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Veröffentlicht am 26.04.2024

Berührt mein Mutter- und fest verwurzeltes Heimatherz

So weit der Fluss uns trägt
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Iola, Colorado, Anfang der 1940er Jahre. Victoria, genannt Torie, ist gerade 12 Jahre alt als ihre Mutter bei einem Unfall stirbt. Zur Trauer des Mädchens gesellt sich bald die sichere Gewissheit, keine ...

Iola, Colorado, Anfang der 1940er Jahre. Victoria, genannt Torie, ist gerade 12 Jahre alt als ihre Mutter bei einem Unfall stirbt. Zur Trauer des Mädchens gesellt sich bald die sichere Gewissheit, keine Verbündete mehr zu haben, in einem Haushalt, nein, in einer Welt voller Männer, unsichtbar werden zu müssen. Viel Zeit und Raum, den Verlust zu beklagen, bleibt der Familie ohnehin nicht; die Jahreszeiten bestimmen den Alltag auf ihrer Pfirsichfarm am Gunnison River, die Natur sichert ihr Einkommen und duldet keinen Aufschub. Über die Liebe, die Leidenschaft und ihre Tücken weiß die junge Frau nichts, stürzt sich mitten hinein als sie Wilson Moon trifft, einen Außenseiter, einen Geächteten ob seiner indigenen Herkunft, und sich Hals über Kopf verliebt. Victorias weitere Leben ist geprägt von dieser innigen Verbindung und der zu ihrer rauen Heimat – wie ein Fluss fließt es unaufhaltsam und findet seinen Weg; ihr Schicksal, tief verwurzelt mit der Erde, dem Land, das es berührt. Ein Kind entsteht und wächst unter erschwerten Bedingungen auf, mitten hinein in eine Gesellschaft voller Vorurteile und Unruhen; der Vietnamkrieg steht bevor, ganze Orte und Landstriche müssen sich dem Wandel der Zeit beugen und weichen. Die Welt verändert sich stetig, während es Victoria gelingt, Haltung und sich eine große innere Stärke zu bewahren.

Shelley Read schlägt einen Bogen über drei Jahrzehnte, erzählt in ihrem Debütroman von Emanzipation und Mutterschaft, von der Verbundenheit der eigenen Seele mit dem Kosmos. Dabei verknüpft sie die Natur eng mit den Figuren, flechtet sie zu einem untrennbaren Zopf, stark inspiriert von ihrer eigenen Vergangenheit. Die Sprache ist sehr blumig, bildhaft und metaphorisch, daran musste ich mich ein wenig gewöhnen und gerade zu Beginn großzügig über manche arg klischeehafte Formulierung hinweglesen. Doch nach kurzer Zeit fand ich mich ganz tief in dieser Geschichte wieder, die mein Herz berührt hat, mein Mutterherz und mein fest verwurzeltes Heimatherz; hat mich doch Bleiben immer mehr gereizt als Gehen.

Aus dem amerikanischen Englisch von Wibke Kuhn.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Unterhaltsames Sommerbuch mit tiefem Abgrund

Die spürst du nicht
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Familie Strobl-Marinek aus Wien nimmt zur Beschäftigung von Teenie-Töchterchen Sophie Luise das somalische Flüchtlingsmädchen Aayana mit in den Urlaub. Die Arme soll auch mal Spaß haben, das sicherlich ...

Familie Strobl-Marinek aus Wien nimmt zur Beschäftigung von Teenie-Töchterchen Sophie Luise das somalische Flüchtlingsmädchen Aayana mit in den Urlaub. Die Arme soll auch mal Spaß haben, das sicherlich verhasste Kopftuch (und damit auch gleich die verhuschte Art) ablegen, sich aus den Fängen des älteren, machoiden Bruders befreien und wenigstens einmal als Teil einer gut situierten Familie fühlen. Und schwimmen lernen, die besondere Mission von Mama Strobl-Marinek, die findet, ohne diese grundlegende Fähigkeit sei das Leben nur halb so schön. Doch bereits am ersten Abend des Toskana-Urlaubs kommt es zur Tragödie, das Mädchen ertrinkt im Pool.

