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Veröffentlicht am 10.10.2023

Zwischen Bremen und dem Ararat

Auf der Straße heißen wir anders
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Karla blickt zurück auf ihre Kindheit. Eine Kindheit zwischen den grauen Blocks von Nord-Bremen. Sie fühlt sich nie so richtig zugehörig. Auch nicht, als Karlas Cousine Nisa sie unter ihre Fittiche nimmt. ...

Karla blickt zurück auf ihre Kindheit. Eine Kindheit zwischen den grauen Blocks von Nord-Bremen. Sie fühlt sich nie so richtig zugehörig. Auch nicht, als Karlas Cousine Nisa sie unter ihre Fittiche nimmt. Sie ist sogar ein bisschen neidisch auf Nisa, wenn diese von ihrem Urlaub in der Heimat oder ihrem Zuhause berichtet. Zuhause, das ist für Nisa Istanbul. Karla war noch nie in Istanbul, obwohl ihr Vater dort sehr lange gelebt hat. Warum sie in den Ferien mit ihren Eltern nie nach Istanbul reist, versteht Karla nicht. Erst als sie erwachsen ist, fügt sich nach und nach ein Bild ihrer Familie und derer Vergangenheit zusammen. Dieses Bild verschärft sich während einer Reise mit ihrem Vater. Diese führt sie in das Ursprungsland seiner Familie, nach Armenien.

Für mich birgt "Auf der Straße heißen wir anders" viele tiefe und eindrückliche Momente. Angefangen bei dem traurigen Bild wie Karlas Vater und seine Schwester als Erwachsene um ihre eigene Mutter trauern: "Nebeneinander sehen die beiden aus wie Kinder, die ihre Mutter mitten auf der Straße stehen gelassen hat, ohne sich noch einmal umzusehen. Fassungslos, jeder auf seine Weise." und dem ebenso banalen wie aufrichtigem "Ich weiß es leider nicht.", als Karla bei einer Demonstration zu Anerkennung des Völkermords an den Armeniern teilnimmt und sie von Mitdemonstrierenden nach ihrer Familienhistorie befragt wird. Ich habe mir so viele Sätze markiert, die mich einfach direkt getroffen haben und die noch lange nachhallen werden.

Ich kann dieses Buch allen Leser:innen ans Herz legen, welche sich für Familienhistorien und Geschichte interessieren und hoffe, dass diesem Buch noch mehr Beachtung geschenkt wird.
Themen: Familie, Trauer, Politik, Krieg/Genozid
(Zitate auf S. 12 + 190, "Auf der Straße heißen wir anders, Laura Cwiertnia)

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Veröffentlicht am 23.09.2023

Die Geschichte von Miah und Ellie geht weiter

Seit du gegangen bist
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[SPOILER, TW für das Buch:Trauer, Verlust eines geliebten Menschen, Rassismus]
An einem verregneten Tag an der Ostsee ist mir in einer kleinen Buchhandlung durch Zufall "Eine Weile bleibt die Zeit für ...

[SPOILER, TW für das Buch:Trauer, Verlust eines geliebten Menschen, Rassismus]
An einem verregneten Tag an der Ostsee ist mir in einer kleinen Buchhandlung durch Zufall "Eine Weile bleibt die Zeit für uns stehen" in die Hände gefallen. Ich habe dieses Buch innerhalb weniger Stunden gelesen und war sofort gebannt von Miah und Ellies Geschichte.
Nun habe ich vom Bloggerportal den zweiten Teil zugeschickt bekommen und was soll ich sagen?! Jacqueline Woodson hat es wieder geschafft. Sie hat mich zum Staunen und Weinen gebracht.

In "Seit du gegangen bist" kämpft Ellie mit dem Verlust ihrer großen Liebe Miah und ihrer Trauer. Sie sucht Trost in Gesprächen mit Miahs Mutter Nelia und Carlton, Miahs bestem Freund. Norman, Miahs Vater vermisst seinen Sohn auch sehr und denkt oft an vergangene Ausflüge mit ihm. Das gemeinsame Vermissen des geliebten Kindes bringt ihn wieder ein Stück näher zu seiner Ex-Frau Nelia. Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren? Was macht diese Erfahrung mit den "Hinterbliebenen"?

