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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein intimer Einblick

Das glückliche Geheimnis
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Mit „Das glückliche Geheimnis“ lüftet Arno Geiger sein großes Lebensgeheimnis um ein regelrechtes Doppelleben, welches sich vor aller Augen und gleichzeitig abseits der Gesellschaft, an deren Rand abspielte, ...

Mit „Das glückliche Geheimnis“ lüftet Arno Geiger sein großes Lebensgeheimnis um ein regelrechtes Doppelleben, welches sich vor aller Augen und gleichzeitig abseits der Gesellschaft, an deren Rand abspielte, und bislang aus ebendiesem Grund wohl gehütet wurde. Doch nun ist es raus, die Katze ist aus dem Sack, der Schleier gelüftet: Über fast drei Jahrzehnte durchforstete der Schriftsteller regelmäßig die Wiener Altpapiercontainer auf der Suche nach Schönem, Brauchbarem, kurzum gut Verkaufbarem; wühlte kopfüber, beineraus im Müll nach papierenen Schätzen. Aus der finanziellen Not als mittelloser Student geboren, entwickelten sich diese Streifzüge schnell zu einem Quell der Glückseligkeit, zu einer Schule des Lebens, des Menschseins, und wurden auch mitnichten aufgegeben, nachdem sich der kommerzielle Erfolg als Autor mit dem Gewinn des Deutschen Buchpreises 2005 einstellte.

Ich mag Geigers schnörkellose Schreibe sehr, dessen klaren Blick, die (selbst)ironischen Töne, die Fähigkeit sich selbst und seiner Umwelt mit größtmöglicher Aufrichtigkeit und echtem Interesse zu begegnen. Er gewährt uns hier einen intimen Einblick in seinen Werdegang zum Schriftsteller, das Scheitern und Gelingen, den steten Prozess des Reifens zum Mann, des Erwachsenwerdens. Dazu gehörte auch ein recht bewegtes, kompliziertes Liebesleben, das ich in dieser Ausführlichkeit erzählt nicht gebraucht hätte, aber nun gut. Nehme ich hin, weil das Techtelmechtel von so einzigartigen, klugen Sätzen umrahmt ist, die ich ungerne verpasst hätte.

„Mich haben immer die Grauzonen angezogen, in den Grauzonen verbirgt sich das eigentlich Menschliche. In der Grauzone fordert der Mensch die Gesellschaft heraus, und in diesem Spannungsfeld entwickeln sich beide.“ S. 220

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Dieses Staunen vor der betörenden Schönheit unserer Welt

Memory Wall
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Die 74jährige Alma verliert langsam ihr Gedächtnis, Stück für Stück gleiten die Erinnerungen davon und mit ihnen auch ihre eigene Geschichte. Eine sogenannte „Memory Wall“ soll diesem Verlust entgegenwirken, ...

Die 74jährige Alma verliert langsam ihr Gedächtnis, Stück für Stück gleiten die Erinnerungen davon und mit ihnen auch ihre eigene Geschichte. Eine sogenannte „Memory Wall“ soll diesem Verlust entgegenwirken, eine Sammlung zahlreicher Fotos und auf Disketten gespeicherter, bewegter Bildsequenzen aus ihrer Vergangenheit sollen der Vergessenheit trotzen und Alma helfen, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, sich wieder in dieser zu verankern. Zur Seite steht der in Kapstadt lebenden alten Dame Pheko, ein treuer Hausangestellter und alleinerziehender Vater, dessen Leben fest mit dem ihren verknüpft und dessen Zukunft durch Almas Demenzerkrankung ebenfalls bedroht ist. Und dann sind da noch Luvo, ein 15jähriger Waisenjunge, und Roger, Kleinkriminelle, die regelmäßig in Almas Haus einbrechen und deren persönlichste Erinnerungen systematisch nach Hinweisen auf den geheimen Fundort eines wertvollen Fossils durchkämmen, ihrem Schlüssel zu einem besseren Leben.

