Das Grab der Lebenden - Ein wortgewaltiger historischer Roman mit viel Dramatik und leichten Krimi-Anleihen
1794„Womöglich wird die Welt nur älter, aber niemals besser. Vielleicht erlaubt uns der Fortschritt, den wir als Zivilisation bezeichnen, letztlich nur, das Böse, das unserem Menschengeschlecht innewohnt, ...
„Womöglich wird die Welt nur älter, aber niemals besser. Vielleicht erlaubt uns der Fortschritt, den wir als Zivilisation bezeichnen, letztlich nur, das Böse, das unserem Menschengeschlecht innewohnt, in einem nie gesehenen Ausmaß auszuleben?“ (S. 125)
Meine Meinung:
Vorweg: den vielgerühmten Bestseller und Vorgänger „1793“ kenne ich noch nicht, würde nach der Lektüre von „1794“ aber jedem empfehlen, zuerst „1793“ zu lesen, da es sehr viele Anknüpfungspunkte zum Erstlingswerk gibt.
Zu Beginn erzählt Natt och Dag die Geschichte des jungen Adligen Erik Drei Rosen, die diesem Roman die Grundlage verleiht. Obgleich Erik mit einer bemerkenswerten Naivität ausgestatten ist und zuweilen sogar regelrecht dümmlich erscheint, war er mir doch irgendwie von Anfang an sympathisch. Schnell führt die Geschichte aus Schweden hinaus über den Atlantik bis ins tropische Gustavia auf Saint-Barthélemy. Doch statt des heutigen unbeschwerten und exotischen Karibik-Flairs zeichnet der Autor ein düsteres Bild dieser Insel, die damals ein Zentrum des Sklavenhandels gewesen ist. Auch wenn die Geschichte diesen dennoch interessanten Schauplatz schon bald wieder verlässt, zieht sich die düstere Grundstimmung durch das gesamte Buch wie ein roter Faden. Diese Geschichte ist stellenweise grausam, immer wieder brutal und ekelerregend, dunkel, dreckig und unmenschlich. Menschenhandel, Hurerei und Gewalt sind hier allgegenwärtig und ein Spiegel der Zeit. Dies alles verleiht dieser Geschichte zugleich aber auch eine unglaubliche Intensität und Authentizität – und dadurch eine ganz besondere Sogwirkung. Schnell gelangt man in die Handlung hinein, wird mit den Protagonisten vertraut. Doch der Autor erzählt hier nicht eine Geschichte, sondern gleich drei. Zweimal wechselt der Handlungsfaden und ich hatte dabei das Gefühl, ein ganz neues Buch zu beginnen, das kaum Berührungen zu den anderen Handlungen aufweist – ausgerechnet an Stellen, an denen es gerade besonders fesselnd wurde. Erst nach dem diese drei Geschichten sehr weitreichend erzählt sind, fängt Natt och Dag an, diese konsequent und nachdrücklich miteinander zu verknüpfen. Das hat er wahrlich geschickt gemacht. So ergibt sich ein mehrdimensionales Drama, das die Leser berührt und gleichsam schockiert. Am Ende fühlt es sich für mich allerdings an, als bleibe mir der Autor etwas schuldig, ließe mich allein mit drei gebrochenen Protagonisten und einem für mich nicht wirklich befriedigenden Ende. Das hätte ich mir durchaus anders gewünscht!
Bemerkenswert sind für mich an diesem Roman vor allem die außergewöhnlichen Charaktere, allen voran natürlich Jean Michael „Mickel“ Cardell – grobschlächtig, versehrt, aber tief im Inneren doch herzensgut und mit einer gewissen Selbstironie versehen – und Emil Winge, der Zeit seines Lebens im Schatten seines Bruders gestanden hat und nun nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Am liebsten waren mir allerdings die toughe Anna Stina – die allen Widrigkeiten trotzt, alle Niederschläge des Schicksals erträgt – und die Nebenfigur der Lisa Einsam.
Begeistert bin ich von dem wortgewaltigen Schreibstil des Autors, der ganz hervorragend zu einem historischen Roman passt und der sich oft ausgefallener, altertümlicher Worte bedient („Der Talg beginnt zu blaken“, „Diskant“ oder auch „Servilität“).
FAZIT:
Ein gewaltiger historischer Roman, der von menschlichen Dramen und seelischen Abgründen geprägt ist.