Zwischen Religion und Wissenschaft
Die Schlange von EssexDa ich ein großer von Fan historischen Romanen bin - insbesondere im England des 19. Jahrhunderts - und dieses Buch sogar als bester Roman des Jahres ausgezeichnet wurde, stand es verständlicherweise schon ...
Da ich ein großer von Fan historischen Romanen bin - insbesondere im England des 19. Jahrhunderts - und dieses Buch sogar als bester Roman des Jahres ausgezeichnet wurde, stand es verständlicherweise schon lange auf meiner Leseliste - nun bin ich endlich dazu gekommen ihn zu lesen.
In die Geschichte habe ich mich schnell und gut eingefunden, da der Schreibstil der Autorin etwas poetisches hat. Schnell lernt man alle Hauptfiguren des Romans kennen: die junge Witwe Cora, die sich aus dem Korsett der Ehe befreien will und sich für die Ideen von Darwin und Co. interessiert; ihre Begleiterin und Freundin Martha, überzeugte Sozialmarxistin, die sich die Verbesserung der Wohnsituation der Arbeiterinnen in London zum Projekt gemacht hat; der Chirurg Luke Garrett, der mit seiner Genialität und seinen Experimenten am menschlichen Körper auf Ablehnung stößt; sein treuer Freund George Spencer, ein Vertreter der Oberschicht, der sich nie um Geld sorgen musste, sich nun aber unter Marthas Einfluss zunehmend für seinen Reichtum schämt; und zu guter Letzt, der Dorfpfarrer William, der den Frieden seiner Gemeinde zusehend durch die "Schlange von Essex" bedroht sieht.
Während sich die Geschichten der einzelnen Figuren schnell vernetzen, schwebt über allen das Zeichen der Schlange, welches sich unterschiedliche auslegen lässt: zum einen wäre da die um den Äskulapstab gewundene Schlange, das Symbol der Ärzte. Zum anderen erinnern wir uns an die Schlange aus dem Garten Eden, die Eva verführt, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen; darüberhinaus kann die Schlange auch an den Ur-Zustand der Natur und die Entwicklung der Arten erinnern, an Urwesen, die im darwinistischen England zusammen mit Fossilien gesellschaftsbestimmende Themen sind. Hier treffen Religion und Wissenschaft aufeinander, vertreten vom belesenen Dorfpfarrer William und der Witwe Cora. Zusammen erörtern sie Fragen philosophischer, ethischer und religiöser Art - was oft im Streit der beiden endet. Dazu kommt das "Problem der Schlange von Essex", die das Dorfleben aufrüttelt: Überfällt nachts wirklich eine Schlange das Dorf und raubt Menschenleben? Oder ist die Schlange in Wirklichkeit nur ein Dorn der Angst in unseren Köpfen? Wovor fürchten wir uns? Vor einem strafenden Gott?
Während mich die Geschichte und die Debatten schnell in den Bann gezogen haben und ich das Setting klasse fand, war ich leider bis zum Ende nicht von der körperlichen Anziehung von Cora und Will überzeugt. Ihre geistige Anziehung aufgrund ihrer vielen, gemeinsamen Debatten war offensichtlich. Cora und ihre Gefühle Will und Luke hingegen habe ich leider nie ganz verstanden: ja, sie möchte nicht mehr im Käfig der Ehe gefangen sein. Doch kann man aus diesem Buch doch ganz klar herauslesen, dass die Rolle der Frau im ausgehenden 19.JH nicht mehr einfach nur die einer Ehefrau und Mutter war und sich viele Möglichkeiten für Frauen auftaten (Ja, auch wenn das schwieriger als für Männer war!). So blieb Cora mir leider bis zum Ende hin leicht unsympathisch durch ihre oftmals selbstsüchtige und gedankenlose Art.
Neben den Debatten zu Religion und Wissenschaft greift das Buch jedoch noch eine Vielzahl weiterer Themen auf: die Wohnungsnot der Arbeiterinnen; die Vorstöße im Bereich der Medizin (Chirurgie); die gesellschaftlichen Diskussionen zur Lehre Darwins; die Rolle(n) der Frau. Obwohl ich die meisten dieser Themen sehr spannend finde, waren es zu viele Themen, die hier in einer Geschichte unter einen Hut gepackt wurden; so hatten einige Themen kaum Tiefgang (Medizin und Chirurgie).
Abschließend kann ich sagen, dass sich das Buch gut und flüssig lesen lässt (habe es in zwei Tagen ausgelesen) und interessante Themen aufwirft und diskutiert. Leider kommt man einigen Buchfiguren nicht so nah, die Themenvielfalt ist zu groß und die "Liebesgeschichte" (zunächst platonischer Art) kann leider nicht überzeugen. Schöner Roman für Zwischendurch, aber nicht "Bester Roman des Jahres" - 3,5 Sterne!