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Veröffentlicht am 23.03.2022

Minenfeld Gedächtnis

Der Erinnerungsfälscher
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Wieviel Inhalt ein schmaler Buchband transportieren kann, beweist Abbas Khider sehr eindrucksvoll in seinem neuen Roman „Der Erinnerungsfälscher".
Sein Protagonist Said Al-Wahid hat sich gerade in Deutschland ...

Wieviel Inhalt ein schmaler Buchband transportieren kann, beweist Abbas Khider sehr eindrucksvoll in seinem neuen Roman „Der Erinnerungsfälscher".
Sein Protagonist Said Al-Wahid hat sich gerade in Deutschland eine neue Heimat geschaffen, als sein Bruder ihn aus dem Irak anruft, um ihm mitzuteilen, dass ihre Mutter im Sterben liege und er so schnell wie möglich kommen möge. Sie und Bruder Hakim sind Saids letzte Verbindung zu seiner Familie im Irak. Während seines Fluges nach Bagdad und des kurzen Aufenthaltes in seinem ehemaligen Vaterhaus bestürmen ihn Erinnerungen an sein früheres Leben. Welche Geschehnisse davon sind tasächlich passiert, welche sind „Lückenfüller"?
Khider versteht es meisterhaft, die bruchstückhaften Erinnerungen seines (vielleicht) Alter Ego - zeitlich Stück für Stück rückwärts gehend - in Saids gegenwärtige Existenz als angehender Schriftsteller mit deutschem Pass einzubeziehen. Sein leicht wirkender Schreibstil täuscht allerdings: gerade die kurzen Sätze und die knapp und sachlich formulierten Erinnerungen stecken voll tiefer, dramatischer Bedeutung. Eindrücklich vermitteln sie dem Leser den Grund, warum viele Erinnerungen Saids „zu den Minenfeldern im Gedächtnis …“ gehören, „die er nicht gern betreten möchte", weil sie ihn zerstören könnten. Und weshalb er für sich den Begriff des „Erinnerungsfälschers" nutzt, der traumatische Erlebnisse in seinem Gedächtnis zu unterdrücken sucht.
Gewalt, Verfolgung, Flucht: einen wirklichen Schutzwall kann Saids Gedächtnis dazu nicht aufbauen. Doch der deutsche Pass, den er ständig bei sich trägt, und sein kleiner, in Berlin

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Veröffentlicht am 03.03.2022

Hintergründig

Vertrauen
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Dror Mishani hat einen neuen Fan bekommen: "Vertrauen" ist zwar der erste Roman des israelischen Schriftstellers, den ich gelesen habe, aber seine Kunst, vordergründige Themen auf äußerst hintergründige ...

Dror Mishani hat einen neuen Fan bekommen: "Vertrauen" ist zwar der erste Roman des israelischen Schriftstellers, den ich gelesen habe, aber seine Kunst, vordergründige Themen auf äußerst hintergründige Weise zu erzählen, hat mich fasziniert.
Eigentlich fühlt sich Inspektor Avi Avraham zu Höherem berufen. Doch während er ein Versetzungsgesuch stellt, weil ihn die Bagatellfälle seiner Abteilung langweilen, warten schon die nächsten Aufgaben auf ihn. Die Aussetzung eines Babys und das Verschwinden eines Touristen sollen geklärt werden. Auf den ersten Blick unbedeutend, entwickeln die Fälle dennoch eine Dynamik und erweisen sich als nicht leicht zu knackende Probleme. Und schließlich gerät Avraham auch noch in einen Gewissenskonflikt; denn er scheint bei seinen Ermittlungen dem israelischen Geheimdienst Mossad zu nahe gekommen zu sein.
Mishanis angenehmer, gut lesbarer Schreibstil hält den Leser in Atem. Seine ruhige Art, seine Themen zu vermitteln und sich langsam entwickeln zu lassen, überzeugt. Last but not least versteht der Autor es großartig, die im Vordergrund stehenden Probleme mit Fragen zu verknüpfen, die weit darüber hinaus weisen, und den Protagonisten - und auch den Leser - noch lange beschäftigen.

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Veröffentlicht am 01.10.2021

Hoffnungen

Wenn ich wiederkomme
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Er wollte eigentlich nur "die Geschichte einer Migrantin aus der heutigen Zeit erzählen" - entstanden ist ein wesentlich umfassenderer Roman. Marco Balzano schildert Danielas Aufbruch nach Mailand, ...

Er wollte eigentlich nur "die Geschichte einer Migrantin aus der heutigen Zeit erzählen" - entstanden ist ein wesentlich umfassenderer Roman. Marco Balzano schildert Danielas Aufbruch nach Mailand, um dort mit dem Verdienst aus ihrer Arbeit als Altenpflegerin ihre Familie in Rumänien zu unterstützen. Doch was empfinden ihre zurückgelassenen Kinder? Wie sieht ihr Weiterleben und das ihres Ehemannes aus? Unvorhergesehene Probleme treten auf, obwohl die Großeltern sich nach Kräften bemühen und Angelica ihren jüngeren Bruder beschützt.
Balzano lässt drei der betroffenen Personen zu Wort kommen. Da ist zunächst Manuels Stimme, die sehr intensiv erzählt, wie er die Trennung erlebt und wie sehr er leidet. Danielas Schilderung ihrer Zeit in Mailand und den damit verbundenen Problemen und Sehnsüchten folgt, und im Anschluss erfahren wir auch Angelicas Sicht auf die Verantwortung und die Erwartungen, denen sie selbst sich ausgesetzt sieht. Balzanos klarer Schreibstil spricht den Leser direkt an und zeichnet ein eindrückliches Bild. „Wenn ich wiederkomme“ ist ein berührender, vielschichtiger Roman, der eine exakte Recherchearbeit des Autors verrät.
Alle drei Personen haben Hoffnungen und Träume - werden sie erfüllt? Wie hoch ist der Preis tatsächlich, den die Familie für Danielas (gut gemeinten) Entschluss, die Familie zeitweise für eine Arbeit im Ausland zu verlassen, zahlen muss?

