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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.08.2024

Der kleine Suchtrupp

Taumeln
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Seit zwei Jahren ist Hannah Auerbach verschwunden. Eine Leiche wurde bisher nie gefunden. Lebt sie noch? Luisa, ihre zwei Jahre jüngere Schwester, geht mit sieben weiteren Personen Woche für Woche auf ...

Seit zwei Jahren ist Hannah Auerbach verschwunden. Eine Leiche wurde bisher nie gefunden. Lebt sie noch? Luisa, ihre zwei Jahre jüngere Schwester, geht mit sieben weiteren Personen Woche für Woche auf die Suche nach der Vermissten in den Wald. Jeder und jede von ihnen trägt dabei ein Päckchen mit sich herum…

„Taumeln“ ist ein Roman von Sina Scherzant.

Die Struktur erschließt sich schnell: Der Roman besteht aus 43 kurzen Kapiteln. Erzählt wird im Präsens aus wechselnder Perspektive, chronologisch, aber mit diversen Rückblicken.

Der Schreibstil ist schnörkellos und unauffällig, zugleich jedoch atmosphärisch und eindringlich. Dialektale Einschübe und umgangssprachliche Ausdrücke machen die Dialoge sehr authentisch.

Das Personal des Romans ist interessant und vielschichtig angelegt. Vor allem Luisa steht im Vordergrund. Deren Eltern und die anderen Mitglieder des Suchtrupps nehmen ebenfalls viel Raum ein. Die Figuren werden lebensnah und mit psychologischer Tiefe.

Die Vermisstensuche bietet ein reizvolles Setting. Auf inhaltlicher Ebene geht es jedoch weniger um das Klären eines Kriminalfalls. Tatsächlich bleibt die Geschichte diesbezüglich Antworten schuldig. Vielmehr ergründet der Roman, was das Verschwinden mit den Angehörigen macht und wem das Mitgefühl gelten sollte. Wann muss man loslassen? Wie schafft man das? Diese Fragen stellt die Geschichte. Verschiedene menschliche Schicksale und Probleme werden darüber hinaus beleuchtet.

Auf den rund 300 Seiten ist die Geschichte nicht durchweg spannend. Das Erzähltempo ist eher langsam und es gibt durchaus ein paar Längen. Dennoch hat mich der Roman gut unterhalten und immer wieder berührt.

Das düstere, etwas kryptische Cover entspricht nicht meinem Geschmack, passt thematisch allerdings gut. Den prägnanten Titel empfinde ich als treffend.

Mein Fazit:
Mit „Taumeln“ hat Sina Scherzant einen tief schürfenden Roman geschrieben, der interessante Fragen aufwirft. Eine bewegende Lektüre.

Veröffentlicht am 05.08.2024

Das Dornröschen und der Prinz

Anna O.
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In der Nacht auf den 30. August 2019 auf einer Farm in Oxfordshire (England): Die Leichen von Douglas Bute (26) und Indira Sharma (25) werden tot in ihren Betten aufgefunden. Die Spuren auf dem blutbeschmierten ...

In der Nacht auf den 30. August 2019 auf einer Farm in Oxfordshire (England): Die Leichen von Douglas Bute (26) und Indira Sharma (25) werden tot in ihren Betten aufgefunden. Die Spuren auf dem blutbeschmierten Tatmesser weisen auf deren beste Freundin Anna Ovigly (25) hin. Ist sie die Täterin? Doch die junge Frau fällt kurz nach den Morden in einen Tiefschlaf und kann keine Auskunft geben. Der Londoner Schlafforscher Dr. Benedict Prince soll die Verdächtige vier Jahre nach der Tat wecken und so die Aufklärung des Falls unterstützen…

„Anna O.“ ist ein Psychothriller von Matthew Blake.

