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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.03.2017

Über Liebe und Einsamkeit im Alter

Unsere Seelen bei Nacht
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Ein treffendes Sprichwort, um dieses nur 197 Seiten umfassende Büchlein zu charakterisieren, wäre „In der Kürze liegt die Würze“. Schon mit dem Einleitungssatz „Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore ...

Ein treffendes Sprichwort, um dieses nur 197 Seiten umfassende Büchlein zu charakterisieren, wäre „In der Kürze liegt die Würze“. Schon mit dem Einleitungssatz „Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte“ wird der Leser mitten hinein ins Leben der beiden verwitweten, einander nur flüchtig bekannten Nachbarn, beide jenseits der 70, geworfen. Addie macht Louis den kühnen Vorschlag, hin und wieder nachts bei ihr zu schlafen und zu reden. Es solle nicht um Sex gehen, sondern darum die Nacht zu überstehen. Tatsächlich liegen sie dann nachts beieinander und erzählen sich ihre – durchaus tragischen – Lebensgeschichten. Gemeinsame Unternehmungen folgen. Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte. Leider sehen sie sich den Vorurteilen der meist intoleranten Kleinstädter ausgesetzt und vor allem dem erbitterten Widerstand von Addies Sohn. Ob sie „darüber stehen“ werden, muss man unbedingt selbst lesen. Die Geschichte liest sich auf jeden Fall sehr gut. Dabei schadet es überhaupt nicht, dass wörtliche Reden, aus denen der Text überwiegend besteht, nicht kenntlich gemacht sind. Viele Beschreibungen von Natur und von Begebenheiten erinnern dem Schreibstil nach an Schulaufsätze jüngerer Kinder, da kurze Sätze aneinandergereiht werden. Die eine oder andere Passage ist amüsant. Mit einem Gespräch unserer beiden Protagonisten über einen Autor aus Colorado, der Bücher über Holt schreibt – eben jener fiktiven Kleinstadt, in der die Geschichte angesiedelt ist -, („Er könnte Bücher über uns schreiben“ sagt Addie. „Ich will in keinem Buch vorkommen“ antwortet Louis) landet Haruf einen besonderen Coup. Denn von ihm selbst ist die Rede.

Das Buch lehrt uns, toleranter gegenüber Liebe unter Senioren zu werden und ist absolut lesenswert.

Lohnenswert ist auch, das Buchcover zu betrachten. Wie beim Diogenes-Verlag üblich, wird auf bekannte Motive zurückgegriffen – hier „Yellow House 1“ von Alex Katz.

Veröffentlicht am 08.03.2017

Über Sterben und Sterbenlassen und dennoch kein bisschen traurig

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
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Wer die Bedeutung der Überschrift kennt, weiß, worum es in dem Buch geht. Das Fenster im Zimmer eines gerade Gestorbenen wird geöffnet, damit seine Seele entweichen kann. Thema ist also der Tod, was aber ...

Wer die Bedeutung der Überschrift kennt, weiß, worum es in dem Buch geht. Das Fenster im Zimmer eines gerade Gestorbenen wird geöffnet, damit seine Seele entweichen kann. Thema ist also der Tod, was aber von der Lektüre überhaupt nicht abschrecken muss. Der Sonderling Fred, allein erziehender Vater und übergewichtig, ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter und versucht dieser schweren Aufgabe zum ersten Mal im Fall der unheilbar an Krebs erkrankten Karla gerecht zu werden. Anfangs macht er alles falsch, was nur falsch gemacht werden kann, weil er es eigentlich nur gut meint. Leicht hat er es aber ohnehin nicht mit der starrköpfigen, unfreundlichen Karla. Erst durch den Hausmeister in Karlas Haus und seinen 13jährigen Sohn Phil – Sonderling wie er, der Lyrik verschrieben, kleinwüchsig -, dem er bei Karla einen Job als Fotoarchivar verschafft, bekommt er einen Draht zu Karla. Ja, und am Ende wird Fred es sein, der ihr Fenster öffnet.

