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Veröffentlicht am 14.02.2020

Christian Baron - Ein Mann seiner Klasse

Ein Mann seiner Klasse
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Kann man dem scheinbar unvermeidlichen Schicksal ein Schnippchen schlagen und sich auf einen anderen Weg machen als den, der vorgezeichnet scheint? Christian Baron berichtet von seiner Kindheit in Kaiserslautern, ...

Kann man dem scheinbar unvermeidlichen Schicksal ein Schnippchen schlagen und sich auf einen anderen Weg machen als den, der vorgezeichnet scheint? Christian Baron berichtet von seiner Kindheit in Kaiserslautern, wo er mit seinem älteren Bruder und den beiden jüngeren Schwestern aufwuchs. Sie wohnten nicht im allerschlechtesten Stadtteil, zumindest die Adresse verriet nicht, was die Kinder zu Hause erlebten. Der Vater war entweder besoffenen oder gerade dabei, die Mutter zu prügeln, die dann auch früh schon an Krebs verstarb. Mit dem Einkommen als Möbelpacker waren die sechs Mäuler kaum zu stopfen und schon gar nicht, wenn sein Vater gerade mal wieder rausgeflogen war, weil seine Diebstähle aufgeflogen waren. Der Mann vom Jugendamt, der das Sorgerecht nach dem Tod der Mutter und dem Verschwinden des Vaters innehatte, war sich jedenfalls sicher: aus diesen Kindern kann nichts anderes werden als eine weitere Generation asoziale Sozialhilfeempfänger.

„Andere hätten ihre ganze Kindheit über gehofft, er würde verschwinden, dieser trinkende und prügelnde Vater. In meinem Fall war es anders. Mochte er auch gesoffen und geprügelt haben, ich wollte immer, dass er bleibt.“

Christian Baron verdeutlicht in seinem Bericht die Absurdität, die von Außenstehenden nur schwer zu begreifen ist. Obwohl von dem Vater nur wenig Positives kam – das Einkommen hat er in die Kneipe getragen, die Mutter schlug er wegen Nichtigkeiten, die Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern war wohldosiert und überschaubar – war er doch der Vater, das Vorbild, an dem sich gerade die beiden Jungs stark orientierten. Sie wollten werden wie er, ein starker Möbelpacker, der sich bei den Kneipenschlägereien durchsetzen und den Rang unter Seinesgleichen behaupten konnte. Und gleichzeitig regierte immer auch die Angst vor seinem Jähzorn, seiner unkontrollierten Gewalt, die sich an der Familie entlud.

Zwar hat er dem Vater auf dem Sterbebett die Absolution verweigert, mit einem gewissen Abstand jedoch kann er ihn nun mit anderen Augen betrachten und ihn als das sehen, was er war: ein Mann seiner Klasse, der nicht nur nicht aus seiner Haut konnte, sondern schlichtweg das weitergelebt hat, was auch er schon als üblichen Lebenswandel vorgelebt bekam. Die Mutter hätte die Chance gehabt, dem Milieu, in das sie geboren wurde, zu entkommen. Eine zu frühe Schwangerschaft und jugendliche Liebesschwüre haben diese jedoch rasch zunichtegemacht.

Trotz all der Widrigkeiten gelingt dem Jungen der soziale und Bildungsaufstieg. Abitur an der Gesamtschule, später das Studium. Als Journalist öffnet er nun die Tür zu einer Welt, die in unserem reichen Land existiert, deren Existenz man jedoch gerne verdrängt. Kinder wachsen in hochprekären Situationen auf, nicht nur Gewalt und mangelnde Fürsorge, auch ganz profaner Hunger sind für sie Alltag. Benny und Christian erfahren erst im Grundschulalter, dass es auch andere Lebensmodelle gibt, die Familienstruktur sich anders gestalten kann. Die Scham bringt sie zum Schweigen und Wegducken, so dass niemand sieht, wie ihr Leben hinter der verschlossenen Wohnungstür ausschaut.