Was Daniel Glattauer im Folgenden aufzieht, führt unsere ach so privilegierte Gesellschaft ad absurdum, liest sich wie ein bitterböses Sittenbild, dem man leicht angewidert beiwohnt, aber wegschauen geht halt auch nicht. Fehler werden einander zugeschoben und weit von sich gewiesen, es gilt, die eigene Haut retten und ja, man wünscht diesen selbstgerechten, vor Arroganz nur so strotzenden Gutmenschen mindestens die Pest an den Hals – und gleichzeitig meldet sich da so ein leises, inneres Stimmchen, das fragt, wie frei wir selbst denn eigentlich von diesen Vorurteilen und Selbstgerechtigkeiten sind.

Dem Autor gelingt es erstaunlich gut die leicht überzogen skizzierten Figuren nie ins Lächerliche, Karikierte abdriften zu lassen. Ich hab sie ihm alle abgenommen, angefangen bei der Teenagerin, deren Leben völlig aus den Fugen gerät, und das direkt aus dem Kinderzimmer heraus (wirklich erschreckend für mich als Mutter), bis hin zum leicht verblendeten Staranwalt Steinpichler. Aayanas Geschichte hat mich tief berührt und wird mich noch länger beschäftigen, denn auch wenn sie fiktiv sein mag, sensibilisiert sie doch für die sehr realen Schicksale Geflüchteter, die viel zu wenig Raum in der Politik und in unserer Gesellschaft haben.

Oberflächlich betrachtet ist „Die spürst du nicht“ das unterhaltsame Sommerbuch, das ich auch aufgrund des Covers erwartet hatte; leichte Kost, man fliegt nur so durch die Seiten, muss mitunter herzlich lachen oder zumindest schmunzeln. Doch darunter tut sich ein Abgrund auf, lauert eine bodenlose Schwere, die mich sehr betroffen gemacht hat, eine unerwartet schmerzhafte Geschichte über Migration und Heimat, Moral und Gewissen. Richtig stark!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Existenzielle Fragen über unsere Verbundenheit mit der Welt

Klara und die Sonne
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»Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ. Sondern im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders ...

»Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ. Sondern im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders und einmalig macht?«

KI, künstliche Intelligenz, ist aus unserer digitalisierten Welt nicht mehr wegzudenken, gerade erst hat die EU das erste Regelwerk zur Eindämmung der enormen Risiken auf den Weg gebracht. Auch Klara ist eine KF, eine künstliche Freundin, konzipiert in der nahen Zukunft um jungen Menschen im Erwachsenwerden beizustehen, eine angenehme Gesellschafterin und vertrauensvolle Ansprechpartnerin zu sein. Und Klara ist eine besonders intensive Erzählstimme, denn sie sieht die Welt durch Augen, die unseren sehr ähnlich und doch anders sind. Fast wie ein Märchen liest sich der Roman, kindlich mutet Klaras naiver Blick an, ihr unumstößliches Vertrauen in die Kraft der Sonne und auch in die Menschen, allen voran in Josie, das kranke Mädchen, dem sie gehört und dem bald ihre ganze Sorge gilt. Doch Klaras genaue Beobachtungen dessen, was um sie herum geschieht, verwirren sie zunehmend; wie die Menschen im Namen der Liebe handeln, ist für sie logisch kaum nachvollziehbar, bringt sie an die Grenzen ihrer Fähigkeiten.

Vor Jahren las ich mit „Was vom Tage übrig blieb“ mein erstes Buch des britisch-japanischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro und war sofort fasziniert. Fasziniert von der bedächtigen Art, mit welcher der Autor diese Geschichte erzählt, davon, wie wenig Aufhebens es benötigt, um seine Figuren zum Leben zu erwecken und mich nachhaltig zu berühren. Nach der Lektüre von „Klara und die Sonne“ weiß ich, das war kein besonderes Merkmal dieses einen Romans; Ishiguros Literatur zeichnet sich nicht durch gewaltige Bilder aus, nicht durch Lärm. Seine Figuren sind still und feinsinnig, seine Worte brauchen etwas Zeit, um ihre ganze Wucht, ihre Wirkung zu entfalten. Es sind existenzielle Fragen über unsere Verbundenheit mit der Welt, die der Autor aufwirft, und die sich auch in diesem Roman wiederfinden.

Aus dem Englischen von Barbara Schaden.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Österreichische Literatur par excellence

Verschwinden in Lawinen
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„Stehen, knien, sitzen. Aus allen Mündern: Amen. In der ersten Reihe hockten die Eltern des Jungen. Das Murmeln im Rücken, das Rascheln der Kleidung, bewies ihnen die vereinte Unterstützung. […] Er blickte ...

