Kluge Gesellschaftskritik
Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines MädchensGabriele Reuter lässt ihren Roman, erstmals erschienen im Jahre 1895, mit einem fröhlichen Fest beginnen. Die fast siebzehnjährige Agathe, voller Neugier und Träume auf eine wundervolle Zukunft, feiert ...
Gabriele Reuter lässt ihren Roman, erstmals erschienen im Jahre 1895, mit einem fröhlichen Fest beginnen. Die fast siebzehnjährige Agathe, voller Neugier und Träume auf eine wundervolle Zukunft, feiert ihre Konfirmation im Kreis ihrer Familie. Konfirmation heißt aber auch Abschied von der Kindheit und Vorbereitung auf das Erwachsenenleben. Für höhere Töchter Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet das die Einführung in die Gesellschaft und ihre Verheiratung. Im Idealfall haben sie sich zu richten nach "Des Weibes Leben und Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter" - einem Werk im Prachteinband, das Agathe als Geschenk zur Konfirmation erhält. Wird die lebensfrohe Agathe die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen?
Voller Empathie erzählt Reuter vom Erwachsenwerden Agathes und ihrem Schicksal als „höhere Tochter", wobei sie sich eines klaren Schreibstils und deutlicher Worte bedient. Sehr einfühlsam schildert sie Agathes Seelenleben.
„Plötzlich wusste ich, wozu ich auf der Welt war: zu künden, was Mädchen und Frauen schweigend litten." schrieb sie einmal. Und tatsächlich, so authentisch kann tatsächlich nur eine Frau die intensiven Empfindungen und widerstreitenden Gefühle einer jungen Frau, hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und eigenen Wünschen, wiedergeben. Auf diese Weise entsteht ein farbiges Sittengemälde, das uns sehr eindrucksvoll die gesellschaftlichen Konventionen und Zwänge des Wilhelminischen Zeitalters, denen Mädchen und Frauen unterworfen waren, vor Augen führt.