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Veröffentlicht am 23.11.2019

Anthony Horowitz - James Bond: Ewig und ein Tag

James Bond: Ewig und ein Tag
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007 ist tot. Sein Körper treibt regungslos im Hafen von Marseille. Die Mission lief sensationell schief. Glücklicherweise kann M auf einen jungen Kandidaten zurückgreifen, der sich in New York und Stockholm ...

007 ist tot. Sein Körper treibt regungslos im Hafen von Marseille. Die Mission lief sensationell schief. Glücklicherweise kann M auf einen jungen Kandidaten zurückgreifen, der sich in New York und Stockholm bereits im Einsatz bewährt hat: James Bond. Eine neue Nummer lehnt er ab, er will in die Fußstapfen von 007 treten und in Südfrankreich die Mission zu Ende führen, die seinen Vorgänger das Leben gekostet hat und so dessen Ehre retten. Er weiß, dass mit der korsischen Mafia nicht zu spaßen ist und dass diese vermutlich hinter dem Mord an dem Spion steckt. Doch ihr seltsames Verhalten wirft seit Monaten Fragen auf: warum liefern sie keinen Heroin Nachschub? Was bereiten sie vor? James Bond begibt sich in die Höhle des Löwen, wo noch ein anderer Gegner wartet: die attraktive Sixtine, vor der er sich ebenfalls besser in Acht nehmen sollte.

James Bonds erster Einsatz als Doppelnull-Agent, mit dem er sich die Lizenz zum Töten verdienen soll und der die Vorgeschichte zu „Casino Royale“ liefert. Gewagt von Horowitz, der sich schon zum zweiten Mal mit Hilfe von unveröffentlichtem Material Ian Flemings an die große Agentenfigur wagt. Viele bekannte Bausteine finden sich wieder – das Casino, der Martini, die attraktive Gespielin, der übermächtige Gegner, der gleich die ganze Weltherrschaft an sich reißen will – und für meinen Geschmack hat Horowitz Fleming überzeugend seine Stimme verliehen. Vor allem finde ich die Handlung ganz hervorragend in die Zeit hineingesetzt: es ist nicht der James Bond, den man aus den aktuellen Filmen kennt, sondern der Agent der 1950er Jahre.

Der Kriminalfall bietet einiges an verwirrenden Ansatzpunkten, die einem kräftig miträtseln lassen. Insgesamt ein überzeugender Fall, der glaubwürdig fundiert ist und von höchst individuellen Motiven geleitet wird, die jedoch erst nach und nach offenbart werden. Die volle Punktzahl gibt es jedoch nicht, da mir Bond wiederholt nur schwer vorstellbar agiert, so leichtsinnig könnte und dürfte ein Doppelnull Agent nicht sein. Auch dass Sixtine schnell die Seiten wechselt und von der knallharten Geschäftsfrau zur unterwürfigen Begleiterin an Bonds Seite wird, war mir in der Figurenzeichnung nicht stimmig genug. Mehrfach haben seine Gegner die Möglichkeit, ihn zu töten und tun es nicht – für die brutale Mafia, die andere Agenten schnell hinrichtet nicht ganz einleuchtend.

Nichtsdestotrotz insgesamt tolle Unterhaltung, die problemlos an die Romane Flemings heranreicht.

Veröffentlicht am 12.11.2019

Arnaldur Indriðason - Verborgen im Gletscher

Verborgen im Gletscher
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Nicht nur Gletscher, sondern auch Menschen können Geheimnisse über sehr lange Zeit bewahren. Doch irgendwann kommt der Tag der Wahrheit. Als eine deutsche Touristengruppe einen Toten auf dem Langjökull-Gletscher ...

Nicht nur Gletscher, sondern auch Menschen können Geheimnisse über sehr lange Zeit bewahren. Doch irgendwann kommt der Tag der Wahrheit. Als eine deutsche Touristengruppe einen Toten auf dem Langjökull-Gletscher findet, muss Kommissar Konráð aus dem Ruhestand zurückkehren, denn dieser Fall aus den 1980ern ist bis heute nicht gelöst. Nach so vielen Jahren scheint es keine Hoffnung auf neue Erkenntnisse zu geben, doch plötzlich sprechen die Menschen. Einige wollen sich kurz vor dem Tod das Herz erleichtern, andere denken es ist nun an der Zeit, ihr Wissen zu teilen und plötzlich erscheint der Fall in einem ganz anderen Licht.