Jacqueline Woodson schafft es immer wieder die richtigen Worte dafür zu finden, was oft unaussprechlich erscheint. In dem Jugendroman stellt sie den Weg von Trauer zur Heilung einfühlsam und klar dar. So beschreibt bspw. Ellie ihre Trauer so: [...]"ich habe das Gefühl, als wäre die Welt stehen geblieben. Und als wäre ich abgesprungen ... und dann fing sie wieder an, sich zu drehen, aber zu schnell für mich und ich konnte nicht mehr aufspringen. Ich fühle mich, als versuchte ich immer noch ... im Leben wieder Fuß zu fassen." ("Seit du gegangen bist", S. 104) Anhand dieser klaren und empathischen Sprache gelingt es diesem Buch, auf seinen knappen 142 Seiten, die Leser*innen auf eine ganz besondere Art abzuholen. Es zeigt, dass jede Person anders mit ihrer Trauer umgeht und dass diese auch einfach "sein darf". Obwohl die Autorin hier ein Jugendbuch mit einem eigentlich sehr schweren Thema geschrieben hat, steckt darin so viel Hoffnung und Lebensmut.
Ich spreche eine große Leseempfehlung für diese eindrückliche Dilogie aus.

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Veröffentlicht am 09.09.2023

Identitätssuche auf zwei Kontinenten

Terafik
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Nilufar lebt mit ihrer Freundin in Berlin und studiert Psychologie, sie ist die Tochter einer deutschen Mutter, ihr Vater stammt aus Iran. Als Nilufar nun das erste Mal in ihrem Erwachsenenalter nach Iran ...

Nilufar lebt mit ihrer Freundin in Berlin und studiert Psychologie, sie ist die Tochter einer deutschen Mutter, ihr Vater stammt aus Iran. Als Nilufar nun das erste Mal in ihrem Erwachsenenalter nach Iran reist, um ihre Familie väterlicherseits zu besuchen, sieht sie sich mit einer Kultur und Gesellschaft konfrontiert, die ihr teils fremd vorkommt.

Zur Vorbereitung ihrer Reise schaut sie sich die Beziehungen ihres Vaters, ihrer Onkel, Tanten und Cousinen an, welche sie auf einem Flipchartbogen festgehalten hat. Dieser dominiert von Linien – gezackt und gekreuzt. Nilufar hält dort fest, wer mit wem gut zurechtkommt, welche Verwandten sprechen, auch aufgrund ihrer politischen Einstellungen, nicht mehr miteinander u.s.w.
Sie schaut den Bogen an und erinnert sich an den letzten Besuch ihres Vaters in Berlin vor fünf Jahren. So versucht sie sich auf eine Reise vorzubereiten, für die sie sich eigentlich noch nicht bereit genug fühlt. Andererseits kann sie den Gedanken nicht mehr zur Seite schieben, "dieses Land" einmal mit eigenen Augen zu sehen.

Als Nilufar dann endlich iranischen Boden betritt, wird sie von ihrer Familie herzlich aufgenommen, welche ihr doch irgendwie so fremd ist. Sie ist dankbar für die Zuneigung dieser Menschen, aber ihr ist auch bewusst, dass sie sich ab dem Zeitpunkt ihrer Landung, in der "Bubble" der Familie befindet und auf sie angewiesen ist. Nilufar versteht Persisch besser, als sie es spricht. Dennoch ist es nicht genug. Sie ist auf die Übersetzungen durch ihre Cousine Narges angewiesen. Und auch mit der Erkundung dieses, für sie neuen Landes, ist es nicht so einfach. In Berlin fühlt sie sich unbekümmert und geht auch im Dunkeln auf die Straße. In Iran traut sie sich das nicht, aufgrund der vielen "Vorschriften und Schwierigkeiten", von denen ihr Vater ihr immer wieder am Telefon erzählt.
Nilufar kommt nicht umhin, sich mit der gleichaltrigen Narges zu vergleichen. Mit Anfang 30 lebt diese noch bei ihren Eltern, obwohl sie eine erfolgreiche Bauingenieurin ist und ihr eigenes Team leitet. Für Nilufar ist das undenkbar, sie liebt ihr unabhängiges Leben in Berlin.

