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Veröffentlicht am 17.03.2022

Beeindruckend und anstrengend

Maxwells Dämon
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Dieses Buch ist sehr besonders. Es hat mich genervt, amüsiert, geärgert, beeindruckt, gezwickt, gegruselt, manchmal auch gelangweilt, überrascht und verwundert.

Eine Zusammenfassung der Handlung ist schwierig, ...

Dieses Buch ist sehr besonders. Es hat mich genervt, amüsiert, geärgert, beeindruckt, gezwickt, gegruselt, manchmal auch gelangweilt, überrascht und verwundert.

Eine Zusammenfassung der Handlung ist schwierig, das Geschehen ist zu großen Teilen surreal. Thomas Quinn, ein glückloser Autor, der sich damit abgefunden hat, dass er im Schatten seines berühmten Vaters immer höchstens Drittklassisches verfassen kann, passieren plötzlich merkwürdige Dinge. Er bekommt einen Anruf von seinem toten Vater. Er könnte schwören, seine Stimme gehört zu haben. Außerdem erhält er eine Botschaft von Andrew Black, seinem großen Vorbild, der aber nach dem sagenhaften Erfolg seines Krimis aus der Öffentlichkeit verschwunden ist.

Thomas versucht, diesen Ereignissen auf den Grund zu kommen und erlebt dabei immer wieder Verstörendes. Er trifft Menschen, die er aus Romanen zu kennen meint, hat er Halluzinationen? Die Atmosphäre ist finster und gruselig und erinnert an Geschichten von Poe.

Dazwischen bekommen wir lange, kluge Exkurse zu Themen, die Thomas beschäftigen. Es geht um

Entropie in jeder Erscheinungsform, die verlorenen Bücher der Bibel, das Leben, die Liebe und die Frage, ob Ebooks Schuld am Weltuntergang sein könnten. Bisweilen wirkt es ein bisschen wie ein alptraumhafter Literaturkurs, manchmal physikalisch-philosophisch-anstrengend, dann wieder witzig, schräg und gruselig. Ich habe nicht alles verstanden, bin aber tief beeindruckt und habe mich auch köstlich amüsiert. Der Erzählstil ist wundervoll spitzfindig und herrlich ironisch. Nicht jede Erkenntnis, die wir hier erhalten, ist ganz und gar ernst gemeint, aber es bleiben an jeder Stelle Restzweifel. Im Gegenteil, man wird hineingezogen in Gedanken- und Handlungsstrudel, die zum Ende hin zeigen, wie eine Erzählung in entropischem Zustand aussieht.

Dieser Effekt ist im Hörbuch ganz besonders gut gelöst, wenn mit zunehmendem Wahn Stimmen übereinandergelegt werden. Am Ende weiß man gar nicht mehr, was man glauben soll.

Dieses Buch ist ein Erlebnis und eigentlich auch ein Ereignis, weil es so etwas nicht zweimal gibt. Trotzdem ziehe ich einen Stern ab für Mutwilligkeit. Manch kluger Gedanke dient sehr offensichtlich nur dazu, den Leser zu verwirren. Beispielsweise untersuchen wir den Bedeutungsgehalt der Möglichkeit, dass Moses in einem Korb aus Papyrus in die Welt trieb und bekommen Hirnverknotungen schon bei der Frage, warum wir uns diese Frage stellen müssen. Das ist schon fast dreist.

Ich habe zwischendrin mehrfach überlegt, warum ich mir das antue und ob ich das Buch lieber abbrechen sollte. Dann war aber doch die Frage „Was soll das denn?“ fesselnd genug, bis zum Ende durchzuhalten. Letztendlich bin ich froh, dass es vorbei ist, habe aber auch Einzigartiges erlebt und viel gelernt.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

Ein Geniestreich

Tell
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Die Geschichte von Wilhelm Tell hat kennt man vielleicht, hat man auf der Bühne gesehen, mehrfach gelesen, gibt es ein Musical? Auf jeden Fall hat man sie noch nicht wirklich miterlebt, bis man dieses ...