Arnaldur Indriðason ist mir als erstes mit seinen Erlendur Romanen begegnet, die später um Bände mit dem jungen Ermittler ergänzt wurden. Auch seine Reihe um Flovent und Thorson, die während der Kriegszeit und Besatzung Islands spielen, konnten mich überzeugen. Nun also Konráð, der in „Verborgen im Gletscher“ sein Debut gibt. Ein ungewöhnlicher Charakter für einen Mordermittler, zum einen, da er schon längst im Ruhestand ist und daher kein offizielles Mandat hat, zum anderen weil er sich als Ein-Mann-Team ganz auf seine Menschenkenntnis verlassen muss, um seinen Fall zu lösen.

Leser, die an nervenzerreißenden Krimis mit grausamen Szenen Spaß haben, werden mit diesem Krimi vermutlich eher hadern. „Verborgen im Gletscher“ geht in eher gemäßigtem Tempo voran, was ganz hervorragend zum Protagonisten passt, der keinerlei Zeit- oder Öffentlichkeitsdruck unterliegt und daher auch nicht in Hektik und wilde Agitation verfällt. Die Weisheit des Alters hält ihn auch davon ab, gleich auf neue Ansätze zu springen. Die Figur trägt die Handlung ganz maßgeblich und ist damit auch der entscheidende Faktor in der Frage, ob man mit der Geschichte etwas anfangen kann. Mir persönlich hätte es bisweilen gerne etwas schneller gehen können, so mancher Dialog war absolut realistisch dargestellt, forderte dadurch aber auch die Geduld des Lesers heraus. Daneben muss Konráð auch mit seinen Dämonen, vorrangig seiner verstorbenen Frau, kämpfen, die ihn nicht loslässt und immer wieder das Denken bestimmt.

Der Kriminalfall selbst ist wieder einmal und erwartungsgemäß komplex und lange Zeit nicht durchschaubar. So unberechenbar die Menschen agieren, so unvorhersehbar entwickelt sich die Ermittlung, die jedoch zu einem sauberen und überzeugenden Ende gebracht wird.

Indriðason konnte schon immer mit starken Figuren punkten, sein aktueller Protagonist hat hier einiges zu bieten, was jedoch leider etwas zu Lasten der Spannung geht. Daher ein Krimi, der eher auf anderen Ebenen punkten kann.

Veröffentlicht am 08.11.2019

David Diop - Nachts ist unser Blut schwarz

Nachts ist unser Blut schwarz
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Sie haben ihre Heimat im Senegal verlassen, um an der Seite ihrer Kolonialherren gegen die Deutschen zu kämpfen. Alfa Ndiaye und sein bester Freund Mademba Diop befolgen gemeinsam die Befehle des Kommandanten, ...

Sie haben ihre Heimat im Senegal verlassen, um an der Seite ihrer Kolonialherren gegen die Deutschen zu kämpfen. Alfa Ndiaye und sein bester Freund Mademba Diop befolgen gemeinsam die Befehle des Kommandanten, liegen gemeinsam im Schützengraben und erleben gemeinsam die Gräuel des Krieges. Sie erleben, wie schnell sich der Hass der Franzosen gegen die Senegalschützen, oder abfällig auch “Schokosoldaten“, richtet, als eine Gruppe sich dem Befehl verweigern. Als Mademba in seinen Armen stirbt, stirbt auch etwas in Alfa. Er wird zu dem, was die Franzosen schon immer in ihm gesehen haben: ein Wilder. Wie besessen stürzt er sich fortan in den Kampf, nicht mehr nur um den Feind zu töten, sondern um diesen auch noch zu verstümmeln. Und mit jedem Tag wächst auch die Angst seiner Kameraden vor ihm.

David Diop schreibt in seinem Debutroman, der 2018 mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet wurde, über eine vielfach verdrängte Episode in der langen und oftmals entsetzlichen französischen Kolonialgeschichte. Dass tausende Schwarzafrikaner auf den Feldern Nordfrankreichs ihr Leben gelassen haben, ist weithin bekannt. Nur was sie dachten, was womöglich in ihnen vorging, hat wenig Beachtung erhalten. Diop verleiht einem eine Stimme und dies gelingt ihm auch in bemerkenswerter Weise, denn er verwebt geschickt das senegalesische Erbe und die Weltsicht seines Protagonisten mit den Kriegserfahrungen in der Ferne.