Édouard Louis hat vor einiger Zeit Aufsehen erregt mit seinen autobiografischen Romanen, die eine ähnliche Geschichte erzählen. Auch er wuchs in einem von Gewalt und Alkohol und vor allem einem toxischen Männlichkeitsbild geprägten Umfeld auf und hat dennoch den Sprung ins Bildungsbürgertum geschafft. Wo Louis distanzierter gegenüber seinem Herkunftsmilieu bleibt, versucht sich Baron gerade durch die Sprache wieder die Nähe herzustellen, der er lange zu entfliehen versuchte. Erfahrungen kann man nicht ganz ablegen und so macht Baron etwas Nützliches aus ihnen: einen Tatsachenbericht, der unter die Haut geht und erschreckt.

Veröffentlicht am 13.02.2020

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo - Der freie Hund

Der freie Hund
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Nachdem er sich mit der sizilianischen Mafia angelegt hat, wird Commissario Antonio Morello zu seiner eigenen Sicherheit nach Venedig versetzt. Die Stadt, die alle in Verzückung versetzt, löst bei ihm ...

Nachdem er sich mit der sizilianischen Mafia angelegt hat, wird Commissario Antonio Morello zu seiner eigenen Sicherheit nach Venedig versetzt. Die Stadt, die alle in Verzückung versetzt, löst bei ihm nicht ansatzweise Begeisterung aus, viel lieber würde er zu Hause seinen Kampf fortsetzen. Auch die neuen Kollegen empfangen ihn mit wenig Freude, was soll ein Süditaliener in ihrer beschaulichen Lagunenstadt? Schon gleich erwartet Morello ein Mord, der ihm die Regeln Venedigs vor Augen führt: Der Spross einer wohlhabenden Familie wird erstochen aufgefunden. Als Anführer einer Studentenbewegung gegen Kreuzfahrtschiffe hat er sich eine Reihe von Feinden gemacht, doch wer wäre ernsthaft in der Lage, ihn für seinen Kampf für die Umwelt der Heimatstadt zu ermorden? Dass nicht nur in Sizilien Politik und Verbrechen eng verbandelt sind, überrascht Morello nicht wirklich, es macht die Aufklärung des Falls aber auch nicht leichter.

Mit seinen Kriminalromanen um den Privatermittler Georg Dengler hat der Autor Wolfgang Schorlau wiederholt bewiesen, dass das vermeintlich seichte Spannungsgenre das Potenzial hat, gesellschaftliche Missstände unterhaltsam aber doch kritisch in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Nie erzählt er nur eine Geschichte, es steckt immer viel mehr dahinter. Nun ein gänzlich neues Setting mit italienischem Ermittler vor Bilderbuchkulisse und noch dazu in großer Konkurrenz zu Donna Leon, die fraglos mit ihrem Commissario Brunetti Venedig eigentlich schon fest in ihrer Hand hält. Der Auftakt hat mir insgesamt gut gefallen, er hat aber noch Luft nach oben gemessen an anderen Romanen Schorlaus.

„Der freie Hund“ greift gleich zwei umstrittene Themen auf. Seit Jahren leidet die Serenissima unter der Masse an Touristen, die sie zu erdrücken droht. Einheimische werden mehr und mehr verdrängt, Mieten sind unbezahlbar und die Geschäfte richten sich mehr an den zahlungskräftigen Besuchern denn an den Bedürfnissen der realen Bewohner aus. Mit den riesigen Kreuzfahrtschifften kommt erschwerend die Belastung Umwelt hinzu, weshalb die Wirtschaftskraft Tourismus zunehmend kritisch gesehen wird. In genau diesen Konflikt platziert Schorlau seinen Mordfall, der zunächst vor allem viel Einblick in die Gesellschaftsstruktur gibt. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr rückt jedoch Morellos ganz eigenes Thema ins Zentrum. Der Glaube, die Mafia operiere nur im Süden des Landes, kann nur einer grenzenlosen Naivität oder einem bewussten Augenverschließen geschuldet sein und so wird schon bald offenkundig, was lange Zeit nur der Commissario sieht: die Lagunenstadt wird ebenso für die Interessen der Clans genutzt, wie auch Palermo.

