9,90
€
inkl. MwSt
- Verlag: Schenk Verlag
- Genre: Krimis & Thriller / Krimis & Thriller
- Seitenzahl: 672
- Ersterscheinung: 30.09.2008
- ISBN: 9783939337553
Abyssus
Der Abgrund
Der Computer-Spezialist Alan Osborne ist Erbauer des ersten Rechners mit künstlicher Intelligenz. Während seines Aufenthaltes auf einer IT-Messe in Paris wird er in immer dunklere Intrigen verstrickt. Er durchlebt eine Zeit, in der die Relikte mittelalterlichen Aberglaubens mit der Rationalität des Computerzeitalters wetteifern. Wir begleiten ihn auf seiner Reise durch die dunkle Geschichte von Paris, durch die Mysterien der Logen und Geheimgesellschaften. Es ist eine Expedition durch das Reich der Magie, der Kabbala und der Bibel. Dabei lüftet er auch das größte Rätsel der Bruderschaft der Tempelritter, deren letzter Vertreter das Mysterium des „Abyssus“ hütet. Im Mittelalter brachten die Templer „Das Buch des Abyssus“ aus Jerusalem nach Paris. Es weist den Weg bis zum Abyssus und darüber hinaus zur Göttlichkeit.
Der Begriff „Abyssus“ entstammt der Terminologie der Kabbala. Er bezeichnet den Abgrund zwischen der Trinität Gottes und seiner Schöpfung, die der Sündenfall voneinander trennte. Zur Überwindung dieser Kluft schuf Gott ein System von zehn Stufen: die Sefiroth. Sie symbolisieren die unterschiedlichen Zustände von Geist und Materie und befähigen den Menschen, Gott zu verstehen. Die Sefiroth sind die Stufen zu Gott oder sogar zur Vergöttlichung. Allerdings ist der Weg dorthin ein nicht ungefährliches Unterfangen. Denn für „Abyssus“ wird in der Kabbala auch den Begriff „Abaddon“ verwendet, womit das Totenreich „Sche’ol“ gemeint ist, in dessen bodenlosen Tiefen die elfte Sefira namens Daath, der leibhaftige Tod, haust.
Mit Hilfe des legendären Grafen von Saint-Germain begibt sich Osborne - nicht ganz freiwillig - auf einen Kreuzzug gegen eine Sippe geheimnisvoller Hexen, in deren Hände das mächtige Buch gelangt ist. Ehe die ihren tödlichen Fehler begreifen, befreit ihr Ritual den höllengleichen Abyssus aus seiner Verbannung. Der Abgrund öffnet sich unter dem Zentrum von Paris und verschlingt jede Form von Materie.
Der Tag des Jüngsten Gerichts bricht an. Und nur Alan Osborne könnte den Weltuntergang noch aufhalten. Wenn er nur wüsste, wie.
Abyssus I. KAPITEL
Sterben Sie wohl, Monsieur Osborne
21 Uhr 13 – JFK Airport, New York
Mit provozierender Behäbigkeit kroch eine Kakerlake von der Größe einer Vogelspinne unter der Toilettentür hindurch. Langsam, vorsichtig, pirschte sie an dem Türsockel vorbei und spähte um die Ecke. Ihre Fühler, zwei organische Fäden, die frei schwebend auf der Stirn eines erbsengroßen Kopfes befestigt waren, beschrieben kreisförmige Schwingungen, als wären sie keinerlei Luftwiderstand oder Schwerkraft ausgesetzt. Polypenhafte, sich unentwegt windende und drehende, mit tausenden Sinneszellen ausgestattete Antennen, zur Orientierung und Kommunikation bestimmte Kontaktorgane. Im Vergleich zum Körper erschien ihr kahler, missgestalteter Kopf unproportional winzig. Den halben Nacken bedeckte ein von einer glänzenden Schleimschicht überzogener Halsschild. Die Augen des Insekts glichen winzigen Höhlen; wie in verfaultes Gummi getriebene Löcher, in die jemand zum Scherz zwei Stecknadeln mit vorquellenden Köpfen gestochen hatte. Kleine Wülste und Kerben säumten die Flanken des mattbraunen, glitschigen Chitinpanzers. Er reflektierte das schwach schimmernde Licht grünlich fluoreszierender Leuchtstoffröhren von der Decke und warf hüpfende Schattenstrukturen auf urinbesprenkelte Fliesen. Die schorfige Bauchunterseite, die ein ranziges Sekret verströmte, raschelte scharf über den Steinboden wie grobkörniges Schmirgelpapier auf einer Schiefertafel.
