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Veröffentlicht am 07.11.2020

Vaters letzte Reise

Sterben im Sommer
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Es ist im September 2018, als Lázló Bánk mit 85 Jahren stirbt. Bereits mehrere Monate vorher hat die Diagnose der Ärzte sein baldiges Ableben angekündigt: Der Krebs ist bei dem gebürtigen Ungarn zurückgekehrt. ...

Es ist im September 2018, als Lázló Bánk mit 85 Jahren stirbt. Bereits mehrere Monate vorher hat die Diagnose der Ärzte sein baldiges Ableben angekündigt: Der Krebs ist bei dem gebürtigen Ungarn zurückgekehrt. Noch einmal will er einen Sommer am Balaton, in der alten Heimat, verbringen, noch einmal im See schwimmen. Seine Tochter Zsusza begleitet ihn. Doch viele unbeschwerte Tage sind ihnen nicht vergönnt. Noch in der Ferne verschlechtert sich sein Zustand. Eine Odyssee durch verschiedene Kliniken beginnt.

„Sterben im Sommer“ ist ein Memoir von Zsusza Bánk.

Meine Meinung:
Das Buch besteht aus mehr als 70 Abschnitten, die nicht explizit als Kapitel gekennzeichnet sind. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht der Tochter – allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge: Immer wieder gibt es Rückblenden und Zeitsprünge, die recht unvermittelt auftauchen und sich daher nicht ganz einfach nachvollziehen lassen. Eine Ebene umfasst die jüngere Vergangenheit, die die Diagnose, die Leidenszeit, das Sterben und die Monate danach umfasst. Darüber hinaus handelt das Buch auch von der Geschichte von Zsuszas Familie mit Ereignissen vor ihrer Geburt und von ihren eigenen Erinnerungen an frühere Jahrzehnte. Auf mich machte der Aufbau leider bisweilen einen etwas chaotischen Eindruck.

Der Schreibstil ist poetisch und bildhaft. Die Autorin erzählt langsam, aber eindringlich und intensiv, wobei diese Wirkung auch durch häufige Wiederholungen und Betonungen entsteht.

Inhaltlich stehen der Vater und die Beziehung zu ihm im Vordergrund des Buches. Zwei Aspekte nehmen besonders viel Raum ein. Einerseits geht es um die Krankheit, das Leiden und schließlich den Tod. Dabei teilt die Autorin ihre ganz persönlichen Erfahrungen und Emotionen, die sie in dieser Zeit erlebt hat. Sie schildert das Sterben eines geliebten Menschen, die Hilflosigkeit angesichts seines Leidens und die anschließende Trauer. Was geschieht mit uns, wenn wir solche Situationen erleben? Andererseits spielt auch die Familiengeschichte der Bánks in dem Buch eine wichtige Rolle: die Flucht aus Ungarn nach Deutschland im Jahr 1965, die gemeinsamen Aufenthalte in der alten Heimat, die früheren Erinnerungen an den Vater, die Großeltern und andere Verwandte.

Durch die direkte Art des Erzählens und die offenherzigen Schilderungen hat mich das Buch immer wieder berührt und nachdenklich gemacht. In vielen Beschreibungen habe ich eigene Beobachtungen und Gefühle wiedererkannt. Auf 240 Seiten kommt es zwar zu der einen oder anderen Redundanz. Dennoch ist es der Autorin sehr gut gelungen, die unterschiedlichen Facetten der Trauer und des Todes allumfassend darzustellen. Gefallen hat mir auch, dass das Buch nicht düster, sondern hoffnungsvoll und versöhnlich endet.

Ich habe das Buch als ungekürzte Lesung angehört, gesprochen von Lisa Wagner, die als Interpretin mit ihrer akzentuierten Aussprache einen guten Job macht.

Das reduzierte, aber dennoch stimmungsvolle Cover spricht mich sehr an. Auch der prägnante Titel ist treffend gewählt.

Mein Fazit:
„Sterben im Sommer“ von Zsusza Bánk ist keine Wohlfühllektüre, aber ein sehr persönliches, ein offenes und authentisches Buch, das mich bewegen konnte.

