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Veröffentlicht am 27.06.2024

Vielschichtige Betrachtung einer Dorfgemeinschaft

Hinter verschlossenen Türen
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„Le Case bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich.“ - S.298

Le Case ist ein kleines Bergdorf in Italien. Die Zeit scheint still zu stehen, die Bewohner sind alle etwas eigenbrödlerisch. Es wäre ...

„Le Case bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich.“ - S.298

Le Case ist ein kleines Bergdorf in Italien. Die Zeit scheint still zu stehen, die Bewohner sind alle etwas eigenbrödlerisch. Es wäre ganz idyllisch, würde nicht eine Mischung aus Neid, Missgunst und Intrigen die Stimmung im Dorf überschatten.

Sehr viel mehr als dies kann ich als Zusammenfassung gar nicht bieten, da Naspini die Geschichte aus so vielen Perspektiven und Zeitebenen beschreibt, dass es mir schwerfällt eine Haupthandlung zu bestimmen und ohne Spoiler wiederzugeben. Ich hab daher im 3. Slide mal den Klappentext angehangen, auch wenn ich der Meinung bin, dass er nicht mal ansatzweise eine Übersicht gibt.
Es ist vielmehr so, dass der Autor ein sehr komplexes Bild zwischenmenschlicher Beziehungen zeichnet, dass es anfangs erstmal zu entwirren gilt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich zurecht gefunden habe und wusste in welcher Zeit und bei welchen Personen ich mich gerade befinde.
Gerade die multiperspektivische Gestaltung macht aber am Ende auch den Reiz aus und ich finde es super gut gelungen, wie sich die Einzelerzählungen nach und nach zu einem Ganzen zusammenfügen. Ich stell mir auch den Schreibprozess dazu überaus schwierig vor und kann davor nur den Hut ziehen. Das der Roman hier und da seine Längen hat, ist denk ich nicht verwunderlich, wenn man versucht ein so umfassendes Bild zu erschaffen.
Naspini bildet nicht nur Einzelschicksale ab, sondern erschafft eine Betrachtung der Gesellschaft als solche. Hier komme ich auch zu dem Punkt an dem ich ehrlich gesagt zwiegespalten bin. Der Roman enthält rassistische, ableistische, frauen- und queerfeindliche Äußerungen und da bin ich nunmal gar kein Fan von. Mir ist schon klar, dass es Menschen gibt, die so denken und ich bin mir auch bewusst, dass eine umfassende Abbildung von Gesellschaftsstrukturen diese nicht einfach auslassen können, dennoch finde ich es schwierig und hätte mir hier eine Stellungnahme des Autors gewünscht. Auch die Übersetzerinnen hatten ihren Struggel damit, was im Nachwort klar wird. Sie haben sich bewusst dafür entschieden die Äußerungen zu übersetzen (wenn auch in abgeschwächter Version) um das Gesamtbild zu erhalten.
Alles in allem ein sehr guter Roman, der vor allem durch seinen Aufbau und Naspinis Schreibstil besticht und dessen Ende ich fantastisch fand, da es alles nochmal über den Haufen wirft.
Ein Blick hinter verschlossene Türen, der sich auf jeden Fall lohnt.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Feministische Dystopie

Das Verschwinden
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Es ist der 26. August, 19:14 Uhr (pazifischer Standardzeit) als weltweit alle Personen mit einem Y-Chromosom einfach verschwinden. Während die einen ihre Freiheit feiern, das Ende des Patriarchats willkommen ...

Es ist der 26. August, 19:14 Uhr (pazifischer Standardzeit) als weltweit alle Personen mit einem Y-Chromosom einfach verschwinden. Während die einen ihre Freiheit feiern, das Ende des Patriarchats willkommen heißen, trauern die anderen um ihre Männer und männlichen Kinder.
Kurze Zeit später tauchen Video-Streams auf, die die Verschwundenen zeigen, völlig apathisch in einem trostlosen, dystopischen Umfeld. Die einen sagen es ist Fake, die anderen halten es für echt und suchen nach einem Weg, die Menschen zurück zu holen.
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Sandra Newman erschafft in „Das Verschwinden“ gleich zwei dystopische Welten getrennt nach dem chromosomalen Geschlecht. Während Personen mit XY-Chromosomen eindeutig in einem Horrorszenario dargestellt werden, erleben die Personen mit XX-Chromosomen die Geschehnisse wesentlich differenzierter. Es kommt zum Zusammenbruch wichtiger Industrie- und Infrastrukturbereiche, was man durchaus als Gesellschaftskritik hinsichtlich der Frauenquote in männlich dominierten Berufszweigen lesen kann. Überdies kommt es zu Machtkämpfen, den Kampf um Ressourcen… Es gibt aber auch eine Verbesserung der Lebensqualität. Weibliche Kinder können unbehelligt auf den Straßen spielen, wachsen sehr viel freier auf, Erwachsene haben keine Bedenken nachts durch die Gegend zu laufen.
Sehr gut dargestellt fand ich die gegensätzlichen Wahrnehmungen. Vor allem die Trauer von vielen Betroffenen wird gut rüber gebracht und zeigt, dass nicht alles Gold ist was glänzt.
Newman erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Da wäre unter anderem die verurteilte Sexualstraftäterin, die Alkoholikerin, die Polizistenmörderin, eine, wie ich finde, durchaus interessante Auswahl an Protagonistinnen. Neben dem Blick auf die aktuellen Geschehnisse, wird den Lesenden auch immer wieder Einblick in die Vergangenheit der Handelnden gewährt und ich fand diese Einblicke, diese Geschichten in der Geschichte, sehr spannend und wertvoll im Gesamtkontext.
Sprachlich hat mich der mich voll überzeugt, auch inhaltlich fand ich ihn, durch die Vielfalt an intersektionalen feministischen Themen, interessant.
Das Ende hat mir mal wieder nicht so zugesagt bzw. weiß ich noch nicht so genau, was ich davon halte. Es kam zu abrupt, war zu undurchsichtig und würde ich damit nicht spoilern, liese mich zu allerhand Spekulationen hinreißen.
Alles in allem eine große Empfehlung für Freund*innen der fiktionalen, dystopischen, feministischen Literatur.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Toller Familienroman mit viel Tiefe

