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Veröffentlicht am 02.08.2018

Ein Gerechter

Am Seil
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In Wien lebt die Jüdin Regina mit ihrer kleinen Tochter Lucia. Während des zweiten Weltkrieges sind schon viele Verwandte geflohen oder verschwunden. Die Repressalien gegen die jüdischen Mitbürger werden ...

In Wien lebt die Jüdin Regina mit ihrer kleinen Tochter Lucia. Während des zweiten Weltkrieges sind schon viele Verwandte geflohen oder verschwunden. Die Repressalien gegen die jüdischen Mitbürger werden immer schlimmer. Als die Not am größten ist und sie der Aushebung ihrer Sammelwohnung und der Deportation nur dadurch entgehen, dass sie in eben genau jenem Moment zwar auf dem Heimweg, aber nicht daheim sind, greift als Retter Reinhold Duschka ein, der beste Freund von Lucias Vater. Ohne lange zu zögern oder nach einem Dank zu fragen, bringt er Regina und ihre Tochter in seiner Werkstatt für das Kunsthandwerk unter. Dort müssen die beiden zwar peinlich darauf achten, nicht aufzufallen, im Trubel der Werkstätten aber kann ihre Gegenwart untergehen.

Der Autor Erich Hackl nimmt sich häufiger der Geschichten von Menschen an, die es verdient haben, ein solches literarisches Denkmal zu erhalten. Zusammengesetzt aus Lucias Erinnerungen, Recherchen und Vermutungen zeichnet er das Bild eines Retters, dem es eine Selbstverständlichkeit war, Schutz zu gewähren. Über vier lange Kriegsjahre half er unermüdlich und verlangte nichts. Sehr nahe geht einem auch die Qual und die Angst, die Regina und ihre Tochter empfinden mussten angesichts der überall lauernden Gefahr.

Möglicherweise bedarf es einer gewissen Gewöhnung an die Art wie kurze Sätze und Worte aneinandergereiht werden. Vielleicht wirken die Perspektivwechsel etwas eigen. Hat man sich dem Duktus des Autors allerdings geöffnet, findet man eine berührende Schilderung von wahren Schicksalen, eine Perle einer Erzählung. Man spürt wie bedrückt und bedroht das Leben der Beteiligten in jeder Sekunde dieser Lebensphase ist, wie sehr sie die Entdeckung fürchten, die mögliche Denunziation, wie sie versuchen, der Langeweile zu entgehen. Auch die Erleichterung als dieser unselige Krieg mit seinen menschenfeindlichen Auswüchsen endlich zu Ende ist gut nachzuempfinden. Man freut sich, das Lucia, Regina und Reinhold nach dem Krieg ein freies und selbstbestimmtes Leben beschieden war, von dem Lucia berichten kann. Man wünscht sich, es gäbe viel zu berichten von solchen Menschen.

Reinhold Duschka - ein Gerechter unter den Völkern.

Veröffentlicht am 22.07.2018

Das Portrait

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
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Was bliebt ist ein Portrait, dass Finn von seiner Patentochter June und ihrer Schwester Greta gemalt hat. Finn ist tot. Er hat eine große Lücke in die Familie gerissen, obwohl nicht alles über ihn gesagt ...

Was bliebt ist ein Portrait, dass Finn von seiner Patentochter June und ihrer Schwester Greta gemalt hat. Finn ist tot. Er hat eine große Lücke in die Familie gerissen, obwohl nicht alles über ihn gesagt werden durfte. Die Mutter der Kinder, deren Bruder er war, hatte strenge Regeln aufgestellt, wenn es um den Umgang innerhalb der Familie ging. June, ist gerade erst 14 geworden, sie ist schier untröstlich. Finn war nicht nur der beste Patenonkel, er war auch ihr bester Freund. Die zwei Jahre ältere Greta, die immer toll ist und alles schafft, kann seine Stelle nicht einnehmen. Da erhält June eine Nachricht, von dem, über den nicht gesprochen werden durfte.