Die beiden Themen verknüpfen Schorlau und sein italienischer Kollege Caiolo in ihrem Krimi geschickt miteinander. Mehr noch als der eigentliche Mordfall haben mich die Figuren überzeugen können, das Personal der Questura bietet einige interessante Ermittler, die in weiteren Fällen noch spannende Aspekte liefern dürften. Vor allem Morellos kleinkrimineller Freund jedoch wird einem sofort sympathisch, was auch positiv auf den Ermittler abfärbt, der so nicht nur wie ein gesetzestreuer und ernsthafter Commissario wirkt, sondern zeigt, dass er durchaus eine gewisse Grauzone geben kann. Insgesamt eine unterhaltsame Angelegenheit, die für meinen Geschmack allerdings etwas weniger italienische Kulinarik, sondern noch mehr politische Brisanz hätte haben dürfen, das Abdriften zum etwas seichten cosy crime gelingt nämlich gerade noch so.

Veröffentlicht am 08.02.2020

Maria Adolfsson - Tiefer Fall (Doggerland 2)

Doggerland. Tiefer Fall (Ein Doggerland-Krimi 2)
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Eigentlich muss sich Karen Eiken Hornby noch von ihrem letzten Einsatz erholen, als sie der Anruf ihres Chefs mitten in den Weihnachtsfeierlichkeiten erreicht, ist sie jedoch sofort bereit, zurück in den ...

Eigentlich muss sich Karen Eiken Hornby noch von ihrem letzten Einsatz erholen, als sie der Anruf ihres Chefs mitten in den Weihnachtsfeierlichkeiten erreicht, ist sie jedoch sofort bereit, zurück in den Dienst zu kehren und in dem Mordfall auf der nördlichen Doggerland-Insel Noorö zu ermitteln. Ein alter Mann wurde tot zu Fuße der Klippen aufgefunden, die Spuren deuten allerdings klar auf ein Verbrechen hin. Als wenige Tage danach ein zweiter Mord geschieht, steht für Karen außer Frage, dass diese in Zusammenhang mit der örtlichen Whiskybrauerei stehen müssen. Während sie im eiskalten Norden ermittelt, gerät eine ihrer Freundinnen zu Hause in arge Bedrängnis und benötigt dringend ihre Hilfe.

Mit „Tiefer Fall“ setzt die schwedische Autorin Maria Adolfsson die Serie um die Kriminalinspektorin Karen Eiken Hornby und die fiktiven Doggerland Inseln in der Nordsee fort. Wie auch schon im Vorgänger gelingt es ihr, die erfundenen Inseln glaubwürdig und anschaulich zu gestalten, alles wirkt stimmig und wieder einmal stehen Natur und Mensch in einem interessanten Wettkampf miteinander. Der Kriminalfall indes kann mich in der Fortsetzung nicht überzeugen, zu lange braucht der Roman, bis endlich Spannung aufkommt.

Der Roman setzt unmittelbar da an, wo „Fehltritt. Doggerland 1“ aufhörte, die Kenntnis dieser Handlung ist zwar nicht unbedingt vonnöten, hilft aber sehr, um die Figuren und ihre Beziehungen zueinander einordnen zu können. Die traditionell eher gemächliche Weihnachtsstimmung gibt es im Haus der Kriminalinspektorin zwar nicht, aber den Roman legt sie trotzdem ziemlich lahm. Die ersten hundert Seiten schleppen sich geruhsam dahin, ohne dass sie wirklich packen können.

Erschwerend kommt hinzu, dass man bei dem Familienunternehmen um die Destillerie schnell den Überblick verliert, zu viele Namen und Figuren, die kaum auseinanderzuhalten sind und gleichzeitig dröselt die Inspektorin ihren eigenen komplexen Familienstammbaum auf der Insel auf, so dass man irgendwann vollends den Überblick verliert.

Der Fall wird immer wieder durch Nebenhandlungen in den Hintergrund gedrängt, was die Lösung nicht wirklich voranbringt. Mit dem zweiten Mord kommt zwar plötzlich Fahrt auf – die zweite Hälfte ist insgesamt nennenswert überzeugender und spannender – aber da hat das Buch leider schon viel an Punkten eingebüßt. Tatsächlich fand ich den Fall um häuslichen Missbrauch auch weitaus interessanter und überzeugender als die Ermittlungen um die Getöteten.

Nach einem überzeugenden ersten Teil nun leider nur ein mittelmäßiger Nachfolger, der vor allem durch den langatmigen Beginn einiges an Energie gezehrt hat.