Beim Anblick des unerwarteten Besuchers legte Alan Osbornes Herz automatisch einen höheren Gang ein. Versteinert hockte der Computerexperte auf der Toilettenschüssel und richtete seinen Blick auf das Insekt, als wäre es der einzige Fixpunkt im Universum, als hätte er nie etwas so Schreckliches gesehen. Er blinzelte, als könne er damit die Schabe auflösen. Aber ihre Realität ließ sich nicht bestreiten.
Aufreizend träge nahmen die fünfgliedrigen, an den Gelenkkapseln blitzartig gezackten und dornenbestückten Fadenbeinchen Kurs auf die blank polierten Guccis. Hier bahnte sich eine Auseinandersetzung zwischen einem arglosen Anzugträger mit Aktentasche und einem penetranten Insekt an.
Seit gut einer halben Stunde okkupierte der Amerikaner die Kabine der Flughafentoilette und mühte sich mit einer Mahlzeit, die sich seit letztem Abend ihren Weg durch seinen Verdauungstrakt wühlte. In gewisser Weise war er selbst schuld daran, dass sein Magen rebellierte. Vielleicht hatte er doch nicht gut daran getan, gestern einen Schnellimbiss namens „Joe’s Diner“ aufzusuchen. Die kulinarischen Delikatessen - er hatte einen opulenten Eiersalat auf Toast genommen - erschienen ihm schon vor dem Verzehr von eher zweifelhafter Qualität. Möglicherweise war aber auch nur die Nervosität wegen des bevorstehenden Flugs nach Paris Ursache seines momentanen Unwohlseins.
Wer den Mann so zusammengekrümmt auf dem nach beißendem Ammoniak riechenden Klosett kauern sah, hätte kaum erraten, dass er einer der großen Pioniere auf dem Gebiet der KI-Forschung war. Alan Osborne hatte als Erster Bewusstsein – künstliche Intelligenz – nachgebaut, das Computern eigenes, verantwortliches Handeln ermöglichte. Er hatte einen außergewöhnlichen Rechner entworfen, der biologische Systeme realistisch simulierte und Mikrotechnologie mit synthetischer Sinneswahrnehmung kombinierte. Sehen, Hören, Geschmacks- und Geruchssimulation, Tastsinn, Gefühl für Gewicht, Raum und Zeit. Technisierte Natur unter Ausschaltung des Faktors „menschliches Versagen“. Dieser Rechner ermöglichte Einsichten in neue Vorstellungen, die zu komplex für das menschliche Gehirn waren. Beobachten, denken, entscheiden, dann handeln. Perfektion durch genaueste Analyse möglichst vieler Daten. Geschaffen zur Lösung der großen Probleme der Menschheit.
Bei seinem momentanen Schaben-Problem konnte ihm allerdings kein Computer helfen. Höchstens als Wurfgeschoss.
Noch immer gelähmt von der unerwarteten Schreckenserfahrung durch die Begegnung mit dem Ungeziefer, stemmte sich der Wissenschaftler gegen die paralysierende Trägheit. Er versuchte, den Blick von der Schabe zu lösen, indem seine Augen der Ellipse, die sie quer über die Kachelquadrate des Bodens beschrieb, vorauseilten.
Angewidert und eher aus einem Impuls als aus einer bewussten Entscheidung heraus, zog er seine Füße erst langsam Stückchen für Stückchen Richtung Porzellanfuß der Toilette zurück, um sie dann in einer ruckartigen Bewegung vollends heranzuziehen, bis eine Ferse heftig gegen den Keramiksockel stieß. Der Schmerz machte ihn wütend. Im ersten Affekt suchte er nach etwas, womit er dem Insekt einen tödlichen Schlag versetzen konnte. Die Kakerlake schien zu ahnen, was auf sie zukam. Die beiden fühlerähnlichen Extremitäten an ihrem Hinterleib, die Cerci, registrierten im Verbund mit den Kopffühlern und den Subgenualorganen, den Schienen an den Beinen, variierende Schallwellen, Erschütterungen und Veränderungen des Luftdrucks. Diese Informationen leiteten sie an das innere Warnsystem weiter. Abrupt blieb die Kakerlake stehen und richtete ihre vorderen Zehn-Zentimeter-Fühler auf.