Äußerlich scheint June eher unscheinbar, doch sie hat ein großes Herz. Natürlich ist auch sie nicht frei von Neid und Missgunst, auch Eifersucht kennt sie gut. Die alles überstrahlende Greta hat nur wenig Zugang zu ihrem Leben. Doch auch June will mal die sein, die zuerst kommt. Vielleicht ist ihre Beziehung zu Finn deshalb so besonders. Ihr besonderer Onkel ist eben ihr Patenonkel und nicht der beider Schwestern. Manchmal denkt June mit Wehmut an die Zeit zurück als sie und Greta noch die besten Schwestern und engsten Freundinnen waren, sie eine Einheit bildeten.

In der Zeit angesiedelt als AIDS den Erkrankten nicht viel Zeit zum Überleben ließ bietet dieser Entwicklungsroman nicht nur eine Erinnerung an die grausamen Auswirkungen der Krankheit, er reißt einen auch hinein in eine Familie, die trauert, weil sie vor der Zeit einen lieben Menschen verloren hat. Ein Mensch, der fehlbar schien wie jeder eigentlich, den man ungern gehen ließ und doch gehen lassen musste. Mit der Trauer geht jeder anders um. Doch irgendwie hat jeder einen sehr lieben Freund, Bruder oder Onkel verloren. Niemand kann Finn ersetzen, doch vielleicht kann jemand in der Trauer helfen, der selbst den größten Verlust erlitten hat. June erfährt vieles von Finn, das sie vor seinem Tod nicht erfahren hat. Finn-Geschichten, die ihr helfen mit der Leere klarzukommen. Und es bleibt das Portrait, das erstaunliche Veränderungen durchmacht, je nachdem aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.

Ein berührendes Werk über Verlust und Trauer, aber auch Hoffnung, denn in jedem Ende wohnt auch ein Anfang inne.

4,5 Sterne

Veröffentlicht am 19.06.2018

Für die Bedürftigen

Die rote Frau
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Nein, so ist es kein schönes Leben. Rayonsinspektor August Emmerich lebt im Männerwohnheim, seine Kriegsverletzung schmerzt, oft nagt der Hunger und in der Dienststelle muss er Hilfsarbeiten leisten. Auch ...

Nein, so ist es kein schönes Leben. Rayonsinspektor August Emmerich lebt im Männerwohnheim, seine Kriegsverletzung schmerzt, oft nagt der Hunger und in der Dienststelle muss er Hilfsarbeiten leisten. Auch für die Bevölkerung Wiens bringt das Jahr 1920 nicht viel Gutes. Viele Menschen haben keine Arbeit, leiden Hunger, leben am Rande der Gesellschaft. Die Folgen des ersten Weltkrieges sind noch lange nicht überwunden. Als ein beliebter Politiker ermordet wird, möchte Emmerich an der Untersuchung beteiligt werden. Doch die Vorgesetzten lassen ihn und seinen Assistenten Winter außen vor. August Emmerich wäre aber nicht er selbst, wenn er sich davon entmutigen lassen würde.

Zwar hat es August Emmerich in seinem zweiten Fall zur Abteilung „Leib und Leben“ geschafft, seine Tätigkeit dort hätte er sich allerdings anders vorgestellt. Nicht viel mehr als Zuarbeiten darf er leisten. Dabei will er doch auf die Straße und ermitteln. In einer eher nebensächlichen Angelegenheit gelingt es ihm, ein schnelles Ergebnis abzuliefern. Und damit hat er seinem Chef das Versprechen abgerungen, in die Morduntersuchung einbezogen zu werden. Schnell allerdings ist ein Verdächtiger gefasst, einer der Ärmsten der Gesellschaft, und Emmerich hat nur wenig Zeit, dessen Unschuld zu beweisen.

