fayu. Nachdem diese erlaubt haben, dass er bei ihnen lebt, um ihre Sprache zu lernen, holt er die Familie nach. Die Kinder wachsen nun in einer faszinierenden Paradieswelt auf und lernen den Urwald mit all seinen Gefahren und Schönheiten kennen. Wie selbstverständlich steht das kleine Mädchen eines Tages völlig furchtlos mitten im heftigsten Gewitterregen, weil sie sich so über die beginnende Regenzeit freut. Und doch ist die heile Urwald-Welt nicht wirklich heil. Es gibt Kannibalismus und, was noch schlimmer ist, eine gnadenlose Blutrachetradition. Und mittendrin eine weiße Familie, auf neutralem Boden zwischen den verfeindeten Stämmen, die mit all dem nichts zu tun hat und vielleicht gerade deswegen von den Eingeborenen willkommen geheißen wird. Und hier scheint den Deutschen episch zu gelingen, was so oft von Missionaren versucht wurde und so oft nach hinten losging: ein Segen zu sein. Die traumatisierten, verängstigten Fayu-Kinder lernen von den weißen Kindern Spielen, Lachen.
"Wenn du mithilfst, einen Iyarike zu töten, um meinen Sohn zu rächen, werde ich dir meine Tochter zur Frau geben." Doch zum Erstaunen aller Anwesenden lehnte Nakire ab. Er sagte zum Häuptling, dass er nicht mehr töten wolle, sondern nach der guten Botschaft des weißen Mannes handeln.
Dieser weiße Mann ist Sabine Kueglers Vater. Nach all dem, was verfehlte Missionierung unter den Naturvölkern unserer Welt schon angerichtet hat, liest sich das hier wie ein Märchen. Das Märchen ist wahr. Wenn die Familie Kuegler im West-Papuanesischen Busch irgendetwas konsequent goldrichtig gemacht hat, dann dieses: "Wir haben den Fayu nie gesagt, was sie tun oder lassen sollten und welches Verhalten uns richtig erschien. Denn unsere Eltern hatten uns beigebracht, dass das beste Zeugnis unser eigenes Leben und unser Verhalten war, und nicht Worte, die aus unserem Mund kamen."
Als Sabines Vater eines Tages in Stil und Sprache der Fayu ein Trauerlied improvisiert, weil er seine Frau vermisst, die mit dem kranken Sohn in der Stadt ist, kommen die Fayu aus ihren Hütten und trösten ihn, indem sie mitsingen. Ich habe selten etwas Anrührenderes gelesen.
Es gibt eine Menge Gänsehautmomente in diesem Buch. Und auch der Nervenkitzel kommt nicht zu kurz. Denn ungefährlich ist er nicht, dieser Urwald. Man bekommt einen einmaligen Einblick in das Leben und die Gebräuche der Fayu. Und dann wieder diese Momentaufnahmen einer durchgeknallten deutschen Familie, die im Kanu über den Klihi-Fluss schippert und singt "Wer hat die Kokusnuss, wer hat die Kokusnuss geklaut..." Und mittendrin im Outdoor-survival-kit: die Bibel. Die plötzlich frappierend präzise Ratschläge bereithält. Wunder passieren mehr als einmal. So zum Beispiel im Kapitel "Vergeben lernen". Wappnet euch schon mal mit Taschentüchern, Freunde. Wenn ich nicht schon gläubig wär, dieses Buch hätte es garantiert geschafft... Aber keine Sorge, auch die Lachtränen kommen keinesfalls zu kurz.
Und doch ist es auch ein trauriges Buch, das von einem verlorenen Paradies handelt. Aber es ist auch ein hoffnungsvolles Buch, in dem es um wirkliches Friedenstiften geht. Am Ende ist es dann auch ein Selbstfindungsbuch einer Reisenden zwischen zwei Welten.
Abgrundtief traurig ist Sabines Abschied vom Urwald. Aber sie versteht es meisterhaft, sich und ihre Leser wirkungsvoll mit herrlichen humorvollen Alltagsschilderungen aus ihrem Schweizer Internatsleben zu trösten, unterbrochen und angereichert durch herzerwärmende Briefe ihrer Mutter, die regelmäßig aus dem Urwald berichtet. Doch dann kommt es kurz vor Ende des Buches nochmal knüppeldick. Unerwartet und heftig. Aber lest selbst...
Ein sehr, sehr starkes Buch, das starke Gefühle auslöst. Dringende Leseempfehlung!