„Sie haben keine Vorstellung davon, was ich gedacht, was ich getan habe, wozu der Krieg mich gebracht hat.“

Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Krieg den Menschen zum Tier werden lässt und so wird auch Alfa von blinder Wut geleitet, um Rache für den Tod seines Freundes zu nehmen. Erst später erkennt er, was aus ihm geworden ist, was er getan hat. Er ist dem Moment, als man ihm den Wahnsinn attestiert, kann er wieder klar denken. Keiner der Soldaten wird sich von ähnlichen Taten oder Gedanken freisprechen können, sie alle sehen das Schlimmste im Menschen hervortreten und können sich selbst davor nicht schützen.

Das Band der beiden Freunde ist weitaus enger als man das in europäischem Verständnis kennt. Alfa und Mademba sind „Seelenbrüder“ (daher auch der französische Titel des Romans „Frère d’âme“), was sich gegen Ende des Romans, als Alfa in den Zwangsurlaub scheinbar in eine Psychiatrie geschickt wird, offenbart. Hier drehen die Gedanken sich nicht mehr nur um den Krieg, sondern um das, was vor der Abreise noch im Senegal geschah.

Vor allem Diops Sprache reflektiert überzeugend den Seelenzustand des Erzählers. Mantra-artig wiederholt er Sätze, ebenso wie sich seine Gedanken im Kreis drehen und er aus dem Kreislauf nicht auszubrechen vermag. Trotz der oft einfachen Wortwahl, die sehr stark reduziert wirkt, oder vielleicht auch gerade wegen ihr erscheint die afrikanische Sicht auf die Welt umso bildhafter.

Ein kurzer, aber umso eindrucksvoller Roman, aus dem eine starke und laute Stimme spricht.

Veröffentlicht am 25.10.2019

Fred Vargas - Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht
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Ein Wolf geht um im Mercantour, den Seealpen zwischen Frankreich und Italien. Zahlreiche Schafe hat er bereits gerissen und er wird immer mutiger. Als in einem Dörfchen die Schäferin Suzanne ermordet wird, ...

Ein Wolf geht um im Mercantour, den Seealpen zwischen Frankreich und Italien. Zahlreiche Schafe hat er bereits gerissen und er wird immer mutiger. Als in einem Dörfchen die Schäferin Suzanne ermordet wird, nimmt der Fall eine neue Dimension an und Suzannes Adoptivsohn und ihr Wacher wollen die Tat nicht ungesühnt lassen. Inzwischen hat sich nämlich die Überzeugung breitgemacht, dass nicht ein wildes Tier, sondern nur ein Werwolf für die grausamen Tötungen verantwortlich sein kann. Auch die Handwerkerin Camille und ihr kanadischer Freund und Tierforscher Lawrence sind hiervon überzeugt. Nur ein Mann kommt hierfür infrage: der Eigenbrötler Massart war jahrelang verschwunden und tauchte plötzlich wieder in der Gegend auf, ohne jedoch den Bewohnern zu nahe zu kommen. Aus der Ferne beobachtet Kommissar Adamsberg den Fall, nicht nur die Geschichte des Wolfs findet er spannend, er erkennt, dass dies ein Fall für ihn wird, denn er hat Camille wiedererkannt.

Kein typischer Adamsberg Roman aus der Feder von Fred Vargas; der Kommissar bleibt zu lange Randfigur, die eigentliche Handlung spielt sich in den Bergdörfern mit ihren kuriosen Bewohnern ab. Diese sind es auch, die den großen Reiz der Geschichte ausmachen, denn sie sind jede einzelne detailreich gezeichnet und herrlich verschroben: Suzannes afrikanischer Adoptivsohn Soliman, der stets im Wörterbuch liest und Definitionen liefert; Camille mit ihrem „Katalog für handwerkliches Arbeitsgerät“ und ihrer pragmatischen Herangehensweise auch an größte Katastrophen oder der Wacher, der abends mit seinen Schafen telefoniert, um deren psychische Gesundheit zu sichern.

Was die Figuren einerseits liebenswert macht, strengt beim Lesen jedoch auch etwas an. Sie sind die Einsamkeit der Berge gewohnt und neigen eher zu einsilbiger Kommunikation. Das hat Fred Vargas glaubwürdig umgesetzt, macht aber die Dialoge der Figuren zum Teil zu einer echten Herausforderung, da sie vielfach nur aus Fragmenten und abgehackten Sätzen bestehen.

Der Fall letztlich ist clever konstruiert und die Spannung steigert sich stetig. Erst mit Adamsbergs Einmischung lichtet sich langsam der Nebel und der perfide Plan des Mörders kommt zum Vorschein. Viele Indizien und Spuren wurden gelegt, die man jedoch als Leser nicht unmittelbar wahrnimmt und erst spät erkennt, wie präzise alles geplant war und miteinander zusammenhängt. Ein Regionalkrimi der ganz besonderen Art, da er geschickt den mystischen Glauben der naturverbundenen Menschen mit einem Kriminalfall verbindet.

