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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.08.2018

Wunderschön erzählt

Reise zwischen Nacht und Morgen
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Eigentlich ist sein Zirkus am Ende, denkt Valentin Samani. Nach einem verheerenden Brand ist der inzwischen sechzigjährige Zirkusdirektor hoch verschuldet. Da bringt ihm die Postbotin Pia den Brief seines ...

Eigentlich ist sein Zirkus am Ende, denkt Valentin Samani. Nach einem verheerenden Brand ist der inzwischen sechzigjährige Zirkusdirektor hoch verschuldet. Da bringt ihm die Postbotin Pia den Brief seines alten zu Reichtum gekommenen Freundes Nabil Schahin, den er vor Jahrzehnten in Arabien getroffen hat. Dieser ist unheilbar erkrankt und wünscht sich nichts sehnlicher, als die ihm verbleibende Zeit mit Valentin und seinem Zirkus zu verbringen, und verspricht, alle entstehenden Kosten zu übernehmen. Nicht nur der großzügigen Unterstützung wegen geht Valentin gern auf diesen Handel ein und unternimmt die lange, spannende Reise in den Orient.
Wie ein arabischer Geschichtenerzähler präsentiert Rafik Schami seinen Roman. In eindrucksvollen Bildern erlebt der Leser die bunte Zirkuswelt und vollzieht die Freuden und Probleme der Reisenden mit. Ebenso lebendig beschreibt der Autor die Atmosphäre der orientalischen Umgebung; mit leisem Humor und überaus farbig versteht er es, die Stadt Ulania und ihre Bewohner zu schildern - aber auch die Schattenseiten werden nicht verheimlicht. Schnelle Wechsel politischer Systeme und die Macht des Militärs kennt Rafik Schami aus eigenem Erleben. Bereits in den Siebziger Jahren gelangte er als politisch Verfolgter nach Deutschland.
Die „Reise zwischen Nacht und Morgen“ ist ein Roman, in dem Melancholie und Humor eng miteinander verwoben sind; ein Buch, das den Leser auf eine unvergessliche Orientreise mitnimmt.

Veröffentlicht am 23.07.2018

Aufbruch

Ida
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Ida Bauer - als Siegmund Freuds „Fall Dora“ erlangte sie Berühmtheit. Doch abgesehen von Freuds Darstellung ihrer Psyche in der Hysterie-Analyse ist über ihr Leben nicht viel bekannt. Idas Urenkelin, ...

Ida Bauer - als Siegmund Freuds „Fall Dora“ erlangte sie Berühmtheit. Doch abgesehen von Freuds Darstellung ihrer Psyche in der Hysterie-Analyse ist über ihr Leben nicht viel bekannt. Idas Urenkelin, Katharina Adler, versucht nun in ihrem Buch, dem Wesen ihrer Urgroßmutter näher zu kommen.
Mit Bedacht versetzt sich die Autorin in die Person Ida Adler-Bauers. Sie schildert deren Situation stets aus dem Blick ihrer Protagonistin und verknüpft sie mit den vorherrschenden sozialen und politischen Bedingungen des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Ida prägen. Dabei geht die Autorin in ihrem Roman allerdings nicht chronologisch vor, sondern „springt“ in der Zeit, während sie uns Ida in unterschiedlichen Altersphasen nahe bringt - immer wieder einmal unterbrochen von kurzen Auszügen aus Freuds Hysterie-Analyse als Kontrast zu Idas eigenem Erleben. Liegt der berühmte Psychologe richtig mit seinen Deutungen? Ida selbst denkt anders darüber als ihr Arzt und wehrt sich auf ihre Weise.
Katharina Adler präsentiert dem Leser auf unterhaltsame Art die Ergebnisse ihrer Familien-Recherche, wobei manche Frage offen bleiben muss; denn die Protagonistin selbst kann ihre Erklärungen nicht mehr abgeben. Dennoch: aus einer Mischung aus realen Ereignissen und Fiktion ist eine spannende Romanbiografie entstanden, die Idas Leben - vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund - veranschaulicht. Nicht die Patientin als medizinischer Fall steht hier im Mittelpunkt, sondern Ida, der Mensch, und ihr Schicksal.