„Stehen, knien, sitzen. Aus allen Mündern: Amen. In der ersten Reihe hockten die Eltern des Jungen. Das Murmeln im Rücken, das Rascheln der Kleidung, bewies ihnen die vereinte Unterstützung. […] Er blickte zu Boden. […] Er dachte an die Lawine. An dieses Phänomen und was es bedeutete. Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“ S.11

Ein tragisches Unglück ist geschehen am Berg. Zwei junge Menschen wurden von einer Lawine überrollt, das Mädchen wird bald verletzt gefunden, sein Freund bleibt vermisst. Xavers Nichte Tina kämpft nun im Krankenhaus ums Überleben während dieser, ein Schauspieler in den Kinderschuhen und Daheimgebliebener, sich wild entschlossen dem Rettungsteam anschließt. Während der Suche nach Noah spürt er bald eine Unruhe in sich aufsteigen, wird er jäh von Erinnerungen an den vor vielen Jahren verschollenen Großvater übermannt. Damals war es Sommer, auch dann verschwinden Menschen am Berg, verschwinden und werden gar nie mehr gefunden, oder eben doch, aber erst viel später, dann kaum noch wieder zu erkennen. Und manche könnten rechtzeitig gefunden werden, wenn man selbst ein bisschen mehr Mut hätte, kein solcher Hasenfuß wäre.

Aberglaube trifft auf Skepsis in diesem Dorf, beides ist den Menschen wohlbekannt und ringt miteinander im Angesicht der Tragödien, die zum Leben dort dazugehören. So entwickelt sich die Suche nach dem Jungen für Xaver zu einer längst überfälligen nach dem eigenen Platz auf dieser Welt, in diesem Dorf, rührt an einem Gefühl des tiefsten Versagens und dem dringenden Wunsch nach Wiedergutmachung.

Robert Prossers „Verschwinden in Lawinen“ jongliert geschickt mit den menschlichen Regungen und Bedürfnissen, der Bedeutung von Signifikanz im eigenen Leben. Es ist ein Heimatroman im besten Sinne, atmosphärisch und dicht, bildgewaltig; jedes Wort sitzt, hier wird etwas genauestens auserzählt, dort ganz knapp gehalten, schnörkel- und kompromisslos. Österreichische Literatur par excellence und eine große Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Authentischer Thriller mit tollem Setting

Fünf Winter
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Ich hab seit Jahren keinen Krimi oder Thriller mehr gelesen; zu oft wurde ich von der Auflösung am Ende enttäuscht, die mit dem sorgsam aufgebauten Spannungsbogen im Mittelfeld schlicht nicht mithalten ...

Ich hab seit Jahren keinen Krimi oder Thriller mehr gelesen; zu oft wurde ich von der Auflösung am Ende enttäuscht, die mit dem sorgsam aufgebauten Spannungsbogen im Mittelfeld schlicht nicht mithalten konnte. Die Spannung verpuffte einfach, entlud sich unterwegs wie ein schlapp gewordener Luftballon und zurück blieb eine frustrierte Linda. Und das wollen wir ja nicht! Schon etwas länger suchte ich nun DEN einen Thriller, der mich aus diesem mehr als bedenklichen Tief herausholen sollte, und was soll ich sagen? Gefunden!

„Fünf Winter“ von James Kestrel (übrigens ein Pseudonym) wartet mit einem spannenden, klug konstruierten Plot auf, der zugegebenermaßen ziemlich laut Blockbuster schreit, sich durch seine Vielschichtigkeit jedoch kaum kategorisieren lässt, weit mehr als eine bloße Kriminalgeschichte zu bieten hat. Das Setting fand ich persönlich sehr interessant, wir bewegen uns zwischen Hawaii und Japan im zweiten Weltkrieg, rund um den Angriff auf Pearl Harbor, die Figuren sind authentisch gezeichnet und saugten mich geradezu in den Plot hinein. Mit dem Protagonisten Joe McGrady hat Kestrel einen etwas raubeinigen, tragischen Helden geschaffen, der das Herz am rechten Fleck hat. Einen der Guten, den ich gerne an meiner Seite wüsste, wenn’s drauf ankommt, und den ich so schnell nicht vergessen werde.

Für Fans von Dennis Lehane und alle, die Lust auf einen wirklich guten Thriller haben. Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux. Herausgegeben von Thomas Wörtche.

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