Auf gerade einmal 135 Seiten lotet Doerr hier die Frage aus, welche Bedeutung Erinnerungen für uns haben; was wir sind ohne sie. Und wie könnte eine Welt aussehen, in der unsere Gedanken nicht mehr uns alleine gehören, intimsten Geheimnisse nicht mehr sicher und Erinnerungen allen frei zugänglich sind? Diese Novelle hat (natürlich) nicht die Dichte seiner umfangreicheren Werke, doch beweist Doerr auch hier wieder ein unglaubliches Erzähltalent mit Liebe zum Detail. Das Tempo ist flott, ebenso der Wechsel zwischen den Figuren, die samt und sonders mit einem solchen Einfühlungsvermögen beschrieben sind, dass man sie sofort ins Herz schließen muss. Und immer steckt in Doerrs Geschichten auch diese große Ehrfurcht vor der Natur, dieses Staunen vor der betörenden Schönheit unserer Welt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Warmherzige Geschichte über die Liebe

Flamingo
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Daniel wächst alleine bei seiner jungen Mutter Eve auf, die sich mit gerade einmal 16 Jahren für Ihr Kind und damit gegen ihre Eltern, ihre Herkunftsfamilie entschied. Seitdem sind die beiden sich selbst ...

Daniel wächst alleine bei seiner jungen Mutter Eve auf, die sich mit gerade einmal 16 Jahren für Ihr Kind und damit gegen ihre Eltern, ihre Herkunftsfamilie entschied. Seitdem sind die beiden sich selbst genug, immer unterwegs wechseln sie den Wohnort wie andere ihre Kleidung, Halt und Liebe finden sie lange Zeit nur beieinander. Bis sie in Abigail Gardens Nr. 3 landen, dem Haus direkt neben dem der chaotischen Familie Marsh. Die Marshs, das sind Sherry und Leslie, Pauline und Rae. Sie alle werden bald zu einer Art Bonusfamilie, gehen wie selbstverständlich beieinander ein und aus, und während Daniel in Leslie eine liebevolle Vaterfigur findet, entsteht zwischen Eve und Sherry, dieser fabelhaften, von innen heraus leuchtenden Frau eine tiefe Bindung, die alles bedeutet und alles riskiert.

Wieder einmal ist es Rachel Elliott gelungen mich zu bezaubern, mit ihren Worten zu umarmen, fest einzuhüllen. „Bären füttern verboten“ hat mich bereits 2021 mit einem diffusen Glücksgefühl zurückgelassen und mit ihrem neuen Roman „Flamingo“ ist der Autorin nun ganz ähnliches geglückt. Doch was ist eigentlich ihr Geheimnis? Sie erschafft Figuren die ohne Zweifel Sonderlinge sind, spleenig und vom Leben gezeichnet, leicht neben der Spur. Die am Abgrund stehen, nur einen Schritt vor dem Aus. Und die doch beherzt nach dem Leben greifen, es in die eigenen Hände nehmen, dem Glück des Moments nachspüren und los! Diese Bejahung, dieser Mut rührt mich, bewegt etwas in mir, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.

Eine warmherzige Geschichte über die Liebe, über Eltern und Kinder, gebürtige wie selbst gewählte. Über Mütter und ihre Geheimnisse, ihr Leben abseits der Mutterschaft. Über Menschen und all das, was sie sind, all die unterschiedlichen Visonen ihrer selbst. Über die Wahrheit und das Verborgene. Die Schönheit des Lebens und die Bürde, die es einem manchmal zu tragen zumutet. Große Leseempfehlung!

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Berührende Schwesterngeschichte

22 Bahnen
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Caroline Wahl ist DER Shootingstar des deutschsprachigen Novitäten-Himmels in diesem Frühjahr, an ihrem Debütroman „22 Bahnen“ führt bei Bookstagram schlicht kein Weg vorbei. Schon das Cover ist ein echter ...

Caroline Wahl ist DER Shootingstar des deutschsprachigen Novitäten-Himmels in diesem Frühjahr, an ihrem Debütroman „22 Bahnen“ führt bei Bookstagram schlicht kein Weg vorbei. Schon das Cover ist ein echter Hingucker, der Inhalt verspricht eine kraftvolle Geschichte über die Selbstermächtigung zweier Schwestern. Klingt richtig gut, ist auch gut, für mich persönlich aber kein Highlight.