Black Cake
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Nach jahrelanger Funkstille treffen die Geschwister Benny und Byron bei der Beerdigung ihrer Mutter wieder aufeinander. Neben der Trauer hat die Mutter einen traditionellen Black Cake, den sie sich teilen ...

Nach jahrelanger Funkstille treffen die Geschwister Benny und Byron bei der Beerdigung ihrer Mutter wieder aufeinander. Neben der Trauer hat die Mutter einen traditionellen Black Cake, den sie sich teilen sollen, wenn die Zeit dafür gekommen ist, sowie eine Tonbandaufnahme, die ihre Familiengeschichte aufrollt und die bisher gelebte Realität auf den Kopf stellt, hinterlassen.
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Mit „Black Cake“ ist Wilkerson ein tiefgreifendes Familienporträt einer amerikanischen Einwandererfamilie gelungen. Neben innerfamiliären Problematiken (Umgang der Eltern mit Bennys Bisexualität, Nichterfüllen der elterlichen Erwartungen im Bezug auf die berufliche Entwicklung) werden Rassimus (Byrons Übergehen bei Beförderungen, Polizeikontrollen), Diskriminierung , Umweltschutz und Frauenrechte thematisiert.
Auch der Blick in die Vergangenheit zeigt Missstände auf. Angefangen bei der Rolle asiatischer Einwanderer karibischer Inseln, über Zwangsheirat, bis hin zu strukturellem Rassismus gegenüber Arbeitskräften auf den britischen Inseln und der damals gängigen Praxis von Zwangsadoptionen bei ledigen Müttern.
Es wird ein unglaublich weit gefächertes Themenspektrum aufgemacht, was aber zu keiner Zeit überladen wirkt.
Zudem erzählt Wilkerson die Geschichte aus vielfältigen Blickwinkeln, u.a. die der Kinder, des Anwalts, der besten Freundin, des Großvaters, der Adoptiveltern, und erschafft so eine komplexe Wahrnehmung der Geschichte. Durch die zeitliche Abgrenzung in damals und jetzt ist es zu jeder Zeit möglich dem Geschriebenen zu folgen.
Im Fazit ein gelungener Roman mit Tiefgang, der nicht nur wichtige Problematiken aufgreift, sondern auch die Frage hinterlässt, was wir über unsere Familiengeschichte alles wissen.
Große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Gute Unterhaltung

Das Gegenteil von Erfolg
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„Es ist echt hart, sich ständig bei allem immer so anzustrengen. Ich versuche, eine gute Mitarbeiterin zu sein und eine gute Bürgerin und eine gute Mutter und eine gute Partnerin und eine gute Tochter ...

„Es ist echt hart, sich ständig bei allem immer so anzustrengen. Ich versuche, eine gute Mitarbeiterin zu sein und eine gute Bürgerin und eine gute Mutter und eine gute Partnerin und eine gute Tochter und eine gute Freundin und ein guter Mensch - oder überhaupt ein Mensch!“ - S.114