Veröffentlicht am 12.07.2018

Viel mehr als ein Kriminalroman

Immer Ärger mit Harry
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Ein Toter, den niemand vermisst oder gar betrauert, dafür aber gleich mehrere potentielle Mörder - da ist der Ärger mit Harrys Leichnam vorprogrammiert. Wer Harry zu Lebzeiten gewesen ist, erfährt der ...

Ein Toter, den niemand vermisst oder gar betrauert, dafür aber gleich mehrere potentielle Mörder - da ist der Ärger mit Harrys Leichnam vorprogrammiert. Wer Harry zu Lebzeiten gewesen ist, erfährt der Leser nur am Rande; viel wichtiger ist es dem Autor, die Charaktere der Lebenden zu beleuchten. Und die anscheinend ehrbaren Einwohner von Sparrowswick haben so ihre Geheimnisse.
Jack Trevor Story (1917 – 1991) treibt ein makabres Spiel : so leicht und locker seine Erzählweise den Leser zu fesseln vermag, so dunkel und abgründig präsentiert er die menschliche Seele. „Wir sind alle nett …Ich verstehe gar nicht, wie jemand uns nicht mögen kann“ lässt Trevor einen der Bürger äußern. Mit tiefschwarzem Humor enthüllt er nach und nach, wie diese netten Leute planen, ein vermeintliches Verbrechen unter den Teppich zu kehren. Es liest sich amüsant, aber auch erschreckend: welcher Kontrast zu ihrem alltäglichen Leben offenbart sich hier! Story treibt das Thema satirisch auf die Spitze und stellt dem geradezu grotesken Geschehen um den toten Harry äußerst „lebendige“ Themen gegenüber, die von größerer Bedeutung scheinen. So etwa entstehen durch die Probleme um Harrys Leiche gleich zwei Liebesbeziehungen.
Übrigens handelt es sich bei Miriam Mandelkows Übersetzung um die erste Übertragung des (bereits 1949 in England erschienenen) Romans ins Deutsche. Sie gibt die Intentionen des Autors treffend wieder: Ein sarkastischer Blick auf menschliche Eigenschaften, viel mehr als nur ein Kriminalroman!

Veröffentlicht am 02.07.2018

Staub

Staub
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Sein Leben in Berlin erscheint dem jungen Arzt Jonas Blaum sinnlos. Seine Tablettensucht und die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen einzugehen, bekämpft er vergeblich. Daher nimmt er die Einladung seines ...

Sein Leben in Berlin erscheint dem jungen Arzt Jonas Blaum sinnlos. Seine Tablettensucht und die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen einzugehen, bekämpft er vergeblich. Daher nimmt er die Einladung seines arabischen Freundes Bassan nach Saudi Arabien an. Hier, wo er einen Teil seiner Kindheit verbracht hat, scheint sein Wirken als Mediziner wieder einen Sinn zu erhalten; denn er wird um ärztlichen Rat und Hilfe gebeten. Es erscheint ihm wie ein Wink des Schicksals, dass er sich um Alim kümmern soll, einen zehnjährigen Jungen, der an Progeria leidet, einer Genmutation, welche die frühzeitige Vergreisung im Kindesalter bewirkt. Amman, das Leben in Palästina und die Erfahrungen mit Alim lassen bei Jonas Erinnerungen an seine Kindheit und Familie aufleben. Besonders die Ereignisse um seine jüngste Schwester Semjon, die eigentlich ein Junge sein wollte, haben bei ihm ein Trauma hinterlassen.
Svenja Leiber verwebt geschickt Vergangenheit und Gegenwart miteinander, wobei die Erinnerungen an Semjon wesentlich klarer hervortreten als diejenigen an die anderen Familienmitglieder. Der Stil der Autorin lässt sich zwar leicht lesen, ist aber überaus reich an Bildern und Metaphern, die den Leser immer wieder animieren, inne zu halten und zu grübeln - bereits der Buchtitel ist von allegorischer Bedeutung und wirft Fragen auf. Staub als Symbol von Vergänglichkeit und Schwäche? Oder wird hier „Staub aufgewirbelt“?
So unscheinbar und unwichtig Staub erscheint - er kann enorme Wirkung erzielen. Sehr bildhaft erzählt Leiber von Amman und Jerusalem, die sie aus eigenem Erleben kennt. Und ebenso eindrücklich schildert sie Jonas, einen jungen Mann, der versucht, ein Trauma seiner Kindheit aufzuarbeiten. Er ist ein Mann auf der Suche, vordergründig nach einem Kind, tatsächlich aber auch nach einem Sinn in seinem Leben.