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Veröffentlicht am 05.09.2021

Originell

Barbara stirbt nicht
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Was kann das ruhige, in geordneten Bahnen ablaufende Leben eines Mannes im wohlverdienten Ruhestand noch aus dem Gleichgewicht bringen?
Herrn Schmidts Routine wird von einem Tag auf den anderen zerstört; ...

Was kann das ruhige, in geordneten Bahnen ablaufende Leben eines Mannes im wohlverdienten Ruhestand noch aus dem Gleichgewicht bringen?
Herrn Schmidts Routine wird von einem Tag auf den anderen zerstört; denn seine Frau Barbara, die doch stets „gesund wie ein Pferd“ gewesen ist, liegt plötzlich im Bett, krank und apathisch. Zunächst noch unwillig, nach jahrzehntelanger strikter Aufgabenteilung nun Barbaras Part, die Hausarbeit, zu übernehmen, bleibt Herrn Schmidt doch nichts anderes übrig, wenn er nicht auf seinen gewohnten Kaffee verzichten und nur aufgetaute Speisen essen möchte - und seiner Frau wieder auf die Beine helfen will.
Sehr komisch weiß Alina Bronsky die Hilflosigkeit des alten Mannes bei der Bedienung der Küchengeräte zu schildern, aber auch den Ärger über seinen ungewohnten und ungewollten Einsatz. Wer die Autorin kennt und weiß, wie hintergründig ihre Romane sind, ahnt bereits, dass mehr als nur ein Rollentausch dahinter steckt. Während sie auf humorvolle Weise erzählt, wie sich Walter Schmidts Alltag gründlich ändert, seine Kinder mit gutgemeinten Ratschlägen und Hilfsangeboten zur Stelle sind und seine Frau einfach nicht gesund wird, lässt sie uns an Herrn Schmidts engstirniger Einstellung zu seinen Mitmenschen und seiner Familie teilhaben. Bei aller Schroffheit steht für ihn jedoch fest: „Barbara stirbt nicht“.
Schmidts Lebens“philosophie" wird witzig und zugleich nachdenklich wiedergegeben, schließlich auch in Frage gestellt, so dass er nicht zu einer „Comicfigur" verblasst, sondern eigentlich ein tragischer Charakter ist. Wie viele „Herr Schmidt“ mag es geben auf der Welt?

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Veröffentlicht am 20.07.2021

Gute alte Zeiten?

Das Buch des Totengräbers (Die Totengräber-Serie 1)
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Ein alter Friedhofswärter und ein mit den modernsten Mitteln der Kriminalistik des 19. Jahrhunderts agierender Kommissar finden sich (allerdings eher unfreiwillig) zu einer sehr erfolgreichen Zusammenarbeit. ...

Ein alter Friedhofswärter und ein mit den modernsten Mitteln der Kriminalistik des 19. Jahrhunderts agierender Kommissar finden sich (allerdings eher unfreiwillig) zu einer sehr erfolgreichen Zusammenarbeit. Augustin Rothmayer arbeitet und lebt auf dem Wiener Zentralfriedhof. Seine Beobachtungen und Erkenntnisse, die er bei seiner Arbeit macht, helfen auch dem jungen Leopold von Herzfeldt bei seinen Recherchen zu gleich mehreren ungeklärten Todesfällen. Gibt es vielleicht einen Zusammenhang oder gar einen Serientäter?
In seinem neuen historischen Roman zeigt Pötzsch auf sehr spannende und unterhaltsame Weise, wie gut die alten Zeiten tatsächlich waren. Während im Vordergrund eine schreckliche Mordserie und deren Aufklärung den Leser in Bann zieht, packt Pötzsch eine Vielzahl geschichtlicher Details in seinen Roman, die ihn äußerst lebendig machen und dem Leser die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlich vor Augen führen. Detailliert recherchiert und packend erzählt reicht das Spektrum von der Ablehnung von Reformen und Veränderungen über soziale Missstände und Rassendiskrimination bis hin zu Kindesmissbrauch - keinesfalls nur historische Probleme bzw. Straftaten. Enormer technischer und wissenschaftlicher Fortschritt auf der einen Seite; menschliche Schwächen und Vorurteile auf der anderen, so dass sich der Leser unwillkürlich die Frage stellt: In wie weit haben sich Denken und Verhalten von Menschen verändert?
„Das Buch des Totengräbers“ ist ein wirklich empfehlenswerter Roman mit lebendigen Charakteren, glatten und sperrigen. Ich freue mich schon auf einen zweiten Fall mit Leo und Augustin, dem ungleichen, aber effektiven Ermittlerteam.

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