Aufmüpfig, intelligent und pfiffig macht sich August Emmerich an die Arbeit. Wenn die Vorgesetzten nicht hinter ihm stehen, geht er eben auf eigene Faust los. Sein Kollege Winter ist dabei meist an seiner Seite und wirkt ausgleichend auf ihn ein. Der Mord an dem Politiker kommt wie ein simpler Fall daher, vielleicht ein mißglückter Raub. Doch bald schon ergeben sich Spuren, die auf eine wahrhaft menschenfeindliches Komplott hindeuten.

Sehr anschaulich schildert die Autorin das Dasein der einfachen Menschen im Wien des Jahres 1920. Ein hartes Leben, das viele Entbehrungen beinhaltet. Das kleine Glück scheint beinahe unerreichbar. Und die wenigen hilfreichen Menschen, die die Situation verbessern wollen, sehen sich ungeahnten Widerständen gegenüber. Über den Fall wird dazu noch eine geradezu perfide Menschensicht der damaligen Zeit, von der man nicht glauben sollte, dass sie völlig überwunden ist, dargestellt. Und ein zunächst unspektakulärer Fall bekommt eine große Tiefe. Man ist mitgerissen und entsetzt und hat doch immer in Gedanken, dass diese Vergangenheit nicht fern ist. Schön wäre es, wenn die Menschen menschlich blieben, Sicherheit gibt es leider nicht. Und die Wurzeln des Übels wurden vielleicht schon zu damaligen Zeiten gesät.

Ein herausragender historischer Kriminalroman, der seinem Vorgänger in Nichts nachsteht.

Veröffentlicht am 30.05.2018

Madiha

Unter Fremden
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Schon in Syrien hat es Madiha in der Familie nicht leicht gehabt. Mit letzter Kraft ermöglicht ihr Vater ihr die Flucht. Nur mit Hilfe eines weiteren Flüchtlings mit Namen Harun schafft Madiha es nach ...

Schon in Syrien hat es Madiha in der Familie nicht leicht gehabt. Mit letzter Kraft ermöglicht ihr Vater ihr die Flucht. Nur mit Hilfe eines weiteren Flüchtlings mit Namen Harun schafft Madiha es nach Deutschland zu gelangen. Als Harun eines Tages verschwunden ist, reagiert Madiha sehr besorgt. Sie beginnt Fragen nach Haruns Verbleib zu stellen und eine Betreuerin begleitet Madiha zur Polizei, um Haruns Verschwinden anzuzeigen. Bald darauf wird Madihas Spind angezündet und sie beginnt, sich beobachtet zu fühlen. Der kleine Straßenjunge Faisal ist ihr zunächst eher eine Last, aber bald wird der Junge so etwas wie Familie für Madiha.

Wie ist es, sich in einem fremden Land aufzuhalten, in dem man zwar die Sprache leidlich beherrscht, die Gepflogenheiten aber nicht kennt und nicht weiß, wo man wie hingelangt, wie man Informationen bekommt, wie das Leben funktioniert. Setzt man jeden Schritt noch vorsichtiger als es eine alte Verletzung eh schon verlangt, tritt man mutig auf oder ängstlich. Fühlt man sich ein wenig wie ein Blinder, für den ja auch alles sehr fremd wirken muss. Und doch, trotz aller Umstände, die vielleicht dazu führen könnten, den Kopf einzuziehen und die Ereignisse geschehen zu lassen, Madiha lässt nicht locker. Harun hat ihr geholfen und nun will sie ihm ihre Dankbarkeit erweisen, indem sie ihm hilft.

Dieses Hörbuch ist sehr eindringlich vorgetragen von Eva Meckbach, man beginnt tatsächlich, den Versuch zu starten, sich in Madiha hineinzuversetzen. Natürlich kann das nicht zur Gänze gelingen, schließlich war man noch nicht in der Fremde, um zu bleiben. Mit einem Urlaub ist es gewiss nicht zu vergleichen, auch wenn man dort manchmal die Unsicherheit spüren kann, die ein nicht Beherrschen der Sprache oder die Konfrontation mit anderen Schriftzeichen mit sich bringen können. Doch man selbst hat die Sicherheit, wieder heimzukönnen. Madiah hat noch nicht einmal die Sicherheit, dem Krieg entflohen zu sein. Dennoch strafft sie ihre Schultern und geht voran. Ihr Weg verlangt ihr etliches ab, doch sie hat auch die Chance eine neue Familie zu finden. Wenn Vertrauen auf der einen Seite enttäuscht wird, kann es vielleicht doch an anderer Stelle aufgebaut werden.