Lorrie und Alex kennen sich seit Ewigkeiten. Während die ein hochbegabt, Mutter und fest in der Stadverwaltung verwurzelt ist, versucht sich die andere als Künstlerin über Wasser zu halten und schlittert von einer fragilen Beziehung in die nächste.
Für Lorrie sollte es ihr großer Tag werden. Mit ihrem Projekt „Green Cities“ wollte sie sich einen Traum erfüllen und dies auch als Aufstiegschance nutzen, aber nachdem die Stelle jemand anderes bekommt, läuft irgendwie der ganze Tag schief.
Alex beginnt derweil Hals über Kopf eine Affäre mit der Frau von Lorries Exfreund, der noch dazu der Anwalt des Geldgebers für „Green Cities“ ist.
Als dann auch noch Unweltaktivisten auf den Plan treten, ist die Katastrophe perfekt.
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Wie viel kann an einem einzelnen Tag schon schief laufen??? Eleanor Elliot Thomas nach eine ganze Menge…
Wir alle kennen diese Tage, wo man sich schon beim aufstehen sagt, dass es besser wäre liegen zu bleiben und am Ende des Tages sich genau darin bestätigt fühlt.
Auch wenn die Geschichte rund um Lorrie und Alex doch sehr überspitzt ist, geht es genau um solche Tage. Tage die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, Tage die man am liebsten aus dem Gedächtnis streichen will.
Mit Alex und Lorrie treffen wir auf zwei Protagonsitinnen, die sehr unterschiedliche Einstellungen zum Leben haben. Lorrie ist perfektionistisch, will es allen Recht machen, fühlt sich jedoch schnell überfordert in ihrer Rolle. Alex dagegen lebt in den Tag hinein, lässt sich treiben, vermeidet Verantwortung. Beide sind Stereotype, die nicht viel Platz für Spekulationen lassen, was ich für einen Unterhaltungsroman jedoch in Ordnung finde.
Mit viel Witz und Charme leitet mich die Autorin durch die Erzählung, immer mal wieder denke ich mir: könnte dir auch passieren.
Der Stil ist schön flüssig, ein paar Themen, wie bspw. Umweltschutz, toxische Partnerschaften, Depression, werden am Rande angekratzt, an Tiefe mangelt es aber.
Im Fazit ist es ein gutes Buch für zwischendurch, perfekt für alle die mal abschalten und bisschen Spaß haben wollen.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt

Auf allen vieren
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Sie ist Mutter, Ehefrau, Künstlerin und gerade 45 geworden.
Um aus ihrem Trott auszubrechen, schenkt sie sich selbst einen Trip nach New York. Zwei Wochen nur sie und das Auto, keine Verpflichtungen, Zeit ...

Sie ist Mutter, Ehefrau, Künstlerin und gerade 45 geworden.
Um aus ihrem Trott auszubrechen, schenkt sie sich selbst einen Trip nach New York. Zwei Wochen nur sie und das Auto, keine Verpflichtungen, Zeit um zu sich selbst zu kommen.
So war zumindest der Plan. Weit kommt sie nicht, verliebt sich Hals über Kopf in Davey, der ihr an der Tankstelle die Autoscheiben säubert und mietet sich kurzerhand in ein Motel ein, welches nur eine halbe Stunde von ihrem Zuhause entfernt ist. Sie gestaltet ihr Zimmer für 20.000 € um und hinterfragt in diesen zwei Wochen ihr ganzes Leben, vor allem aber ihre Sexualität.
Auch nach ihrer Rückkehr, kommt sie nicht so ganz wieder an, hat Schwierigkeiten sich im Familienleben einzufinden und versucht ganz neue Wege zu gehen.
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Was ich von dem Buch erwartet habe: eine witzige Roadtrip-Story…
Was ich bekommen habe: Etwas ganz anderes…
Etwas, was ich vor allem erstmal ein bisschen sacken lassen musste, bevor ich darüber schreiben konnte, da mein erster Impuls des Ausdrucks nicht unbedingt positiv ausgefallen wäre, aber ich im Nachgang doch recht überzeugende Ansätze gefunden habe.
Miranda July schreibt über den Lebensabschnitt von Frauen, in welchem viel (oder alles?) hinterfragt wird. Sie schreibt über Sexualität oder das Finden dieser, über weibliche Selbstbestimmung, über Trauma. Sie schreibt über patriarchale Strukturen, die Institution der traditionellen Ehe und dem Aufbrechen von genau diesen Strukturen, um ein Lebensmodell zu entwerfen, das frei ist von Konventionen und trotzdem eine gewisse Sicherheit bietet.
Dies alles tut sie mal überaus witzig, mal sehr tiefgründig und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund.
Gerade die Abschnitte, in denen sie die Verarbeitung des Beinahe-Todes des Kindes ihrer Protagonistin und auch noch Jahre später andauernden Flashbacks, beschreibt, empfand ich als sehr intensiv und besonders. Auch die Symtome, die mit einem sinkenden Hormonspiegel und überhaupt mit der Phase vor und während der Menopause einhergehen, fand ich spannend, teils beängstigend, aber auch mutmachend. Es hilft auf alle Fälle einen Einblick zu bekommen, was eventuell auf mich zukommen könnte.
Was mir persönlich nicht gefallen hat, waren die expliziten Szenen, die mit dem sexuellen Erwachen der Protagonistin einhergingen. Ich les soetwas einfach nicht gern und hätte es in dem Ausmaß und Detailtiefe auch eher nicht erwartet bei diesem Roman.
Mal davon abgesehen, mochte ich den Roman sehr gern, vor allem die Diversität, die er widerspiegelt hat mir sehr gut gefallen und auch die tiefen Einblicke in die weibliche Psyche fand ich gut gemacht.