So schnell wie die Mordgedanken gekommen waren, verwarf Osborne sie wieder. Es widerstrebte ihm grundsätzlich, ein Tier zu töten. Da bildeten auch Unterklassen wie Insekten keine Ausnahme. So widerlich die Kakerlake auch aussah, er sträubte sich dagegen, sie einfach tot zu klatschen; zumal diese Spezies keine Unbekannte für einen echten New Yorker war.
Der „Palmetto Bug“, der „Bombay Canary“, die „Blatta orientalis“, die „Blatella germanica“, die „Periplaneta australasiae“ oder die „Megaloblatta blaberoides“, die mit fast zehn Zentimetern Körperlänge und einer Flügelspannweite von fast siebzehn Zentimetern eine der größten ihrer Art war, und viele andere der über 3.500 Schabenarten hatten den „Big Apple“ als ihre Hauptstadt auserkoren.
Einst waren sie auf den Sklavenschiffen aus Afrika und den Passagier- und Handelsschiffen aus Europa illegal eingereist. Auf dem neuen Kontinent hatten sie sich dann fleißig vermehrt. Inzwischen lebten allein in New York mehrere hundert Millionen von ihnen. Heute reiste das Insekt bevorzugt im Flugzeug von Kontinent zu Kontinent. In Lebensmittellieferungen aus aller Welt gelangte es in die Lager der Händler und Gastronomen. Längst fristete das Ungeziefer kein Schattendasein mehr in feuchten Kellern und in der Kanalisation. Als anpassungsfähigstes Insekt der Welt hatte die Schabe sehr schnell die Annehmlichkeiten der Zivilisation entdeckt. Beheizte Apartments und Büros entpuppten sich für sie als grandioses Disneyland. Einige Arten nisteten besonders gern in Fernsehern, Computern oder Rauchmeldern, wo sie das Isoliermaterial fraßen und damit den einen oder anderen Kurzschluss oder Feueralarm auslösten. Überhaupt zeigten sich Schaben, was die Nahrung betraf, erstaunlich flexibel. Im Grunde fraßen sie alles, vom Buchbinderleim über Tapete oder Seife, bis zu sich selbst.
Wurde es dunkel, wagten sich die wuseligen Untermieter aus ihren Schlupflöchern. In Scharen krabbelten sie über die schlafenden Wohnungsbesitzer und knabberten mit Vorliebe an deren Fingernägeln und Haaren, oder sie saugten ihnen den Speichel aus den Mundwinkeln, was nicht ganz ungefährlich war, denn als so genannte Vektorenen galten sie als Überträger verschiedener Infektionskrankheiten.
Einer Studie zufolge war jede Sozialwohnung der Vereinigten Staaten mit über 30.000 Kakerlaken verseucht. Tendenz steigend. Ein Schabenweibchen war im Alter von 21 Tagen fruchtbar. Die Spezies teilte sich in ovipare, in Eier legende, und in vivipare, in lebend gebärende, Tiere. Die oviparen Arten entwickelten Ootheken, harte wasserundurchlässige Eibehälter. Einige Weibchen trugen sie wenige Tage, andere bis zu dreißig oder fünfzig Tagen bis kurz vor Schlüpfen der Larven am Hinterleib mit sich herum. Je nach Größe und Spezies enthielt so ein Eipaket zwischen 16 und 36 Kakerlaken-Embryos. Wie alle hemimetabolen Insekten war ihre Entwicklung bei der Geburt unvollständig. Ehe die Larve ausgewachsen war, durchlief sie mehrere Stadien. Bis zu sechsmal häutete – oder besser: sprengte – sie ihren zu klein gewordenen Chitinpanzer. In ihrem einjährigen Leben brachte es ein Kakerlakenweibchen auf ungefähr 1.500 Nachkommen.