Die durchdachte Struktur des Thrillers ist nicht unkompliziert: Er besteht aus 82 kurzen Kapiteln, die sich über fünf Teile erstrecken. Erzählt wird aus mehreren Perspektiven: der von Ben, Lola, Bloom, Emily und Clara. Dazwischen eingestreut sind Einträge aus Annas Notizbuch, Chatverläufe, E-Mails und Auszüge aus Akten. Die Handlung umfasst insgesamt etwa fünf Jahre und spielt an unterschiedlichen Orten.

In sprachlicher Hinsicht ist der Thriller unspektakulär, aber anschaulich und dank vieler Dialoge lebhaft. Fachbegriffe werden erklärt. Leider sind die verschiedenen Perspektiven stilistisch so ähnlich, dass es nicht authentisch wirkt.

Das Personal ist recht umfangreich, aber dennoch nachvollziehbar. Die Figuren bleiben, dem Genre angemessen, undurchsichtig und geheimnisvoll. Die Charaktere sind recht klischeefrei und interessant angelegt.

Inhaltlich ist der Thriller sehr facettenreich und komplex. Das Resignationssyndrom und die Schlafforschung bilden einen originellen und interessanten Hintergrund. Diesbezüglich wird die fundierte Recherche des Autors immer wieder deutlich. Medizinische, juristische und politische Zusammenhänge werden gut erklärt. Diese Themen machen die Geschichte besonders. Auch aktuelle Bezüge werden aufgegriffen.

Während mich die Grundidee des Thrillers sehr angesprochen hat, empfinde ich die Umsetzung als weniger gelungen. Erstens: Die Story ist inhaltlich überfrachtet. Das sorgt dafür, dass die Auflösung nicht alle losen Fäden wieder aufnehmen kann und alle offenen Fragen beantwortet werden. Zweitens: Zwar kann die Handlung mit mehreren Wendungen punkten und ein Plottwist sorgt zum Ende hin für einen zusätzlichen Überraschungseffekt. Die vielen Zufälle machen das Geschehen allerdings unrealistisch. Zudem ergeben sich mehrere Logikbrüche.

Das kreative Cover und der prägnante Titel, der mit dem Original identisch ist, heben sich auf positive Weise von anderen Büchern des Genres ab.

Mein Fazit:
„Anna O.“ von Matthew Blake ist ein ungewöhnlicher und interessanter Thriller. Trotz inhaltlicher Schwächen in der Umsetzung hat mich die Geschichte gut unterhalten.

Veröffentlicht am 29.07.2024

Der allerletzte Roman

Die Hochstapler
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Dora Frenhofer (73), eine Autorin mit niederländischen Wurzeln, ist lebensmüde. Ihre fortschreitende Vergesslichkeit bereitet ihr Sorge. Auf ihren Abgang bereitet sie schon vor. Doch einen allerletzten ...

Dora Frenhofer (73), eine Autorin mit niederländischen Wurzeln, ist lebensmüde. Ihre fortschreitende Vergesslichkeit bereitet ihr Sorge. Auf ihren Abgang bereitet sie schon vor. Doch einen allerletzten Roman möchte die zuletzt erfolglose und alleinstehende Schriftstellerin noch vor ihrem Tod schreiben…

„Die Hochstapler“ ist ein Episodenroman von Tom Rachman.

Die Struktur des Romans ist gut überschaubar, jedoch geschickt komponiert. Erzählt wird im Präsens aus wechselnden Perspektiven: zweimal aus der Sicht der Autorin, nämlich zu Beginn und am Schluss, sowie jeweils aus der von sieben weiteren Figuren. Zwischen den neun Kapiteln sind Tagebucheinträge eingefügt. Die Handlung spielt an unterschiedlichen Orten auf der Welt und in verschiedenen Jahren.

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman ebenfalls überzeugt. Rachman gelingt es, unterschiedliche Erzählstimmen zu schaffen und dabei jedes Mal seine schriftstellerische Kunstfertigkeit und sprachliche Raffinesse zu beweisen.