Veröffentlicht am 08.02.2020

Gabriella Ullberg Westin - Der Todgeweihte

Der Todgeweihte
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Nächtliche Schüsse im Zentrum des beschaulichen Hudiskvall mit einem Toten und einer Schwerverletzten stellen die Polizei vor Fragezeichen. Im Umfeld der Opfer können Kriminalinspektor Johan Rokka und ...

Nächtliche Schüsse im Zentrum des beschaulichen Hudiskvall mit einem Toten und einer Schwerverletzten stellen die Polizei vor Fragezeichen. Im Umfeld der Opfer können Kriminalinspektor Johan Rokka und seine Kollegen keine Motive für den brutalen Mord finden. Doch dann werden die Ermittlungen für Rokka noch deutlich erschwert als Louise Hojier, die Frau seines Cousins und Mutter der 5-jährigen Silje, auf einer Geschäftsreise verschwindet. Eigentlich darf er in diesem Fall nicht ermitteln, aber das Personal ist knapp und so lässt man ihn nach der top Informatikerin eines erfolgreichen Start-Ups suchen. Dass sein Bruder Daniel unerwartet nach 15 Jahren Funkstille plötzlich vor ihm steht, macht die Lage auch nicht einfacher, denn Daniel ist Morphium-abhängig und offenbar todkrank. Nicht nur Johan Rokkas schwerster, sondern vor allem sein persönlichster Fall, doch wie persönlich dieser wird, ahnt er noch gar nicht...

Die Schwedin Gabriella Ullberg Westin konnte sich mit ihrer Serie um den Inspektor Johan Rokka schnell einen vorderen Platz in der Riege der skandinavischen Krimiautoren sichern. Sein dritter Fall setzt die Reihe überzeugend fort und stellt einmal mehr unter Beweis, dass auch fernab der Hauptstadt spannende Geschichten erzählt werden können. Der Protagonist steht dieses Mal mehr denn je unter Beschluss, blieb er gerade im ersten Band noch etwas undurchschaubar, wird Rokka zunehmend sympathisch und als Figur greifbarer.

Die beiden Fälle scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben, gerade der Anschlag auf die beiden jungen Kinobesucher kommt nicht voran. Dafür wird das Umfeld des Inspektors schnell interessant. Die Nebenhandlung um Amanda ist zwar recht vorhersehbar, die Bedeutung ihrer Täuschung jedoch wird erst später offenkundig. Der Fall ist als ganz persönliche Herausforderung für Johan Rokka angelegt, hätte aber durchaus auch das Potenzial zu einem Wirtschaftskrimi gehabt, diese Chance hat Ullberg Westin leider verschenkt, denn so richtig wird nicht klar, welche Bedeutung für die Sicherheitstechnik Louises Erfindung haben könnte. Dies tut der Spannung jedoch keinen Abbruch, die sich stetig steigert im Laufe der Handlung.

Ein sauber konzipierter Krimi, dessen Fäden langsam zusammenlaufen und am Ende keine Fragen offenlassen. Die Entwicklung der Figuren wird von Fall zu Fall besser, womit Ullberg Westin meine Erwartungen voll erfüllt hat.

Veröffentlicht am 05.02.2020

Nele Pollatschek - Dear Oxbridge

Dear Oxbridge
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Der Brexit ist nach jahrelangem Tauziehen seit 31. Januar vollzogen – Zeit also, auf unsere nicht mehr ganz so geliebten Nachbarn jenseits des Kanals zu blicken. Nele Pollatschek kennt sie gut, die Engländer, ...

Der Brexit ist nach jahrelangem Tauziehen seit 31. Januar vollzogen – Zeit also, auf unsere nicht mehr ganz so geliebten Nachbarn jenseits des Kanals zu blicken. Nele Pollatschek kennt sie gut, die Engländer, wobei das eigentlich nicht ganz stimmt. Mit Studium und Promotion in Cambridge und Oxford – kurz Oxbridge – hat sie Einblick in die Welt der Eliteinstitutionen gewonnen, die die Geschehnisse im Land maßgeblich bestimmen. Kaum ein führender Politiker oder Wirtschaftsboss, der nicht die exklusive Bildung einer der beiden Universitäten genossen hat, der sich nicht diese ganz eigene Mentalität angeeignet hätte, die die Absolventen schon von weitem erkennbar von ihren Mitbürgern unterscheidet. Es ist ein Mikrokosmos, der dort entstanden ist, der jedoch nur wenig mit dem Rest des Landes gemein hat. Da er aber der Nährboden für politische Entscheidungen ist und vor allem all jene, die den Brexit letztlich verantworten, hervorgebracht hat, lohnt der Blick auf diese ganz eigene Welt.