Ein spannender Kriminalroman aus einer außergewöhnlichen Perspektive berichtet, der sich als würdiger Preisträger des Friedrich Glauser Preises 2018 erweist. Selten hat man so einen packenden Einblick in die Welt der Flüchtlinge bekommen können.

Veröffentlicht am 27.05.2018

Verzeihen möglich?

Patria
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Sie sind die besten Freundinnen Bittori, die Frau des Spediteurs, und Miren, die Frau des Arbeiters. Jede Woche gönnen sie sich eine Auszeit von den Familien und tauschen im Café die neuesten Gerüchte ...

Sie sind die besten Freundinnen Bittori, die Frau des Spediteurs, und Miren, die Frau des Arbeiters. Jede Woche gönnen sie sich eine Auszeit von den Familien und tauschen im Café die neuesten Gerüchte aus. Allerdings gewinnt im Baskenland die Eta immer mehr Einfluss, einen Einfluss, der es den Freundinnen schwer macht, befreundet zu bleiben. Schließlich stehen sie politisch gewissermaßen auf unterschiedlichen Seiten. Als Bittoris Mann von der Eta ermordet wird, ist es mit der Freundschaft vorbei. Bittori zieht in eine andere Stadt, so wie es ihre Kinder wollten. Doch Jahre später spürt sie das Bedürfnis, in ihr Haus, in ihr Dorf zurückzukehren.

Zwei starke Frauen gehen ihren Weg, einen Weg, auf es viel Leid und Trauer gibt, der hin und wieder Gutes bringt. Auf ihre Art störrisch sind sie beide. Ihr Leben auf grausame Art verändert hat der Terrorismus. Und doch stehen sie als Frau des Opfers und als Mutter des mutmaßlichen Täters auf unterschiedlichen Seiten unbarmherzig gegenüber. Es kann keine Vergebung geben. Ihrer beider Schicksal und das ihrer Kinder verläuft unterschiedlich und dennoch sind sie alle gezeichnet. Von den Kindern ist keines so richtig glücklich, sie alle haben mit dem zu kämpfen, an dem sie sich schuldig fühlen. Als Mirens Tochter schwer erkrankt kommt es zu einer Wiederannäherung der Familien.

Mit aller Deutlichkeit schildert Fernando Aramburu die Auswirkungen des Terrors auf die Familien. Er schon keinen weder Täter noch Opfer noch den Leser. Damit gibt er auch eine herausragende Gelegenheit, sich mit dem Thema zu befassen. Die Anwendung von Terror zur Durchsetzung politischer Ziele erscheint so nutzlos und zerstörerisch. Nicht nur die Opfer und ihrer Familien erfahren endloses Leid, auch die Täter und ihre Familien bleiben fürs Leben gezeichnet. Eine gewisse Form von Gelassenheit oder Gemütsruhe kann es nur geben, wenn zum einen Zeit ins Land geht und zum anderen die Menschen beginnen miteinander zu reden. Ob ein Verzeihen möglich ist, kann nur ein Augenblick entscheiden. Der Augenblick, in dem der eine entscheidet, um Verzeihung zu bitten, der Augenblick, in dem der andere die Bitte gewährt. Nichts wird dadurch ungeschehen, doch es kann eine Art Frieden mit dem Erlebten geschlossen werden, der es erlaubt, nicht mehr nur das Leben der Schuld zu leben.

Ein umfangreicher Roman, in dem kein Wort überflüssig ist, der Weg des Verzeihens ist nicht an einem Tag gegangen.