Nicht selten entfernten Kammerjäger das Ungeziefer schaufelweise aus Wohnungen. In einem Fall entdeckten sie unter einem Teppich eine kniehohe Kakerlakenmasse. Einmal lösten Schaben in einem Bus Panik aus. Als der Fahrer die Wagenheizung anstellte, sprangen tausende erschrockene Schaben aus den Heizkörpern und fielen wie eine Lawine über die Passagiere her.
Jetzt hatte sich eines dieser Tiere in die Toilettenkabine des New Yorker JFK-Flughafens verirrt. Regungslos stand es da und harrte der Dinge, die da kommen würden. Doch es kam nichts. Das Einzige, was es sah, war ein seltsamer Mann, der es mit vorquellenden Augen anstarrte, so als suche er einen rettenden Anker, der ihn vor der Verdammnis bewahrte. Wie erbärmlich.
Einen Moment lang wirkte die Schabe ein bisschen konfus. Erst drehte sie sich nach rechts, dann wandte sie sich nach links und schließlich doch wieder nach rechts zur Wand hin. Während Osborne wie gelähmt da saß, tat ihm die Kakerlake den Gefallen und verschwand. Ihr oval abgeflachter, für ein Leben in engsten Ritzen und Fugen optimal ausgestatteter Körper glitt hinter den Spülkasten.
Der Wissenschaftler saß wie fest gemeißelt auf dem WC. Er verdrehte den Kopf, um einen Blick in die düstere Nische hinter sich zu werfen. Die Kakerlake war irgendwo dort. Flach auf den Boden gepresst versteckte sie sich vor ihm. Sie wartete. Sie war nicht geflüchtet. Sie lauerte. Er ahnte das in einer Art dumpfer Gewissheit. Doch trotz der enormen Verrenkung konnte er den ungebetenen Gast nirgendwo entdecken. Alles ruhig. Nichts geschah.
Dadurch einerseits beruhigt, andererseits aber auch nicht, wartete er einige Sekunden, dann wandte er sich wieder nach vorn. Im selben Moment nahm er zu seinen Füßen eine Bewegung wahr.
Die Kakerlake schnellte aus ihrem Versteck hervor. Sie sauste unter der Toilettenschüssel hervor, schoss auf den Schuh zu und bremste direkt hinter dem Absatz. Vor Schreck vergaß dessen Besitzer seine Verdauungsbeschwerden. Es war ein Gefühl, als hätte ihm jemand einen Kürbis in den Magen geschleudert. Ruckartig schob er den Fuß vor. Das Insekt verharrte unbeweglich. Der Computerexperte ließ es keinen Moment aus den Augen. Der besseren Sicht wegen beugte er sich vor und überlegte, was er tun sollte.
Der Begriff „Abyssus“ entstammt der Terminologie der Kabbala. Er bezeichnet den Abgrund zwischen der Trinität Gottes und seiner Schöpfung, die der Sündenfall voneinander trennte. Zur Überwindung dieser Kluft schuf Gott ein System von zehn Stufen: die Sefiroth. Sie symbolisieren die unterschiedlichen Zustände von Geist und Materie und befähigen den Menschen, Gott zu verstehen. Die Sefiroth sind die Stufen zu Gott oder sogar zur Vergöttlichung. Allerdings ist der Weg dorthin ein nicht ungefährliches Unterfangen. Denn für „Abyssus“ wird in der Kabbala auch den Begriff „Abaddon“ verwendet, womit das Totenreich „Sche’ol“ gemeint ist, in dessen bodenlosen Tiefen die elfte Sefira namens Daath, der leibhaftige Tod, haust.
Mit Hilfe des legendären Grafen von Saint-Germain begibt sich Osborne - nicht ganz freiwillig - auf einen Kreuzzug gegen eine Sippe geheimnisvoller Hexen, in deren Hände das mächtige Buch gelangt ist. Ehe die ihren tödlichen Fehler begreifen, befreit ihr Ritual den höllengleichen Abyssus aus seiner Verbannung. Der Abgrund öffnet sich unter dem Zentrum von Paris und verschlingt jede Form von Materie.