Nele Pollatschek beginnt mit dem schicksalsvollen Tag, dem 23. Juni 2016, der fortan die Nachrichten bestimmen würde. Sie ganz persönlich war von der Entscheidung, die EU zu verlassen betroffen. Nicht so sehr, weil sie als Deutsche nun um ihren Aufenthaltstitel bangen musste, sondern weil sie über Jahre hohe Schulden durch das teure Studium angehäuft hat, die durch den Absturz des Pfunds schlagartig reduziert wurden. Es gab also individuell doch auch ganz positive Aspekte des Brexit. Auf diese Anekdote folgt jedoch der Blick auf die harte Realität: der Weg an die exklusiven Universitäten ist steinig und war auch für sie zunächst von Misserfolg gezeichnet. Endlich angekommen, lernt sie eine völlig andere akademische Welt kennen als die, in der sie in Deutschland lernte. Aber nicht nur das Studium folgte eigenen Gesetzen, auch der Wohnungsmarkt hat seine Tücken. Es folgen eine Reihe von kurzweiligen Episoden über die kleinen aber feinen Unterschiede der beiden Länder, die man nur dann erkennen kann, wenn man lange genug in die fremde Kultur eintaucht und so manches Vorurteil entpuppt sich dann doch eher als weit verbreiteter gesellschaftlicher Wesenszug.

Es sind viele Versuche unternommen worden, das fatale Wahlergebnis jenes Junitages zu erklären. Vielfach wurde der Blick auf den vermeintlich „einfachen“ Bürger gerichtet, der gar nicht verstanden habe, was er eigentlich entscheidet oder gar gleich zu faul war, überhaupt an die Urne zu treten. Insofern ist Nele Pollatscheks Ansatz ein gänzlich anderer, blickt sie doch auf das andere Ende der sozialen Klasse, jenen kleinen Teil, der sich seit Jahrhunderten abschottet und selbst reproduziert. Genau hierin liegt eines der Probleme: es fehlt vielen Absolventen der Bezug zur Realität der sozialen Mittel- und Unterschicht, sie sind jedoch diejenigen, die wesentliche Entscheidungen über deren Alltag treffen. Dies klingt nun viel geißelnder als Pollatschek dies beschreibt, ihr Buch ist keine Klageschrift, sondern eine scharfsinnige Beobachtung, aus der sie schlichtweg die richtigen Schlüsse zieht. Der Brexit ist natürlich ein ganz zentraler Punkt, aber letztlich nur eins von vielen Phänomenen, die die beiden renommierten Universitäten hervorgebracht hat.

„Dear Oxbridge. Liebesbrief an England“ trägt den passenden Untertitel. Trotz all der Marotten der Briten, die sie nerven und die sie erst mühsam erkennen und erlernen musste, liebt sie dieses Land und die kleine Welt von Oxford und Cambridge. Besonders gefallen haben mir der unterhaltsam leichte Plauderton, mit dem sie ihre Erfahrungen schildert, witzig und auch mit einem Schuss Selbstironie schildert sie Erfolg wie Niederlage. Bei all der Kritik an der Exklusivität der Bildung kann sie aber auch überzeugend darlegen, warum genau die Art, wie dort gelehrt wird, sich eben drastisch von anderen Universitäten unterscheidet und diesen letztlich überlegen ist. Sie schließt ihren Bericht mit einem Kapitel über „kindness“, einen im deutschen nur schwer wiederzugebenden Begriff. Aber es ist genau diese Milde oder liebenswerte Güte, die wir in der aktuellen Situation gegenüber unseren britischen, jetzt etwas entfernteren Nachbarn walten lassen sollten.