Kein Thriller, eher ein ruhiger Krimi mit psychologischem Nachbrenn-Effekt. Grandios vorgelesen
Ein kleines Mädchen wird tot in einer stillgelegten Fabrik gefunden, es ist 1928, Stockholm. John Sterner (sprich: Scherna; zumindest laut Hörbuch) ermittelt. Er ist routiniert, beginnt mit den üblichen ...
Ein kleines Mädchen wird tot in einer stillgelegten Fabrik gefunden, es ist 1928, Stockholm. John Sterner (sprich: Scherna; zumindest laut Hörbuch) ermittelt. Er ist routiniert, beginnt mit den üblichen Untersuchungen. Fingerabdrücke, Spurensicherung, die DNS kann man noch nicht nutzen und auch niemanden kurz mit dem Handy anrufen – ansonsten unterschied sich für mich überraschend wenig von heutigen Ermittlungen. Wer hat sie gefunden und warum, ist seine Aussage glaubwürdig, gab es Zeugen, wie kam das Mädchen dorthin, Ingrid heißt sie, mit wem hat sie sich vor ihrem Tod getroffen und wo, die Verzweiflung der Mutter, hätte der Vater, der kein Kind wollte, ein Motiv.
Sterner verspricht der Mutter, den Mord an ihrer Tochter aufzuklären, verbeißt sich immer mehr in den Fall, ermittelt erfolglos bei „den üblichen Verdächtigen“. Ein Mann im Park hat sich mit der Kleinen getroffen, ihr Geld gegeben, um Glanzbilder zu kaufen (ich nehme an, das, was ich als „Lackbilder“ kenne?). Nach Sterners vorzeitigem Ruhestand spürt ein Journalist ihn im Urlaub auf, es ist inzwischen 1953. Er möchte über ungeklärte Fälle schreiben und hat auch diesen einen, den, der Sterner nie losließ, ausgewählt. Und Sterner erinnert sich, hat Kopien der Akten, Tagebuchnotizen, taucht noch einmal tief in das Geschehen ein, erzählt. Der Mord ist kurz davor, nach nun fast 25 Jahren zu verjähren (Anmerkung: was in Deutschland bei Mord nie der Fall ist).
Der Ton ist ruhig, Sterner hat schon alles gesehen. Oft lässt der Autor den Leser am inneren Monolog des Ermittlers teilhaben, der sonst eher wortkarg ist. Eigentlich ist er emotional, hängt sehr an seiner Frau, das scheint aber mehr in seinem Inneren stattzufinden. Ich habe erstaunlich wenig das Gefühl gehabt, im „Früher“ zu sein, bis auf Hut und Anzug und die noch nicht entwickelte Technik lassen sich kaum Unterschiede wahrnehmen. Selbst die beschriebene Form des Zusammenlebens, die „Stockholmer Ehe“, bevor Sterner geheiratet hatte, die unverheiratete Mutter des Mädchens, wecken kein Naserümpfen.
Einen Thriller sehe ich hier nicht, viel „police procedural“, Mitlesen bei der Fußarbeit, mit psychologischen Ansätzen. Pontus Ljunghill lässt in seinem Debüt viel Zeit und Raum für Details, für den langsamen Fortschritt. Früh liest man aber auch aus der Sicht des Täters – nur in dessen Kopf findet zwischen ihm und Sterner eine Art Wettbewerb statt, während Sterner mir eher gegen sich zu kämpfen scheint, gegen das „Nicht-Aufklären“. Wenn einer nicht weiß, dass der andere auch ihn als Gegner wahrnimmt, ist es dann ein Wettkampf, kann es dann ein psycholgischer Spannungsroman sein?
Gelesen ist das genial von Bodo Primus, der sogar das, was als verschiedene schwedische Dialekte angekündigt wird, darstellen kann. Gehört konnte ich das haben, die Langsamkeit, dieses ruhige Voranschreiten, auch das häufige „sagte“ – was tat er, sagte er. Dieses und jenes, sagte sie. Mein alter Deutschlehrer hätte mir das um die Ohren gehauen, hier passte es. Trotzdem, gerade vom Schluss her, hat mich das .. ja was? Überrascht, umgehauen, geschockt, enttäuscht, verwundert? Irgendwie alles und nichts davon. Das ist schon definitiv ein Coup, ganz anders, aber auch irgendwie nicht alles „ganz“. Sterners Ehefrau Carolina ging mir mit ihrer Anspruchshaltung auf die Nerven, beim Täter nervte mich die Innensicht – und dieser Hass soll dann eventuell später zur Ruhe gekommen sein?
Für ruhige Stunden, gerne gehört, definitiv nicht für die klassischen Thriller-Leser. Für mich fing die eigentliche Geschichte in der Nacht nach dem Buch an, als ich über die Geschichte nach der Geschichte nachdachte. Für diesen „Nachbrenner“ 4 Sterne.