Der Tag des Jüngsten Gerichts bricht an. Und nur Alan Osborne könnte den Weltuntergang noch aufhalten. Wenn er nur wüsste, wie.
Abyssus I. KAPITEL
Sterben Sie wohl, Monsieur Osborne
21 Uhr 13 – JFK Airport, New York
Mit provozierender Behäbigkeit kroch eine Kakerlake von der Größe einer Vogelspinne unter der Toilettentür hindurch. Langsam, vorsichtig, pirschte sie an dem Türsockel vorbei und spähte um die Ecke. Ihre Fühler, zwei organische Fäden, die frei schwebend auf der Stirn eines erbsengroßen Kopfes befestigt waren, beschrieben kreisförmige Schwingungen, als wären sie keinerlei Luftwiderstand oder Schwerkraft ausgesetzt. Polypenhafte, sich unentwegt windende und drehende, mit tausenden Sinneszellen ausgestattete Antennen, zur Orientierung und Kommunikation bestimmte Kontaktorgane. Im Vergleich zum Körper erschien ihr kahler, missgestalteter Kopf unproportional winzig. Den halben Nacken bedeckte ein von einer glänzenden Schleimschicht überzogener Halsschild. Die Augen des Insekts glichen winzigen Höhlen; wie in verfaultes Gummi getriebene Löcher, in die jemand zum Scherz zwei Stecknadeln mit vorquellenden Köpfen gestochen hatte. Kleine Wülste und Kerben säumten die Flanken des mattbraunen, glitschigen Chitinpanzers. Er reflektierte das schwach schimmernde Licht grünlich fluoreszierender Leuchtstoffröhren von der Decke und warf hüpfende Schattenstrukturen auf urinbesprenkelte Fliesen. Die schorfige Bauchunterseite, die ein ranziges Sekret verströmte, raschelte scharf über den Steinboden wie grobkörniges Schmirgelpapier auf einer Schiefertafel.
Beim Anblick des unerwarteten Besuchers legte Alan Osbornes Herz automatisch einen höheren Gang ein. Versteinert hockte der Computerexperte auf der Toilettenschüssel und richtete seinen Blick auf das Insekt, als wäre es der einzige Fixpunkt im Universum, als hätte er nie etwas so Schreckliches gesehen. Er blinzelte, als könne er damit die Schabe auflösen. Aber ihre Realität ließ sich nicht bestreiten.
Aufreizend träge nahmen die fünfgliedrigen, an den Gelenkkapseln blitzartig gezackten und dornenbestückten Fadenbeinchen Kurs auf die blank polierten Guccis. Hier bahnte sich eine Auseinandersetzung zwischen einem arglosen Anzugträger mit Aktentasche und einem penetranten Insekt an.
Seit gut einer halben Stunde okkupierte der Amerikaner die Kabine der Flughafentoilette und mühte sich mit einer Mahlzeit, die sich seit letztem Abend ihren Weg durch seinen Verdauungstrakt wühlte. In gewisser Weise war er selbst schuld daran, dass sein Magen rebellierte. Vielleicht hatte er doch nicht gut daran getan, gestern einen Schnellimbiss namens „Joe’s Diner“ aufzusuchen. Die kulinarischen Delikatessen - er hatte einen opulenten Eiersalat auf Toast genommen - erschienen ihm schon vor dem Verzehr von eher zweifelhafter Qualität. Möglicherweise war aber auch nur die Nervosität wegen des bevorstehenden Flugs nach Paris Ursache seines momentanen Unwohlseins.
Wer den Mann so zusammengekrümmt auf dem nach beißendem Ammoniak riechenden Klosett kauern sah, hätte kaum erraten, dass er einer der großen Pioniere auf dem Gebiet der KI-Forschung war. Alan Osborne hatte als Erster Bewusstsein – künstliche Intelligenz – nachgebaut, das Computern eigenes, verantwortliches Handeln ermöglichte. Er hatte einen außergewöhnlichen Rechner entworfen, der biologische Systeme realistisch simulierte und Mikrotechnologie mit synthetischer Sinneswahrnehmung kombinierte. Sehen, Hören, Geschmacks- und Geruchssimulation, Tastsinn, Gefühl für Gewicht, Raum und Zeit. Technisierte Natur unter Ausschaltung des Faktors „menschliches Versagen“. Dieser Rechner ermöglichte Einsichten in neue Vorstellungen, die zu komplex für das menschliche Gehirn waren. Beobachten, denken, entscheiden, dann handeln. Perfektion durch genaueste Analyse möglichst vieler Daten. Geschaffen zur Lösung der großen Probleme der Menschheit.