Und so lassen sie diese Vergleiche zwischen Deutschland und Iran einfach nicht los. Sie begibt sich auf dieser Reise in eine Identitätssuche zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen. Wie wird diese Reise Nilufar verändern und wie werden sich die Beziehungen zu den einzelnen Familienmitgliedern entwickeln?

"Terafik" von Nilufar Karkhiran Khozani hat mich so sehr bereichert. Die Autorin spricht dabei so unglaublich viele verschiedene Themen an, dass sie kaum alle in diesem 255-seitigen Buch genug Platz finden. Liebe, Freundschaft, Familie, kulturelle Identität, Politik, Beziehungen, Feminismus, etc. - Ich hätte so gerne noch mehr über Narges und Nanejun erfahren. Das einzige Familienmitglied, welches wirklich eine große Bühne bekommt, ist Nilufar´s Vater. Die Leserinnen erfahren über ihn so viel und doch bleiben so viele Dinge, gerade zwischen Nilufar und ihm, unausgesprochen. Gerade in dieser Beziehung wird nochmal deutlich, welche Ambivalenz in Nilufar herrscht. Fühlt sie sich als Iranerin oder Deutsche?

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Durch Nilufars Augen konnte ich ein "kleines Stück" Iran und traditionelle Familienstrukturen kennenlernen. Das Buch hat mir aber auch Denkanreize in ganz andere Bereiche gegeben. Ein kleines Beispiel: Ich wurde mit meiner eigenen Ignoranz konfrontiert, weil ich immer davon ausgegangen bin, dass vor Iran stets ein Artikel eingesetzt wird. Und da ich dies auch schon so oft in anderen deutschsprachigen Publikationen gelesen habe, frage ich mich, wie das bei einem so großen Land sein kann. Meine Gedanken hierzu, lass ich noch ganz sicher eine Weile nachwirken.
"Terafik" von Nilufar Karkhiran Khozani kann ich jeder
r Leser*in ans Herz legen, welche sich für hybride Identitäten interessieren und sich gerne mit familiären Beziehungsgeflechten, seien sie noch so kompliziert, auseinandersetzen.

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Veröffentlicht am 19.08.2023

Ein autofiktionales Portrait

Maud Martha
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Maud Martha wächst in den 1940ern in Chicago auf und träumt von einem angenehmen Leben in New York. Sie überlegt, wie sie ihre erste eigene Wohnung einrichtet. Sie verliebt sich und denkt an ein gemeinsames ...

Maud Martha wächst in den 1940ern in Chicago auf und träumt von einem angenehmen Leben in New York. Sie überlegt, wie sie ihre erste eigene Wohnung einrichtet. Sie verliebt sich und denkt an ein gemeinsames Leben mit ihrem zukünftigen Mann. Sie richtet ihre erste eigene Wohnung ein. Aber nicht so wie in ihren Träumen. Die Wohnung ist klein und möbliert. In der Küche klebt eine grüne Tapete, auf der ein Schwarm kleiner roter Fische abgebildet ist. Maud Martha möchte sich ihr neues Zuhause gemütlich herrichten und eine eigene Note hineinbringen. Der Vermieter erlaubt es nicht.
Maud Martha besucht mit ihrem Mann Konzerte und Parties. Sie macht sich viele Gedanken über ihre Nachbarschaft und kennt jeden Bewohnerin des Hauses mit Namen. Maud Martha denkt aber auch oft über ihre Schwester nach. Denn diese empfindet Maud Martha viel schöner als sich selbst. Die Haut ihrer Schwester Helen ist heller als ihre. Maud Martha ist Schwarz.