Das Buch ist ein schöner Beitrag dazu, sich einmal mit unangenehmen Tabuthemen wie Tod, Sterben, Sterbebegleitung zu beschäftigen. Alles wird sehr einfühlsam, manchmal humorvoll und vor allem überhaupt nicht traurig geschildert. Die Dialoge der ehrenamtlichen Sterbebegleiter in ihren regelmäßigen Supervisionssitzungen lesen sich recht amüsant. Alle Romanfiguren gehen am Ende gestärkt aus dem Geschehen hervor, auch in ihren Beziehungen zueinander. Vor allem die Vater-Sohn-Beziehung von Fred und Phil entwickelt sich zum Positiven. Es gibt sogar ein Familiengeheimnis in Karlas Vergangenheit, dessen nähere Umstände man allerdings nur erahnen kann. Wechselnde Perspektiven sorgen für Abwechslung beim Lesen.

Ich kann das Buch wirklich empfehlen.

Veröffentlicht am 05.03.2017

Wie es ist, als Sohn eines Kriminellen aufzuwachsen

So, und jetzt kommst du
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Mit diesem Buch präsentiert uns der 1971 geborene Autor seine eigene Familiengeschichte.
Geschildert werden im Wesentlichen die beginnenden 80er Jahre. Vom Wunsch beseelt, das große Geld zu machen und ...

Mit diesem Buch präsentiert uns der 1971 geborene Autor seine eigene Familiengeschichte.
Geschildert werden im Wesentlichen die beginnenden 80er Jahre. Vom Wunsch beseelt, das große Geld zu machen und was Besseres zu sein, hängt der Vater seine Arbeitsstelle an den Nagel und tätigt windige Geschäfte. Mit dem Geld aus einer Unterschlagung flüchtet er vor der Polizei mit Frau und drei Kindern nach Südfrankreich. Zunächst lebt die Familie recht komfortabel, bis das Geld zur Neige geht und Interpol den Vater aufspürt. Wieder auf der Flucht landen sie in Portugal, Paris, ihrer Heimat Kaiserslautern und München. Der soziale Verfall ist unaufhaltsam.

Obwohl die Kindheit des Autors sehr tragisch ist und man mit ihm weiß Gott nicht hätte tauschen mögen, ist der Grundtenor der Geschichte überhaupt nicht traurig oder anklagend, sondern hat durchaus komische und groteske Züge, so dass das Lesen Spaß macht. Die einzelnen Stationen der langen Odyssee werden eher fragmentarisch dargeboten. Das beruht wohl darauf, dass der Autor immerhin noch ein Kind war und entsprechend unvollständig seine Erinnerungen sind. Ebenfalls nur angedeutet werden aus diesem Grund viele der Machenschaften des Vaters, die ein Kind altersgemäß kaum ermessen kann. Doch fällt es dem Leser nicht schwer, die nötigen Schlussfolgerungen selbst zu ziehen. Bewundernswert ist der starke Familienzusammenhalt. Es konnte immer schlimmer werden und sich der Strick um den Vater immer enger schließen - die Familie hat sich nie getrennt und sogar noch Hunde in den Verband aufgenommen, obwohl sie selbst kaum zu essen hatte. Wer die 80er Jahre selbst erlebt hat, wird manchen, Erinnerungen weckenden Hinweis auf sie finden, wie z.B. die Erwähnung der braunen Alpecin-Haarwasserflasche oder von Revell-Bausätzen. Der Buchtitel ist passend zur Geschichte gewählt. Es handelt sich um einen mehrfach benutzten Spruch des Vaters gegenüber seinem Sohn, wenn dieser erwartungsgemäß den hochtrabenden Plänen seines Vaters nichts entgegenzusetzen hat.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen.