Bei seinem momentanen Schaben-Problem konnte ihm allerdings kein Computer helfen. Höchstens als Wurfgeschoss.
Noch immer gelähmt von der unerwarteten Schreckenserfahrung durch die Begegnung mit dem Ungeziefer, stemmte sich der Wissenschaftler gegen die paralysierende Trägheit. Er versuchte, den Blick von der Schabe zu lösen, indem seine Augen der Ellipse, die sie quer über die Kachelquadrate des Bodens beschrieb, vorauseilten.
Angewidert und eher aus einem Impuls als aus einer bewussten Entscheidung heraus, zog er seine Füße erst langsam Stückchen für Stückchen Richtung Porzellanfuß der Toilette zurück, um sie dann in einer ruckartigen Bewegung vollends heranzuziehen, bis eine Ferse heftig gegen den Keramiksockel stieß. Der Schmerz machte ihn wütend. Im ersten Affekt suchte er nach etwas, womit er dem Insekt einen tödlichen Schlag versetzen konnte. Die Kakerlake schien zu ahnen, was auf sie zukam. Die beiden fühlerähnlichen Extremitäten an ihrem Hinterleib, die Cerci, registrierten im Verbund mit den Kopffühlern und den Subgenualorganen, den Schienen an den Beinen, variierende Schallwellen, Erschütterungen und Veränderungen des Luftdrucks. Diese Informationen leiteten sie an das innere Warnsystem weiter. Abrupt blieb die Kakerlake stehen und richtete ihre vorderen Zehn-Zentimeter-Fühler auf.
So schnell wie die Mordgedanken gekommen waren, verwarf Osborne sie wieder. Es widerstrebte ihm grundsätzlich, ein Tier zu töten. Da bildeten auch Unterklassen wie Insekten keine Ausnahme. So widerlich die Kakerlake auch aussah, er sträubte sich dagegen, sie einfach tot zu klatschen; zumal diese Spezies keine Unbekannte für einen echten New Yorker war.
Der „Palmetto Bug“, der „Bombay Canary“, die „Blatta orientalis“, die „Blatella germanica“, die „Periplaneta australasiae“ oder die „Megaloblatta blaberoides“, die mit fast zehn Zentimetern Körperlänge und einer Flügelspannweite von fast siebzehn Zentimetern eine der größten ihrer Art war, und viele andere der über 3.500 Schabenarten hatten den „Big Apple“ als ihre Hauptstadt auserkoren.
Einst waren sie auf den Sklavenschiffen aus Afrika und den Passagier- und Handelsschiffen aus Europa illegal eingereist. Auf dem neuen Kontinent hatten sie sich dann fleißig vermehrt. Inzwischen lebten allein in New York mehrere hundert Millionen von ihnen. Heute reiste das Insekt bevorzugt im Flugzeug von Kontinent zu Kontinent. In Lebensmittellieferungen aus aller Welt gelangte es in die Lager der Händler und Gastronomen. Längst fristete das Ungeziefer kein Schattendasein mehr in feuchten Kellern und in der Kanalisation. Als anpassungsfähigstes Insekt der Welt hatte die Schabe sehr schnell die Annehmlichkeiten der Zivilisation entdeckt. Beheizte Apartments und Büros entpuppten sich für sie als grandioses Disneyland. Einige Arten nisteten besonders gern in Fernsehern, Computern oder Rauchmeldern, wo sie das Isoliermaterial fraßen und damit den einen oder anderen Kurzschluss oder Feueralarm auslösten. Überhaupt zeigten sich Schaben, was die Nahrung betraf, erstaunlich flexibel. Im Grunde fraßen sie alles, vom Buchbinderleim über Tapete oder Seife, bis zu sich selbst.