Die Geschichte von Wilhelm Tell hat kennt man vielleicht, hat man auf der Bühne gesehen, mehrfach gelesen, gibt es ein Musical? Auf jeden Fall hat man sie noch nicht wirklich miterlebt, bis man dieses Buch gelesen hat.
In lustig altertümelnder Sprache erzählen hier alle Betroffenen persönlich, wie sie die Geschehnisse um Tell und den Apfel erlebt haben, Tells Familie, Nachbarn, der Pfarrer, einige Soldaten und sogar Gessler, der Landvogt, der Blick wechselt ständig. Es ist ein bisschen wie ein Staffellauf, nach zwei-drei Seiten gibt man das Stöckchen an den nächsten weiter. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, man muss gut aufpassen, aber es macht Spaß und das Leseerlebnis sehr intensiv.
Es ist erschütternd, wenn man dabei ist, wie betrunkene Habsburger sich durchs Land schlagen, schrecklich, was die einfache Bevölkerung in der Schweiz zu erleiden hatte, herzzerreißend jedes einzelne Schicksal. Dieses Buch entwickelt nach kürzester Zeit Sogwirkung, man kann es nicht mehr aus der Hand legen, ist mittendrin und leidet mit.
Joachim B. Schmidt ist hier ein Geniestreich gelungen. Er schafft es bewundernswert, sich in jede einzelne Figur glaubhaft einzufühlen, verleiht auch der kleinsten Randfigur ein Gesicht und einen Hintergrund und das auf nur 288 Seiten. Dazu vermittelt er eindrucksvoll das Ambiente und den Zeitgeist, Mittelalter in der Schweiz, pur und authentisch, großes Kino!
Und letztlich wird auch nicht nur eine Geschichte erzählt. Man bekommt außerdem vorgeführt, wie Legenden entstehen, wie ein eigenbrötlerischer Bergbauer zum Helden werden kann, den heute noch jeder kennt.
Ich bin tief beeindruckt und würde gerne sieben Sterne verteilen für ein absolutes Ausnahmebuch mit Schleife und Glöckchen.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

Höchst detailreicher Krimi

Vertrauen
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Dies ist das vierte Buch, in dem Inspektor Avi Avraham ermittelt. Von Dror Mishani hatte ich bislang nur „Drei“ gelesen und wusste nicht, dass es sich um eine Krimireihe handelt. Das ist ein klein wenig ...

Dies ist das vierte Buch, in dem Inspektor Avi Avraham ermittelt. Von Dror Mishani hatte ich bislang nur „Drei“ gelesen und wusste nicht, dass es sich um eine Krimireihe handelt. Das ist ein klein wenig desillusionierend, aber nicht der Fehler dieses Buches per se. Dieses Buch ist ein waschechter Krimi, das sollte man wissen.

Avi Avraham bekommt an einem Tag direkt zwei neue Fälle auf den Tisch. Ein Baby wird vor einem Krankenhaus in einer Tasche gefunden und ist mehr tot als lebendig. Und ein Hotel vermisst einen Hotelgast. Geht es mit rechten Dingen zu, wenn jemand morgens sein Hotel verlässt und nachmittags „Verwandte“ seine Rechnung begleichen und das Gepäck abholen?

Die Qualität dieses Krimis liegt in der Personenzeichnung. Hier ermittelt jemand mit Herz und einem Gewissen, der sogar eine glückliche Ehe führt. Auch sein Team ist engagiert und bemüht, die Menschen zu sehen, mit denen sie zu tun haben, nicht nur den Fall.

Es fängt harmlos an und steigert sich nach und nach zu einem verzwickten Knäuel von Beziehungen und Zusammenhängen. Man folgt mehreren falschen Fährten, erlebt Überraschungen und bekommt auch eine ordentliche Prise israelisches Lebensgefühl mit auf den Weg.

Allerdings macht dieses Buch auch alles, weswegen ich Krimis nicht leiden kann: Es wird ermittelt, verhört, befragt, Erkenntnisse resümiert und verglichen und das ausführlich und detailverliebt. Ein Wust an Namen und Befindlichkeiten ist zu verarbeiten, zahlreiche Schlenker zu verdauen. Es ist alles sehr spitzfindig, aber auch sehr anstrengend.

Bestimmt ist dieses Buch ein besonderer Leckerbissen für Krimifans, die es knifflig mögen. Für mich war es ein zäher Ausflug nach Israel, dem eine Prise Humor gut gestanden hätte.

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Veröffentlicht am 22.02.2022

Tolles Thema, mäßiges Buch

Das Mädchen mit dem Drachen
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Usha Vishwakarma ist in Indien eine berühmte Frau. Sie hat die „Rote Brigade“ gegründet, eine Frauenkampftruppe, um indischen Mädchen zu zeigen, wie sie sich gegen Männer wehren können. Allein die Tatsache, ...

Usha Vishwakarma ist in Indien eine berühmte Frau. Sie hat die „Rote Brigade“ gegründet, eine Frauenkampftruppe, um indischen Mädchen zu zeigen, wie sie sich gegen Männer wehren können. Allein die Tatsache, dass so eine Truppe bitter nötig ist, ist eigentlich schon ein Buch wert.