Sein Leben in Berlin erscheint dem jungen Arzt Jonas Blaum sinnlos. Seine Tablettensucht und die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen einzugehen, bekämpft er vergeblich. Daher nimmt er die Einladung seines arabischen Freundes Bassan nach Saudi Arabien an. Hier, wo er einen Teil seiner Kindheit verbracht hat, scheint sein Wirken als Mediziner wieder einen Sinn zu erhalten; denn er wird um ärztlichen Rat und Hilfe gebeten. Es erscheint ihm wie ein Wink des Schicksals, dass er sich um Alim kümmern soll, einen zehnjährigen Jungen, der an Progeria leidet, einer Genmutation, welche die frühzeitige Vergreisung im Kindesalter bewirkt. Amman, das Leben in Palästina und die Erfahrungen mit Alim lassen bei Jonas Erinnerungen an seine Kindheit und Familie aufleben. Besonders die Ereignisse um seine jüngste Schwester Semjon, die eigentlich ein Junge sein wollte, haben bei ihm ein Trauma hinterlassen.
Svenja Leiber verwebt geschickt Vergangenheit und Gegenwart miteinander, wobei die Erinnerungen an Semjon wesentlich klarer hervortreten als diejenigen an die anderen Familienmitglieder. Der Stil der Autorin lässt sich zwar leicht lesen, ist aber überaus reich an Bildern und Metaphern, die den Leser immer wieder animieren, inne zu halten und zu grübeln - bereits der Buchtitel ist von allegorischer Bedeutung und wirft Fragen auf. Staub als Symbol von Vergänglichkeit und Schwäche? Oder wird hier „Staub aufgewirbelt“?
So unscheinbar und unwichtig Staub erscheint - er kann enorme Wirkung erzielen. Sehr bildhaft erzählt Leiber von Amman und Jerusalem, die sie aus eigenem Erleben kennt. Und ebenso eindrücklich schildert sie Jonas, einen jungen Mann, der versucht, ein Trauma seiner Kindheit aufzuarbeiten. Er ist ein Mann auf der Suche, vordergründig nach einem Kind, tatsächlich aber auch nach einem Sinn in seinem Leben.

Veröffentlicht am 01.07.2018

Hintergründig

Der Graben
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Beruflich und gesellschaftlich erfolgreich und absolut von sich selbst überzeugt, zeigt der Amsterdamer Bürgermeister Robert Walter dennoch eine nicht unbedeutende Schwäche: ihn plagt die Eifersucht. In ...

Beruflich und gesellschaftlich erfolgreich und absolut von sich selbst überzeugt, zeigt der Amsterdamer Bürgermeister Robert Walter dennoch eine nicht unbedeutende Schwäche: ihn plagt die Eifersucht. In dem Dezernenten Maarten Van Hoogstraaten glaubt er einen Konkurrenten um die Gunst seiner Frau zu erkennen. Nun sucht er nach Hinweisen für eine mögliche Affäre der beiden und interpretiert jedes Wort, jede Geste seiner Frau und seines Arbeitskollegen.
Doch es geht dem Autoren nicht nur um Walters Unsicherheit und Skepsis. Herman Koch spricht ganz aktuelle, ernste Themen an, wie etwa Flüchtlingsproblematik, Fremdenhass, Umweltprobleme, Selbstmord und erweiterten Suizid. Hautnah und gänzlich ungefiltert erhalten wir Einblick in die Gedankenwelt des Protagonisten und erleben gewissermaßen durch seine Sicht seinen Alltag.
Wie gewohnt schlägt Koch bei seinen Milieuschilderungen einen lockeren, leichten Ton an. Mit Witz und Ironie zeigt er menschliche Schwächen auf und verbindet auf geistreiche Art Unterhaltung mit Tiefsinn. So wie Robert Walter als Protagonist und Mittelpunkt des Romans fungiert, so empfindet er sich auch selbst als Zentrum, sein ganzes Denken kreist um sein Ego. Und das ist nicht der einzige „Graben“, der sich zwischen Walters Sicht auf die Welt und der Realität auftut.
Mein Fazit: Ein hintergründiger Roman, der es schafft, auf spannende und amüsante Art zum Nachdenken anzuregen.