Der autofiktionale Roman hat mich direkt von der ersten Seite an berührt. Die Leserschaft hat gar keine andere Wahl und muss sich einfach in Maud Martha verlieben. Wie könnten sie auch nicht. "Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet. Und Löwenzahn. [...] Gelbe Alltagsedelsteine, mit denen das geflickte grüne Kleid ihres Hinterhofes verziert war. Sie mochte diese nüchterne Schönheit, mehr noch aber ihre Alltäglichkeit, denn darin glaubte sie ein Abbild ihrer selbst zu erkennen, und es war tröstlich, dass etwas was gewöhnlich war, gleichzeitig eine Blume sein konnte." ("Maud Martha" – Gwendoly Brooks, S. 1, Manesse Verlag)

Gwendolyn Brooks zeigt in ihrem Roman, dass sie über eine ganz besondere Feinfühligkeit und Beobachtungsgabe verfügt. So gleichen die Passagen über die Chicagoer Nachbarschaft einer feinsinnigen Sozialraumanalyse. Diese Art von Empathie ist jedoch nicht nur den Menschen vorbehalten. In dem Kapitel "Maud Martha verschont die Maus", schildert Brooks in einem treffend zusammenfassenden Text darüber, welche Gedankengänge die Protagonistin dazu bringen, eine Maus zu verschonen, welche sie zuvor noch erschlagen wollte.

"Maud Martha" von Gwendolyn Brooks erschien in den USA bereits im Jahre 1953 und kann nun erstmals in deutsche Sprache gelesen werden. Übersetzt wurde das Buch von Andrea Ott.
"Maud Martha" ist Gwendolyn Brooks einziger Roman. Die Autorin und Dichterin starb im Jahr 2000.

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Veröffentlicht am 13.08.2023

Miika und Rick – eine besondere Liebesgeschichte

Großstadtträumer
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Als Miika eines nachts Gitarrenklänge auf einem nahegelegenen Dach wahrnimmt, kann er nichts anderes tun, als ihnen zu folgen. So lernt er den interessanten Rick kennen, zu dem er sich gleich hingezogen ...

Als Miika eines nachts Gitarrenklänge auf einem nahegelegenen Dach wahrnimmt, kann er nichts anderes tun, als ihnen zu folgen. So lernt er den interessanten Rick kennen, zu dem er sich gleich hingezogen fühlt. Rick scheint auch direkt angetan von seiner neuen Bekanntschaft und stellt ihm schnell seine Mitbewohnerinnen vor. Obwohl Miika eher introvertiert ist und ihn dies zuerst etwas überfordert, lässt er sich dennoch darauf ein. Diese wird unter anderem eine Herausforderung für Miika in der Beziehung zu Rick sein. Rick ist nämlich sein erster asexueller Partner. Gemeinsam loten sie ihre Grenzen aus und stellen sich ihren Ängsten. Doch wie weit kann der jeweils andere gehen, ohne sich selbst dabei zu verlieren?
"Großstadtträumer" von Annika M. habe ich in wenigen Tagen ausgelesen und konnte mich absolut überzeugen. Alleine der Schreibstil ist etwas ganz besonderes. Er wechselt von längeren Passagen, erzählt von jeweils eine
r der Protagonist*innen zu kürzeren, lyrischen Texten. Die Kapitel in abwechselnden Perspektiven werden liebevoll mit Symbolen neben den Seitenzahlen markiert. (Ich liebe Details!) So ist es für die Lesenden einfach, die Perspektive zu wechseln und nicht aus dem Lesefluss zu kommen.
Die Charaktere sind liebevoll und authentisch gezeichnet. Annika M. thematisiert in ihrem Buch das Aufwachsen in einer queeren Community, aber auch in einem stark heteronormativ geprägtem Familienhaus. Ich habe bisher wenige bis keine Bücher gelesen, welche Konsens und Asexualität ansprechen. Daher habe ich zwar wenig Vergleichsmaterial, aber ich empfinde beide Themen hier sehr gut und ehrlich dargestellt.
Lesemonat August

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