Veröffentlicht am 28.09.2019

Marko Dinić – Die guten Tage

Die guten Tage
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Wien-Belgrad. Die Gastarbeiterstrecke, die täglich mehrfach von auseinanderfallenden Bussen bedient wird. Hier verkehrt auch der Erzähler, der nach zehn Jahren Abwesenheit zurück in seine Heimatstadt muss, ...

Wien-Belgrad. Die Gastarbeiterstrecke, die täglich mehrfach von auseinanderfallenden Bussen bedient wird. Hier verkehrt auch der Erzähler, der nach zehn Jahren Abwesenheit zurück in seine Heimatstadt muss, da seine Großmutter gestorben ist und mit ihr der Ehering begraben werden soll, den er vor vielen Jahren von ihr erhalten hatte. Die unwirkliche Szenerie im Bus, zwischen grölenden Arbeitern und Grenzkontrollen lenkt nur bedingt von dem ab, was plötzlich an Erinnerungen in ihm hochkommt. Die Schulzeit. Der Krieg. Aber auch die Verachtung der Eltern, ihr kleinbürgerliches Leben und die Verehrung der Verbrecher. Er will nicht zurück und wird doch angezogen von dieser Stadt, die der Legende nach 43 Mal niedergebrannt wurde. Was wird ihn dort erwarten? Und was wird die Stadt mit ihm machen?

Marko Dinić‘ Roman über die Zerrissenheit der traumatisierten jugoslawischen Kinder der 90er ist nominiert auf der Shortlist Debüt 2019 des Österreichischen Buchpreises. Thematisch streift er eine ähnliche Problematik wie Ivna Žic, die mit „Die Nachkommende“ auf der Longlist des Preises steht und ebenfalls über die schwierige Rückkehr in das Heimatland schreibt, das früher mal Jugoslawien hieß, oder auch Saša Stanišić, der in „Herkunft“ nach seinen Wurzeln sucht und dafür auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 steht. Eine Generation, die den Krieg erlebte, vor ihm flüchtete und jetzt in der Diaspora lebt – zwar in Sicherheit und Frieden, aber immer auch mit den Folgen der Erlebnisse und den Auswirkungen auf ihre Familien und vor allem die Elterngeneration.

Die zufällig zusammengewürfelte Zweckgemeinschaft des Buses folgt ihren ganz eigenen Regeln, die man kennt und akzeptiert. Sie alle müssen sich der günstigsten Art zu reisen unterwerfen und die Mitfahrer hingeben, egal wie sehr sie grölen und nach Alkohol stinken. Das lebende Klischee, in denen man jedoch auch die Menschen seiner eigenen Familie wiedererkennt. So dauert es nicht lange, bis die Gedanken des Erzählers beginnen zu wandern, zu seiner Kindheit, zu seinen Eltern, zu seiner Heimatstadt und der Schulzeit. Der Krieg hat nicht nur die Stadt in Schutt und Asche gelegt, sondern Gräben geschaffen zwischen den Generationen und zwischen jenen, die geflüchtet sind und jenen, die dablieben. Die größte Angst ist jedoch, dass plötzlich Wehmut aufkommt und die so klare Entscheidung, das Land zu verlassen, von den Emotionen in Frage gestellt wird. Während der Flüchtlingsstrom über die Balkanroute gen Norden drängt, fährt der Erzähler die entgegengesetzte Richtung. Aber egal wie rum er fährt, er kommt nicht an, denn für ihn gibt es keinen Ort mehr, der Heimat sein kann.

Der Autor erschafft eine lebendige Szenerie, sowohl die Geschehnisse im Bus wie auch seine Wanderschaft durch Belgrad kann man förmlich riechen und fühlen. Ebenso eindrücklich werden die widersprüchlichen Gefühle deutlich, kritisch gegenüber Nationalismus und Kriegsverbrecherverehrung und zugleich beschämt ob der Flucht. Obwohl in der alten Heimat nie eine Zukunft lag und die Daheimgebliebenen dies – sofern sie überhaupt noch leben – eindrucksvoll unterstreichen, erscheint plötzlich doch ein großes Fragezeichen über dem eigenen Lebensweg. Eine persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Heimatlandes, die diejenige einer ganzen Generation ist, die jetzt die passenden Worte für das Erlebte findet.