Veröffentlicht am 06.11.2020

Das Schweigen der Elterngeneration

Ada
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Im Jahr 1945 in Leipzig geboren, hat Ada als Tochter einer Halbjüdin mit ihrer Mutter Sala einen Teil ihrer Kindheit in Argentinien verbracht. Nun ist sie zurück in Berlin, in einem Nachkriegsdeutschland, ...

Im Jahr 1945 in Leipzig geboren, hat Ada als Tochter einer Halbjüdin mit ihrer Mutter Sala einen Teil ihrer Kindheit in Argentinien verbracht. Nun ist sie zurück in Berlin, in einem Nachkriegsdeutschland, das ihr fremd ist. Sie sehnt sich nach dem Glück einer vollständigen Familie, nach ihrem Vater Otto. Doch es kommt einiges anders…

„Ada“ von Christian Berkel ist ein Roman mit biografischen Bezügen.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus drei Teilen („Erinnern“, „Wiederholen“ und „Durcharbeiten“), die wiederum in zumeist recht kurze Kapitel untergliedert sind. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Ada, allerdings nicht durchgängig chronologisch. Zudem gibt es einige Zeitsprünge, die nicht immer leicht zu verfolgen waren. Ein Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1989 bis 1993, ein weiterer auf den 1950er- und 1960er-Jahren.

Sprachlich hat mir der Roman sehr gut gefallen. Der Schreibstil ist eindringlich und atmosphärisch, schnörkellos, fast nüchtern, aber auch literarisch anspruchsvoll. Dabei sticht hervor, dass der Roman recht dialoglastig ist.

Bei „Ada“ handelt es sich um die Fortsetzung von Berkels Debütroman „Der Apfelbaum“ und den zweiten Teil einer Trilogie. Leider erschließt sich das nicht sofort aus dem Klappentext und der Vermarktung des Titels, sodass ich ohne Kenntnis des Vorgängers in die Lektüre gestartet bin. Das Buch lässt sich zwar auch unabhängig lesen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es für das Verständnis hilfreich gewesen wäre, mit dem ersten Band zu beginnen. Dann hätte sich mir die Geschichte vermutlich leichter erschlossen.

Während es im ersten Teil um Otto und Sala geht, die den realen Eltern des Autors nachempfunden sind, steht dieses Mal die Protagonistin Ada im Vordergrund, die jedoch eine fiktive Person ist. Sie wird als vielschichtiger und interessanter Charakter dargestellt. Allerdings wurde ich mit der Figur nicht so recht warm.

Thematisch ist der Roman vielfältig und tiefgründig. Vor dem historischen Hintergrund von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Mauerbau und 68er-Bewegung geht es um die Suche nach Identität, das Schweigen in der Nachkriegszeit, Schuld und Sehnsucht, Heimat und Zugehörigkeit. Damit bietet die Geschichte immer wieder Gedankenimpulse. Es lassen sich zudem Parallelen zu aktuelleren Geschehnissen ziehen.

Auf rund 400 Seiten entstehen keine Längen. Jedoch konnte mich die Geschichte nicht so sehr fesseln und bewegen wie gehofft.

Das modern anmutende Cover mit dem Frauengesicht spricht mich an und ist treffend gewählt. Dazu passt der wenig originelle, aber sehr prägnante Titel.

Mein Fazit:
„Ada“ von Christian Berkel ist ein gelungener Roman mit einer interessanten Protagonistin. Eine Lektüre, die mich gut unterhalten, aber nicht restlos begeistern konnte.

Veröffentlicht am 03.11.2020

Wenn Dantes Höllenqualen zur Realität werden

Der Todesbruder
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Berlin im Winter 2018/2019: Auf die Kommissare Viktor von Puppe (36) und Kenji Tokugawa (38) wartet in der Hauptstadt ein neuer Fall. Kurz hintereinander werden die Leichen von zwei Männern gefunden, die ...