Die Figuren sind allesamt originell, interessant, lebensnah und mit psychologischer Tiefe ausgestaltet. Neben der Protagonistin Dora sind die übrigen Hauptcharaktere mehrere Personen, denen die Autorin begegnet ist oder die mit ihr in Beziehung stehen: beispielsweise ihr verschollener Bruder Theo und ihre Tochter Beck. Mit Vergnügen habe ich die Verbindungen untereinander entdeckt.

Auf inhaltlicher Ebene geht es vor allem um das Schreiben und die Arbeit von Autoren. Wie entsteht aus Fakten Fiktion? Wie wird erzählt? Wie funktioniert der Literaturbetrieb? Welche Aufgaben haben Schriftsteller außer dem Schreiben an sich? Wie ticken solche Menschen? Mit teils zynischem, teils humorvollen Blick werden die Branche und ihre Vertreter beleuchtet. Auf vielseitige Weise illustriert die Geschichte das literarische Schaffen. Dabei wird klar: Sie alle sind Schwindler, Betrüger oder Wahrheitsverdreher, sowohl in ihrer Selbstdarstellung als auch in ihren Werken. Dieses Hauptthema greift das auffällige Cover auf. Auch aktuelle Themen und Aspekte wie die Pandemie und Diversität greift der Roman auf.

Auf den rund 400 Seiten sind die einzelnen Episoden sehr abwechslungsreich und unterhaltsam. Sie wühlen auf und schockieren, sie berühren emotional, sie überraschen, sie machen nachdenklich und geben ungewöhnliche Einblicke. Kurzum: Sie bieten all das, was gute Literatur leisten kann.

Nur ein kleines Manko weist die deutsche Ausgabe für mich auf: Die zu wörtliche Übersetzung des Originaltitels („The imposters“) ist nach meiner Ansicht nicht ganz glücklich, da es falsche Assoziationen weckt.

Mein Fazit:
Mit seinem neuen, raffinierten Roman hat Tom Rachman wieder einmal meine hohen Erwartungen erfüllt. „Die Hochstapler“ gehört nicht nur zu meinen Lieblingsromanen des aktuellen Lesejahrs, sondern auch darüber hinaus. Unbedingt lesenswert!

Veröffentlicht am 26.07.2024

Wo Leidenschaft aufhört und Gewalt anfängt

Die schönste Version
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Zuerst war mit Yannick Brenner alles wie Himbeerbrause. Nun sitzt Jella Nowak bei der Polizei, um eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt aufnehmen zu lassen. Und sie muss sich fragen: Wie konnte es so weit ...

Zuerst war mit Yannick Brenner alles wie Himbeerbrause. Nun sitzt Jella Nowak bei der Polizei, um eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt aufnehmen zu lassen. Und sie muss sich fragen: Wie konnte es so weit kommen, dass ihr Freund seine Hände um ihren Hals gelegt und sie gewürgt hat?

„Die schönste Version“ ist der Debütroman von Ruth-Maria Thomas.

Der Roman besteht aus 13 kurzen Kapiteln, die jeweils mehrere Abschnitte umfassen. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Jella, chronologisch, aber mit diversen Rückblicken.

Vor allem in sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman beeindruckt: Starke Bilder, viel Atmosphäre und kurze, aber eindringliche Sätze kennzeichnen den Text. Stilistisch präsentiert sich der Roman zudem wandlungsfähig - dank eingefügter Chats, Zitate usw.

Jella und Yannick, die beiden Hauptfiguren, werden mit psychologischer Tiefe dargestellt. Besonders die Gedanken und Gefühle der Protagonistin werden deutlich. Das Verhalten erscheint schlüssig und lebensnah.

Häusliche und sexualisierte Gewalt in Beziehungen, sowohl in verbaler als auch in körperlicher Form, stehen auf inhaltlicher Ebene im Vordergrund. Ein wichtiges Thema, das leider noch zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Darüber hinaus geht es um Liebe, Freundschaft und Weiteres, das ich nicht vorwegnehmen möchte.