Tilda ist Mitte 20, studiert Mathematik und arbeitet im Supermarkt ihres Heimatortes an der Kasse. Zum Ausgleich schwimmt sie regelmäßig ihre 22 Bahnen im Schwimmbad, taucht einfach mal ab, und kümmert sich ansonsten rührend um ihre 10jährige Schwester Ida. Die Mutter der beiden kämpft schon lange mit einer Alkoholsucht, wobei kämpft es nicht ganz trifft, sich der Sucht hingibt wäre passender, da ist wenig Elan, wenig Anpacken, wenig Verstehen der prekären, einem Kind kaum zumutbaren Situation. Ein Zustand, der sich im Verlauf der Geschichte auch nicht wirklich verändert, was mich etwas ratlos und unbefriedigt zurückließ. Ansonsten passiert allerdings so einiges auf diesen 200 Seiten. Wir lernen die jüngere Tilda kennen, begleiten sie und ihre beste Freundin Josie bis zum tragischen Ende eines wunderbaren Sommers, der ihr Verhältnis überschattet. Und dann ist da noch Viktor, der junge Mann mit dem verschlossenen Blick, der neuerdings im Schwimmbad auftaucht. Der sie an diesen vergangenen Sommer erinnert, an ein ganz ähnliches Augenpaar, das sie nicht vergessen kann, und an die Schuld, die schwer auf ihr lastet. Doch ganz langsam wagt Tilda sich zu öffnen und, wenn auch noch zaghaft, an eine eigene Zukunft zu glauben.

„22 Bahnen“ ist Liebesgeschichte, Familiengeschichte und Coming of Age-Roman, wollte sehr viel und hat für mich deshalb nicht ganz funktioniert. Die Geschichte der Schwestern, diese liebevoll-neckische, irgendwo ambivalente Beziehung hat mich berührt, hätte aber mehr Tiefe vertragen können, einen längeren Atem, bohrendere Finger; da wäre ich so gerne intensiver eingetaucht. Mein Fazit also: ein Buch, das ich gerne gelesen habe, mit dem ich vor 10 Jahren aber vermutlich noch mehr hätte anfangen können und das mir nicht allzu lange im Gedächtnis bleiben wird.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Berührt mein Mutter- und fest verwurzeltes Heimatherz

So weit der Fluss uns trägt
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Iola, Colorado, Anfang der 1940er Jahre. Victoria, genannt Torie, ist gerade 12 Jahre alt als ihre Mutter bei einem Unfall stirbt. Zur Trauer des Mädchens gesellt sich bald die sichere Gewissheit, keine ...

Iola, Colorado, Anfang der 1940er Jahre. Victoria, genannt Torie, ist gerade 12 Jahre alt als ihre Mutter bei einem Unfall stirbt. Zur Trauer des Mädchens gesellt sich bald die sichere Gewissheit, keine Verbündete mehr zu haben, in einem Haushalt, nein, in einer Welt voller Männer, unsichtbar werden zu müssen. Viel Zeit und Raum, den Verlust zu beklagen, bleibt der Familie ohnehin nicht; die Jahreszeiten bestimmen den Alltag auf ihrer Pfirsichfarm am Gunnison River, die Natur sichert ihr Einkommen und duldet keinen Aufschub. Über die Liebe, die Leidenschaft und ihre Tücken weiß die junge Frau nichts, stürzt sich mitten hinein als sie Wilson Moon trifft, einen Außenseiter, einen Geächteten ob seiner indigenen Herkunft, und sich Hals über Kopf verliebt. Victorias weitere Leben ist geprägt von dieser innigen Verbindung und der zu ihrer rauen Heimat – wie ein Fluss fließt es unaufhaltsam und findet seinen Weg; ihr Schicksal, tief verwurzelt mit der Erde, dem Land, das es berührt. Ein Kind entsteht und wächst unter erschwerten Bedingungen auf, mitten hinein in eine Gesellschaft voller Vorurteile und Unruhen; der Vietnamkrieg steht bevor, ganze Orte und Landstriche müssen sich dem Wandel der Zeit beugen und weichen. Die Welt verändert sich stetig, während es Victoria gelingt, Haltung und sich eine große innere Stärke zu bewahren.

Shelley Read schlägt einen Bogen über drei Jahrzehnte, erzählt in ihrem Debütroman von Emanzipation und Mutterschaft, von der Verbundenheit der eigenen Seele mit dem Kosmos. Dabei verknüpft sie die Natur eng mit den Figuren, flechtet sie zu einem untrennbaren Zopf, stark inspiriert von ihrer eigenen Vergangenheit. Die Sprache ist sehr blumig, bildhaft und metaphorisch, daran musste ich mich ein wenig gewöhnen und gerade zu Beginn großzügig über manche arg klischeehafte Formulierung hinweglesen. Doch nach kurzer Zeit fand ich mich ganz tief in dieser Geschichte wieder, die mein Herz berührt hat, mein Mutterherz und mein fest verwurzeltes Heimatherz; hat mich doch Bleiben immer mehr gereizt als Gehen.

Aus dem amerikanischen Englisch von Wibke Kuhn.

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