Hier bekommt man einen kleinen Einblick in dieses Thema. Léna, eine Lehrerin aus Frankreich, macht eine Reise nach Indien und wird mit einigen Ungerechtigkeiten konfrontiert. Je mehr sie vom Leben indischer Mädchen mitbekommt, desto mehr möchte sie helfen. Sie lernt Preeti kennen, die ganz nach Ushas Vorbild eine Mädchenkampftruppe anführt. Zusammen versuchen sie, eine Schule für die Kinder der untersten Kasten ins Leben zu rufen.

So weit ist das genau ein Buch nach meinem Geschmack. Leider wird hier dieses hoch spannende Thema mit viel Pathos und dramatischen Schlenkern zur Schmonzette aufgeplustert. Schon der Grund, warum Léna nach Indien reist, ist eine absolut unnötige Tragödie, die ein paar bemühte Geheimnisse liefert, aber ansonsten nur vom Thema ablenkt. Das stellt sogar Léna selbst in ein fragwürdiges Licht. Ist sie nur so aufopferungsvoll hilfsbereit, weil sie Ablenkung von ihren eigenen Problemen braucht?

Generell lässt die Personenzeichnung zu wünschen übrig. Wir haben hier einiges an spannendem Personal, das kein rechtes Gesicht bekommt. Die Figuren sind leblos, die Dialoge hölzern, der Erzählstil meist referierend mit gelegentlichen blumigen Schlenkern.

Die Qualität dieses Buches ist, dass es die Situation sehr plausibel schildert. Man bekommt Beispiele, die zeigen, mit was ein indisches Mädchen alles zu kämpfen hat und man bekommt sogar Gründe dafür aufgezeigt. Es hätte ein anrührendes Buch sein können, wäre Léna nicht so eine Superheldin, die sich selbstlos jeder Gefahr stellt, damit andere ein besseres Leben haben können.

Das Hörbuch dauert nur 4 Stunden, 46 Minuten, obwohl es ungekürzt ist. Es wird von Cathlen Gawlich gelesen, die einen guten Job macht, es aber auch nicht schafft, der dürftigen Vorlage Leben einzuhauchen.
Fazit: Tolles Thema, mäßiges Buch.

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Veröffentlicht am 19.02.2022

Großes Kino

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Dieses Buch ist ein großer Spaß.

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls will man Spektakuläres bieten. Ein Held muss her, am besten ein unbekannter. War da nicht was mit einer Massenflucht? Michael Hartung ...

Dieses Buch ist ein großer Spaß.

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls will man Spektakuläres bieten. Ein Held muss her, am besten ein unbekannter. War da nicht was mit einer Massenflucht? Michael Hartung könnte dieser neue Held sein, findet ein Journalist. Natürlich hat Hartung damals das Stellwerk so beeinflusst, dass ein Zug unerlaubt in den Westen fuhr, aber es war ein Unfall. Der Presse ist das egal.

„Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“

Wunderbar humorvoll wird hier die Geschichte eines unfreiwilligen Helden erzählt, der unbeholfen aber sympathisch ist und in eine Situation gerät, die immer absurder wird. Dabei wir auch einiges an Ost-West-Problematik aufgearbeitet:

„Er fand es seltsam, dass diese ganzen laktoseintoleranten Rotzgören einschließlich ihrer nervigen Eltern die gute alte Vollmilch ja quasi zum Gift erklärt hatten. Wischnewski würde jede Wette eingehen, dass es Laktoseintoleranz in der DDR nicht gegeben hatte. Es hatte jede Menge andere Formen von Intoleranz gegeben, das schon, aber wegen eines Viertelliters Milch hatte sich doch im Osten niemand ins Hemd gemacht.“

Es wird philosophiert, analysiert und auch die ein oder andere Wahrheit ausgesprochen:

„Freiheit, hören Sie doch auf mit diesem Quatsch. Wer will denn wirklich frei sein? Warum arbeiten die Menschen ewig lange im selben Betrieb? Warum heiraten sie? Warum schaffen sie sich einen kleinen Garten an, in den sie dann jedes verdammte Wochenende fahren. Warum buchen sie ihr Ferienhaus an der Ostsee schon ein Jahr im Voraus? Weil sie frei sein wollen?“

Und obwohl man sich eingelebt und es sich in der Schublade mit niveauvollem Humor schön bequem gemacht hatte, mausert sich das Ganze sogar noch unerwartet zu einer anrührenden Geschichte, die ans Herz geht. Großes Kino!

Der Sprecher des Hörbuchs ist auch eine Entdeckung. Seine Stimme ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber man gewöhnt sich erstaunlich schnell daran und dann passt sie ganz wunderbar zu Hartung, dem Helden vom Bahnhof Friedrichstraße.

Tolles Buch, tolles Hörbuch, dicke Empfehlung!

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