Auf den rund 270 Seiten hat mich die Geschichte immer wieder berührt, zum Teil auch schockiert. Die Handlung ist kurzweilig und durchweg plausibel.

Cover und Titel machen neugierig und passen durchaus, obgleich der Kontrast der zarten Farben und positiven Worte zum teils heftigen Inhalt zunächst verwundert.

Mein Fazit:
Mit „Die schönste Version“ legt Ruth-Maria Thomas ein sprachlich wie inhaltlich überzeugendes Debüt im Bereich Roman hin. Eine empfehlenswerte Lektüre, die bewegt und nachdenklich macht.

Veröffentlicht am 23.07.2024

Wenn ein Bär vor der Haustür steht

Cascadia
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Auf der Insel San Juan an der Grenze der USA zu Kanada: Samantha Arthur (28) lebt mit ihrer Schwester Elena (29) in ärmlichen Verhältnissen. Ihre Mutter ist schwer krank, die Arztkosten sind hoch. Seit ...

Auf der Insel San Juan an der Grenze der USA zu Kanada: Samantha Arthur (28) lebt mit ihrer Schwester Elena (29) in ärmlichen Verhältnissen. Ihre Mutter ist schwer krank, die Arztkosten sind hoch. Seit zehn Jahren wünscht sich Sam eine Zukunft fernab der Insel. Die beiden jungen Frauen wollen ihre Mutter aber nicht im Stich lassen. Da taucht plötzlich ein Bär auf, der sich bis an die Haustür der Familie traut…

„Cascadia“ ist ein Roman von Julia Phillips.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus vielen kurzen Kapiteln. Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge aus der Perspektive von Sam. Die Handlung spielt im nördlichen Teil des US-Bundesstaats Washington.

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman komplett überzeugt. Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch und voller eindrücklicher, bildstarker Beschreibungen.

Mit Sam und Elena stehen zwei junge Frauen im Vordergrund der Geschichte, die ich als durchaus authentisch empfunden habe. Ihre Schwächen, Ecken und Kanten machen sie nicht in jeglichem Aspekt sympathisch, aber lebensnah. Die beiden Charaktere sind psychologisch gut ausgearbeitet. Die übrigen Figuren bleiben recht blass, sind allerdings erfreulicherweise wenig stereotyp dargestellt.

Eine weitere Hauptrolle spielt der Bär. Da ich keine Biologin bin, kenne ich mich mit den Gepflogenheiten dieser Tiere nicht besonders gut aus. Dennoch glaube ich, dass die im Roman geschilderten Verhaltensweisen des Bären nicht sehr realistisch sind. Die recht märchenhaft anmutenden Szenen sind aus meiner Sicht übertrieben.

Aus inhaltlicher Sicht geht es jedoch um weit mehr als das Auftauchen des Bären. Insbesondere die Verbindung zwischen zwei Schwestern und weitere familiäre Verpflichtungen und Verflechtungen sind zentral. Dabei schwingt Gesellschaftskritik mit.

Auf den rund 270 Seiten erzeugt die Geschichte eine subtile Spannung, die sich zunehmend steigert. Die Bedrohung durch den Bären, aber auch diverse Konflikte machen den Roman kurzweilig. Gut gefallen hat mir, dass nicht alle Fragen bis ins kleinste Detail beantwortet werden.

Der deutsche Titel ist weniger passend als das prägnante Original („Bear“). Das Cover gefällt mir dagegen gut.

Mein Fazit:
„Cascadia“ von Julia Phillips ist ein ungewöhnlicher Roman, der mehrere interessante Themen in einer gelungenen Sprache bearbeitet und zum Nachdenken anregt. Eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die damit leben können, wenn sich die Fiktion ein paar Freiheiten erlaubt.