Wurde es dunkel, wagten sich die wuseligen Untermieter aus ihren Schlupflöchern. In Scharen krabbelten sie über die schlafenden Wohnungsbesitzer und knabberten mit Vorliebe an deren Fingernägeln und Haaren, oder sie saugten ihnen den Speichel aus den Mundwinkeln, was nicht ganz ungefährlich war, denn als so genannte Vektorenen galten sie als Überträger verschiedener Infektionskrankheiten.
Einer Studie zufolge war jede Sozialwohnung der Vereinigten Staaten mit über 30.000 Kakerlaken verseucht. Tendenz steigend. Ein Schabenweibchen war im Alter von 21 Tagen fruchtbar. Die Spezies teilte sich in ovipare, in Eier legende, und in vivipare, in lebend gebärende, Tiere. Die oviparen Arten entwickelten Ootheken, harte wasserundurchlässige Eibehälter. Einige Weibchen trugen sie wenige Tage, andere bis zu dreißig oder fünfzig Tagen bis kurz vor Schlüpfen der Larven am Hinterleib mit sich herum. Je nach Größe und Spezies enthielt so ein Eipaket zwischen 16 und 36 Kakerlaken-Embryos. Wie alle hemimetabolen Insekten war ihre Entwicklung bei der Geburt unvollständig. Ehe die Larve ausgewachsen war, durchlief sie mehrere Stadien. Bis zu sechsmal häutete – oder besser: sprengte – sie ihren zu klein gewordenen Chitinpanzer. In ihrem einjährigen Leben brachte es ein Kakerlakenweibchen auf ungefähr 1.500 Nachkommen.
Nicht selten entfernten Kammerjäger das Ungeziefer schaufelweise aus Wohnungen. In einem Fall entdeckten sie unter einem Teppich eine kniehohe Kakerlakenmasse. Einmal lösten Schaben in einem Bus Panik aus. Als der Fahrer die Wagenheizung anstellte, sprangen tausende erschrockene Schaben aus den Heizkörpern und fielen wie eine Lawine über die Passagiere her.
Jetzt hatte sich eines dieser Tiere in die Toilettenkabine des New Yorker JFK-Flughafens verirrt. Regungslos stand es da und harrte der Dinge, die da kommen würden. Doch es kam nichts. Das Einzige, was es sah, war ein seltsamer Mann, der es mit vorquellenden Augen anstarrte, so als suche er einen rettenden Anker, der ihn vor der Verdammnis bewahrte. Wie erbärmlich.
Einen Moment lang wirkte die Schabe ein bisschen konfus. Erst drehte sie sich nach rechts, dann wandte sie sich nach links und schließlich doch wieder nach rechts zur Wand hin. Während Osborne wie gelähmt da saß, tat ihm die Kakerlake den Gefallen und verschwand. Ihr oval abgeflachter, für ein Leben in engsten Ritzen und Fugen optimal ausgestatteter Körper glitt hinter den Spülkasten.
Der Wissenschaftler saß wie fest gemeißelt auf dem WC. Er verdrehte den Kopf, um einen Blick in die düstere Nische hinter sich zu werfen. Die Kakerlake war irgendwo dort. Flach auf den Boden gepresst versteckte sie sich vor ihm. Sie wartete. Sie war nicht geflüchtet. Sie lauerte. Er ahnte das in einer Art dumpfer Gewissheit. Doch trotz der enormen Verrenkung konnte er den ungebetenen Gast nirgendwo entdecken. Alles ruhig. Nichts geschah.
Dadurch einerseits beruhigt, andererseits aber auch nicht, wartete er einige Sekunden, dann wandte er sich wieder nach vorn. Im selben Moment nahm er zu seinen Füßen eine Bewegung wahr.
Die Kakerlake schnellte aus ihrem Versteck hervor. Sie sauste unter der Toilettenschüssel hervor, schoss auf den Schuh zu und bremste direkt hinter dem Absatz. Vor Schreck vergaß dessen Besitzer seine Verdauungsbeschwerden. Es war ein Gefühl, als hätte ihm jemand einen Kürbis in den Magen geschleudert. Ruckartig schob er den Fuß vor. Das Insekt verharrte unbeweglich. Der Computerexperte ließ es keinen Moment aus den Augen. Der besseren Sicht wegen beugte er sich vor und überlegte, was er tun sollte.