Besser als jede Talkshow zum Thema
REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr ...
REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebenden Schriftstellers und Historikers Rafael Seligmann (75) auch nach 23 Jahren nichts an seiner gesellschaftspolitischen Brisanz verloren. Im Gegenteil: Angesichts des aktuell wachsenden Antisemitismus ist er aktuell wie zuvor und kann immer noch zum besseren Verständnis des deutsch-jüdischen wie des deutsch-israelischen Verhältnisses beitragen. Denn beiderseitiges Verständnis, aber auch Streit - „Streit wie in der Judenschule“ - sind nach Seligmanns Auffassung unabdingbare Voraussetzung, um die nach dem Holocaust zurückgebliebenen seelischen Verletzungen bei Opfern und Tätern sowie bei deren Nachkommen zu heilen. Diese tiefgreifende Vielschichtigkeit der Konflikte nach der Shoah bei den Überlebenden, ihren Angehörigen und deren Nachkommen beschreibt Seligmann, selbst Sohn eines jüdischen Emigranten aus Bayern, in seinem „Milchmann“.
Der aus Polen stammende 70-jährige Jakob Weinberg hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und lebt in den 1990er Jahren als angesehener Geschäftsmann nach dem Tod seiner jüdischen Ehefrau mit einer nicht-jüdischen Geliebten in München. Seine jüdischen Freunde, alle wie er selbst osteuropäische Überlebende der Shoah, nennen ihn den „Milchmann“. Damals im Vernichtungslager hatte er eine Kiste Trockenmilch gefunden und soll damit – so wird erzählt – seine Mithäftlinge vor dem Hungertod gerettet haben. Weinberg hat dieser Legende aus Eigennutz nie widersprochen. So weit, so gut. Als sein Arzt ihm im Jahr 1995 eine Gewebeprobe entnimmt, um sie im Labor untersuchen zu lassen, wird Weinberg von Todesangst gepackt. Und es kommt noch schlimmer: Nicht nur, dass seine beiden verheirateten Kinder und seine junge Geliebte ihn wegen des beträchtlichen Erbes unter Druck setzen und zusätzlich seine Kumpel von ihm Geld für die Operation eines erkrankten Freundes fordern, sondern völlig ins Wanken gerät seine Welt, als der von ihm verehrte israelische Präsident Yitzhak Rabin einem Attentat zum Opfer fällt und Weinberg erkennen muss: Nicht nur die deutschen Nazis haben Juden ermordet, sondern jetzt ermordet ein Jude den anderen. Gibt es also auch jüdische Nazis? Sind die Grenzen zwischen Gut und Böse fließend?
Ist man als deutscher Leser gewohnt, in Büchern über den Holocaust und die Folgezeit eine meist klischeehaft pauschale Trennung zwischen Tätern (Deutsche) und Opfern (Juden) zu finden, sieht man sich in Seligmanns „Milchmann“ einer fast irritierenden anderen Sichtweise gegenüber: Der Autor beschränkt sich in seinem Roman ausschließlich auf Weinberg und seine jüdische „Mischpoke“, auf dessen eigene Familie und Freundeskreis, und zeigt die gesellschaftspolitischen Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es gibt demnach gravierende Unterschiede im Leben, Denken und Handeln zwischen den Generationen der Überlebenden aus Osteuropa und denen aus Deutschland, zwischen den in der jungen Bundesrepublik aufgewachsenen Kindern und den in Israel lebenden oder den nach Deutschland heimgekehrten Nachkommen – wie Rafael Seligmann selbst. Deutsche Juden sind also keineswegs als homogene Gesellschaftsgruppe anzusehen, sondern so unterschiedlich wie alle Menschen.
Seligmann lässt in seinem provozierenden Roman seine in Deutschland lebenden Glaubensgenossen nicht unverschont. In seinem Roman bestehen die Konflikte nicht zwischen Juden und Deutschen, sondern zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sowie zwischen den orthodoxen und liberalen Juden. Wegen seiner harschen „Kritik in alle Richtungen“ und seiner Forderung nach „mehr Normalität“ im Zusammenleben von Deutschen und Juden wurde Seligmann, der sich selbst als „deutscher Jude“ sieht, schon in den eigenen Reihen als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Doch gerade diese Offenheit und Ehrlichkeit des Autors lässt seinen Roman „Der Milchmann“ noch heute aktuell wirken, provoziert auch den heutigen Leser zum Nachdenken und macht das Buch auch 23 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer zu einer empfehlenswerten Lektüre: „Der Milchmann“ trägt leichter zum besseren Verständnis und Miteinander bei als jede Talkshow.