Veröffentlicht am 18.02.2017

Über Migration und Neuanfang

Der Mann, der Luft zum Frühstück aß
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Als Erzählung lässt sich dieses kurze, 123 Seiten umfassende Büchlein am ehesten einordnen. Bei aller Kürze ist sie ausführlich genug, um einen umfassenden Einblick in das Leben des Protagonisten Walerian, ...

Als Erzählung lässt sich dieses kurze, 123 Seiten umfassende Büchlein am ehesten einordnen. Bei aller Kürze ist sie ausführlich genug, um einen umfassenden Einblick in das Leben des Protagonisten Walerian, dem Ich-Erzähler, zu erhalten. Als Zwölfjähriger wurde er entwurzelt, indem ihn seine Mutter von Polen nach Wien „entführte“. Das sich anschließende Trauma mit Sprachbarrieren, Schulproblemen, Gelegenheitsjobs überwindet er schließlich mit der Erkenntnis, das Boot selbst steuern zu müssen. Damit sind wir auch schon bei der Moral der Geschichte – nicht in der Vergangenheit und bei der Frage verharren, was wäre gewesen, wenn; sondern sein zukünftiges Leben aktiv gestalten. Alles wird uns recht humorvoll und in einem wunderschönen, ganz besonderen Erzählstil dargebracht, so dass es Spaß macht, das Buch zu lesen, zumal bzgl. der Migration ein durchaus aktueller Anlass besteht. Vielleicht gibt dieses Buch sogar eine gute Schullektüre ab.

Veröffentlicht am 16.02.2017

Raus aus der Alterseinsamkeit

Weit weg ist anders
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Zwei 70jährige Frauen, die grantige, stets sehr direkte und das Alleinsein liebende Berlinerin Edith Scholz und die weinerlich veranlagte, esoterische, manipulationsfreudige Christel Jacobi lernen sich ...

Zwei 70jährige Frauen, die grantige, stets sehr direkte und das Alleinsein liebende Berlinerin Edith Scholz und die weinerlich veranlagte, esoterische, manipulationsfreudige Christel Jacobi lernen sich in der Reha kennen. Freundinnen werden sie nicht grade und lassen in der Gedankenwelt ihrer Abneigung gegenüber der anderen nur zu gerne freien Lauf. Dennoch folgt Edith einer Einladung Christels in deren Heimatstadt Husum. Was Edith nicht weiß ist, dass die unheilbar kranke Christel die Besucherin als Mittel zum Zweck einsetzt, um mit ihr eine letzte Reise antreten zu können, die zur Bewährungsprobe der sich allmählich doch entwickelnden zarten Freundschaft wird.

Obwohl die Geschichte immer wieder ernste Themen behandelt – Altersgebrechlichkeit, Krankheit, Einsamkeit, das bevormundet werden im Alter – ist ihr Grundton alles andere als ernst. Das wird schon auf den ersten Seiten offensichtlich, als recht humorvoll der folgenschwere Sturz von Edith Scholz in ihrer Wohnung beschrieben wird. Später bereitet es dann immer wieder Vergnügen, die sich im Kopf der beiden alten Damen abspielenden lästernden Gedanken zu lesen, die an der jeweils anderen kein gutes Haar lassen. Dass sich trotzdem ganz allmählich so etwas wie Freundschaft zwischen den grundverschiedenen Frauen entwickelt, ist umso schöner. Schade nur, dass diese Episode aufgrund äußerer tragischer Umstände so kurz bleiben muss. Obwohl die Geschichte kein Happy End hat, stößt man sich hieran nicht. Ein anderes Ende hätte wohl eher unrealistisch gewirkt. Neben den beiden Protagonistinnen sind auch die Nebenfiguren gelungen dargestellt – vor allem der auf ihm eigene Art einsame Briefträger und der „Witwentröster“. Ein schönes Detail, das allen Bücherfreunden gefallen wird, ist, dass den belesenen Protagonistinnen einige literarische Zitate in den Mund gelegt werden, z.B. „Sturheit ist die Energie der Dummen“ von Mark Twain (S. 226).

Dieses Buch kann ich wärmstens empfehlen.