Berlin im Winter 2018/2019: Auf die Kommissare Viktor von Puppe (36) und Kenji Tokugawa (38) wartet in der Hauptstadt ein neuer Fall. Kurz hintereinander werden die Leichen von zwei Männern gefunden, die auf grausame Weise getötet wurden. Bei dem einen handelt es sich um einen Botschafter des Vatikans, bei dem anderen um einen Jesuitenpater. Die Mordopfer haben nicht nur gemeinsam, dass sie beide aus dem Umfeld der katholischen Kirche kommen, sondern auch die Tatsache, dass an den Tatorten jeweils eine römische Ziffernfolge entdeckt wird. Noch während die Polizisten ermitteln, was es damit auf sich hat und warum die beiden Kirchenmänner sterben mussten, wird klar: Die ersten Morde sind nur der Beginn einer brutalen Serie…

„Der Todesbruder“ ist der dritte und finale Band der Viktor-Puppe-Reihe von Thomas Elbel.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus 14 Kapiteln, die nach den entsprechenden Wochentagen benannt und in verschiedene Abschnitte unterteilt sind. Eingerahmt werden diese durch einen Prolog und einen Epilog, wobei Letzterer in der zehn Jahre entfernten Zukunft spielt. Erzählt wird aus der Sicht unterschiedlicher Personen, unter anderem auch in der Ich-Perspektive aus der Sicht des Täters. Der Aufbau ist sorgfältig durchdacht und funktioniert gut.

Sehr gut gefallen hat mir der Schreibstil, der vor allem in sprachlicher Hinsicht durch Variantenreichtum positiv aus dem Genre hervorsticht. Umgangssprache und derbere Ausdrücke, oft eingebettet in amüsante Dialoge, wechseln sich ab mit einem gehobeneren Wortschatz.

Der aktuelle Fall ist der dritte Band der Trilogie, wobei sich dieser Teil der Reihe auch ohne Vorkenntnisse lesen lässt, weil viele Zusammenhänge kurz erläutert werden. Dennoch empfehle ich, mit den beiden Vorgängerbänden anzufangen.

Wie schon in den ersten zwei Teilen stehen die Ermittler Viktor Puppe, Ken Tokugawa und Begüm Duran vom Berliner LKA im Vordergrund. Die vielschichtigen, ganz unterschiedlichen und interessant angelegten Charaktere ergeben auch dieses Mal ein ungewöhnliches Trio, das wieder einmal viel Sympathie bei mir gewinnen konnte. Die Nebenfiguren sind erstaunlich zahlreich, aber lassen sich dennoch gut zuordnen.

Ein großer Pluspunkt des Thrillers ist die darin investierte Recherchearbeit. Der Geschichte ist immer wieder anzumerken, dass der Autor die in Berlin real existierenden Schauplätze kennt. Zudem ist es ihm, wie schon in Band 1 und 2, gelungen, eine interessante und kreative Hintergrundthematik einzuarbeiten. Dieses Mal spielt vor allem Dantes „Göttliche Komödie“ eine wichtige Rolle. Die Lektüre wird dadurch nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich.

Trotz der mehr als 400 Seiten bleibt die Geschichte fesselnd und temporeich. Die Auflösung des Falls ist schlüssig und nicht so leicht vorhersehbar. Die Handlung ist recht komplex und bietet mehrere Wendungen. Enttäuscht hat mich allerdings der Epilog, der den Schlusspunkt hinter die Reihe setzen soll, für meinen Geschmack aber zu albern und unglaubwürdig ausgefallen ist. Auch das Ausmaß und die Dimensionen der äußerst grausamen Mordserie, die sich nicht für zartbesaitete Leser eignet, war mir zum Ende hin ein wenig zu viel.

Das Cover passt gut zu den Vorgängerbänden und hat einen Bezug zum Inhalt. Auch der prägnante Titel ist treffend gewählt und fügt sich prima in die Reihe.

Mein Fazit:
Mit „Die Todesbotin“ knüpft Thomas Elbel an die Qualität der beiden Vorgängerbände der Thrillerreihe um den Ermittler Viktor Puppe an. Auch der finale Band sorgt für spannende Lesestunden mit intelligenter Unterhaltung und ist damit eine empfehlenswerte Lektüre.

Veröffentlicht am 29.10.2020

Was Familien und Bäume gemeinsam haben

Das Flüstern der Bäume
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Seit ihrer Kindheit liebt Jacinda Greenwood, genannt Jake, die Bäume. Als Vollwaise hat sie den Wald in ihrem Studium erforscht. Und auch jetzt, nachdem viele Bäume dem „Großen Welken“ zum Opfer gefallen ...

