Auf wackeligem Fundament
Die UnbehaustenDer Bundesstaat New Jersey im Osten der USA vor der ersten Amtszeit von Donald Trump: Journalistin Willa Knox und ihr Mann Iano, promovierter Politikwissenschaftler und als Dozent an einer Uni tätig, sind ...
Der Bundesstaat New Jersey im Osten der USA vor der ersten Amtszeit von Donald Trump: Journalistin Willa Knox und ihr Mann Iano, promovierter Politikwissenschaftler und als Dozent an einer Uni tätig, sind ratlos. Sie sind in ihren Fünfzigern und haben ihr Leben lang gearbeitet. Doch sie verfügen nicht über genug finanzielle Mittel, um die dringend notwendigen Reparaturen an ihrem maroden, einsturzgefährdeten Haus, das sie geerbt haben, ausführen zu lassen. Zudem haben sie gerade mehrere Mäuler zu stopfen: den pflegebedürftigen Großvater Nick, den verschuldeten und jüngst verwitweten Sohn Zeke, ihr Enkelkind im Säuglingsalter und ihre Tochter Tig, eine Studienabbrecherin. Was soll aus ihnen allen nur werden? Schon 150 Jahre zuvor steht auf diesem Areal ein wenig stabiles Haus. In ihm lebt Naturkundelehrer Thatcher Greenwood mit seiner Frau, den die Freundschaft zu einer Naturforscherin in Schwierigkeiten bringt…
„Die Unbehausten“ ist ein Roman von Barbara Kingsolver, der im Original bereits 2018 und nun auch in Deutschland erschienen ist.
Erzählt wird die Geschichte in 18 Kapiteln, aus personaler Perspektive und auf zwei Zeit- und Handlungsebenen: Da ist einerseits Willa im gegenwartsnahen Strang und andererseits Thatcher im Jahr 1874. Das offensichtlichste der verbindenden Elemente ist der Wohnort. Beide Ebenen werden abwechselnd erzählt. Als kreativ empfunden habe ich, dass jeweils der letzte Satz eines Kapitels auch die Überschrift des nächsten ist.
Die Figuren sind mit psychologischer Tiefe dargestellt. Das Personal des Romans ist jedoch recht umfangreich. Die Namen der Charaktere muten darüber hinaus zum Teil ungewöhnlich an. Gerade zu Beginn kann es herausfordernd sein, die Charaktere zuzuordnen. Diese Verwirrung klärt sich jedoch schnell.
Neben den fiktiven Figuren greift der Roman auf eine historische Persönlichkeit zurück. Ich fand es sehr interessant, von der Biologin Mary Treat zu erfahren, deren Arbeit leider zu wenig Beachtung findet. Auch sie ist ein Bindeglied zwischen Willa und Thatcher.
Auch was die Themen angeht, ist die Geschichte komplex, facettenreich und tiefgründig. Das Buch ist zugleich Familien-, Gesellschafts- und historischer Roman.
Eine zentrale Rolle spielen gesellschaftliche und politische Umbrüche, vor allem bedenkliche Tendenzen. Diesbezüglich werden Parallelen zwischen dem 19. Jahrhundert und der Neuzeit herausgearbeitet. Obwohl die Autorin zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht alle Auswüchse des Trumpismus kennen konnte, wirkt die Analyse von Populismus und Demagogentum erstaunlich treffend und aktuell.
Der Niedergang der politischen Kultur, Demokratie und toleranten Werte spiegelt sich metaphorisch im verfallenden Haus wider. Mit ihrem Roman rüttelt die Autorin am Fundament des American Dream, das offenbar wackeliger ist als gedacht.
Darüber hinaus ist der Roman als Kritik am Kapitalismus und dessen ausbeuterischen Strukturen zu lesen. Es geht um soziale Ungerechtigkeiten, finanzielle Not, Ausbeutung der Umwelt, Wirtschaftswachstum um jeden Preis und ähnliche Themen.
Der Text, übersetzt von Dirk van Gusteren, brilliert mit lebensnahen, interessanten Dialogen. Davon abgesehen, ist die Sprache allerdings unauffällig.
Auf den rund 600 Seiten enthält die Geschichte erstaunlich wenige Längen und Redundanzen. Obwohl sich die Autorin gerade auf der historischen Ebene einige künstlerische Freiheiten gestattet, wirkt die Handlung stimmig.
Die sparsame Gestaltung des Covers fügt sich gut zu der deutschen Ausgabe von „Demon Copperhead“, besitzt ansonsten aber keine Aussagekraft. Der deutsche Titel, der nahe am englischsprachigen Original („Unsheltered“) bleibt, wirkt sprachlich veraltet, aber passt inhaltlich gut.
Mein Fazit:
Zwar kommt Barbara Kingsolver mit der Geschichte um Willa und Thatcher nicht an ihren preisgekrönten Roman „Demon Copperhead“ heran. Dennoch ist auch „Die Unbehausten“ eine gehaltvolle wie unterhaltsame Lektüre, die ich bedenkenlos weiterempfehlen kann.