Seit ihrer Kindheit liebt Jacinda Greenwood, genannt Jake, die Bäume. Als Vollwaise hat sie den Wald in ihrem Studium erforscht. Und auch jetzt, nachdem viele Bäume dem „Großen Welken“ zum Opfer gefallen sind, widmet sie ihr Leben den grünen Riesen. Als Naturführerin arbeitet sie auf einer Insel und bringt Touristen einen der letzten Primärwälder der Erde nahe. Eines Tages taucht ihr Ex-Verlobter Silas dort auf und behauptet, ein Tagebuch zu besitzen, das die Geheimnisse ihrer Familie ans Licht bringen kann…

„Das Flüstern der Bäume“ ist eine Familiensaga von Michael Christie.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus neun Teilen, die zwischen den Jahren 1908 und 2038 an unterschiedlichen Schauplätzen in Kanada spielen und in verschiedene Kapitel untergliedert sind. Dabei beginnt die Geschichte in der Zukunft und arbeitet sich immer weiter in die Vergangenheit vor, um dann in chronologischer Reihenfolge wieder Schritt für Schritt in Richtung Zukunft zu vorzurücken. Illustriert wird dies am Anfang des Buches mit einem Querschnitt durch einen Stamm und den Jahresringen eines Baumes. Dieser Aufbau ist originell und funktioniert sehr gut.

Der Schreibstil ist atmosphärisch und anschaulich, stellenweise poetisch und bildstark. Zwar schießt der Autor mit einigen wenigen Metaphern ein wenig übers Ziel hinaus. Andere besonders gelungene Passagen machen dies jedoch wieder wett. Erzählt wird jeweils im Präsens aus der Sicht der unterschiedlichen Protagonisten – mit einer Ausnahme: Der Teil, der 1908 spielt, wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht Außenstehender wiedergegeben.

Der Roman erzählt eine Geschichte über vier Generationen, wobei in den einzelnen Teilen jeweils mindestens ein Familienmitglied im Vordergrund steht. Als besonders sympathisch habe ich den jüngsten Spross, die Waldführerin Jacinda, empfunden. Am wenigsten zugänglich ist ihre Großmutter, die Umweltaktivistin Willow. Zugutehalten muss man dem Roman, dass die Charaktere psychologisch gut herausgearbeitet und durchaus vielschichtig angelegt sind.

Das verbindende Element der Familienmitglieder, die sich zum Teil nicht kennen, sind die Bäume, die im Leben aller vier Greenwood-Generationen eine wichtige Rolle spielen. Sie werden immer wieder thematisiert und dienen zudem als Metapher für die Familie an sich. Nebenbei kann man als Leser einiges über Bäume und deren Bedeutung lernen. Mit der düsteren Zukunftsaussicht auf das „Große Welken“, dem massenhaften Absterben, regt die Geschichte zum Nachdenken an. Noch mehr Raum im Roman nehmen allerdings die zwischenmenschlichen Beziehungen ein. Die Botschaft der Geschichte, dass Familie mehr ist als biologische Verwandtschaft, gefällt mir sehr gut.

Trotz der mehr als 550 Seiten bleibt der Roman abwechslungsreich und packend. Er kommt ohne Längen aus. Immer wieder gibt es Überraschungen und unerwartete Wendungen, die für Unterhaltung sorgen. Fragen werden aufgeworfen, neue Fäden gesponnen, kreative Einfälle eingearbeitet. Es entsteht ein komplexes Geflecht an Verbindungen und Zusammenhängen, das Stück für Stück aufgelöst wird. Allerdings gehen mit dem Autor nach dem ersten Drittel die Pferde durch. An einigen Stellen driftet die Geschichte ins Unrealistische ab. Mehrere der Schilderungen wirken übertrieben, manche gar unlogisch, abstrus oder unnötig dramatisch. Unwahrscheinliche Zufälle häufen sich. Zu oft trägt der Autor sehr dick auf, was meinen ansonsten sehr positiven Gesamteindruck des Romans leider zunehmend geschmälert hat.

Die Aufmachung der gebundenen Ausgaben mit dem hübschen Cover und dem Blätter-Motiv, das im Inneren mehrfach aufgegriffen wird, ist optisch sehr ansprechend. Der deutsche Titel klingt stimmungsvoller als das englischsprachige Original („Greenwood“), aber auch weniger prägnant.

Mein Fazit:
„Das Flüstern der Bäume“ von Michael Christie ist ein vielschichtiger Generationenroman, der zwar recht überzogen und wenig realitätsnah daherkommt, dennoch aber zu fesseln und zu unterhalten weiß.

Veröffentlicht am 27.10.2020

Eine Familie in Zeiten des Umbruchs

Die zitternde Welt
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Anatolien am Ende des 19. Jahrhunderts: Hochschwanger mit dem ersten Kind ist die junge Maria, als sie im Osmanischen Reich ankommt. Sie ist auf eigene Faust von Wien aus ihrem Verlobten Wilhelm Paar nachgereist, ...

Anatolien am Ende des 19. Jahrhunderts: Hochschwanger mit dem ersten Kind ist die junge Maria, als sie im Osmanischen Reich ankommt. Sie ist auf eigene Faust von Wien aus ihrem Verlobten Wilhelm Paar nachgereist, der als Ingenieur an dem Bau der Bagdadbahn arbeitet. Es wird nicht das letzte Kind der beiden bleiben, die fernab ihrer Familien eine neue Heimat finden. Doch für Maria, Wilhelm und ihre Nachkommen hält das Schicksal noch mehrere Prüfungen bereit...

„Die zitternde Welt“ ist ein Roman von Tanja Paar.

Meine Meinung:
Der Roman ist in zwei Teile untergliedert, die wiederum aus mehreren Kapiteln und Absätzen bestehen. Im ersten Teil wird aus den Perspektiven von Maria und Wilhelm erzählt, und zwar im Wechsel. Der zweite Teil legt den Fokus auf ihren Sohn Erich, während seine Geschwister und seine Eltern deutlich weniger Raum in der Geschichte einnehmen. Der Roman endet mit einem Epilog. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Immer wieder finden zeitliche Sprünge statt, wobei es keine einheitlichen Zeitangaben gibt, was die Orientierung erschwert. Hilfreich ist dagegen eine abgebildete Landkarte.

Der Schreibstil ist eindringlich, einfühlsam und - dank treffender Metaphern und Vergleiche - anschaulich. Gut gefallen hat mir auch, dass mehrere Briefe eingestreut sind.

Die Protagonisten sind keine typischen Sympathieträger. Marias selbstbewusste und scheinbar kaum erschütterliche Art sowie ihr Mut zu Beginn der Geschichte stechen allerdings positiv hervor. Alle Figuren werden authentisch gezeichnet. Tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt von Maria, Wilhelm und Erich lassen den Leser mit diesen drei Charakteren mitfühlen. Sohn Hans und Tochter Irmgard bleiben leider etwas blass.

Inhaltlich ist die Geschichte trotz der nur knapp 300 Seiten sehr vielschichtig. Es geht um Freiheit und Selbstbestimmung, um Familie und Generationenkonflikte, um Heimat und Identität, um Krieg und Umbrüche.

Nebenbei erfährt der Leser einiges über die politischen und kulturellen Umstände in der heutigen Türkei rund um das Fin de Siècle und die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Gerne habe ich auch vom Bau der Bagdadbahn gelesen, einem Projekt, das mir bis dato fremd war. An mehreren Stellen zeigt sich die fundierte Recherche der Autorin, die gekonnt fiktive Figuren mit realen Begebenheiten verknüpft.

Vor allem im ersten Teil werden mehrere Fragen aufgeworfen, die erst Stück für Stück beantwortet werden. Die Autorin versteht es, mit vagen Andeutungen und Auslassungen viel Spielraum für eigene Interpretationen und Spekulationen zu lassen und Spannung zu erzeugen. Besonders in der ersten Hälfte konnte mich die Geschichte fesseln. Etwas schwächer ist dagegen nach meinem Empfinden der zweite Teil, der durch zu große zeitliche Sprünge stellenweise ein wenig fragmentarisch wirkt und ein paar Längen aufkommen lässt.

Das Cover hat keinen direkten inhaltlichen Bezug, gefällt mir aber dennoch sehr gut. Der Titel ist durchaus treffend formuliert.

Mein Fazit:
„Die zitternde Welt“ von Tanja Paar ist ein historischer Roman, der sich auf erfrischende Art von anderen Büchern des Genres abhebt. Eine ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Lektüre mit nur kleineren Schwächen, die eine ungewöhnliche Familiengeschichte zu bieten hat.