Selbst Jahrgang 1954 hat mich neben der Auseinandersetzung mit dem patriarchalischen Vater am meisten angesprochen, wie er das Lebensgefühl einer Generation beschreibt, zu der ich selbst gehöre.
Rainer Moritz, Mein Vater, die Dinge und der Tod, Kunstmann Verlag 2019, ISBN 978-3-95614-257-4
In den letzten Jahren haben Bücher Konjunktur, in denen Frauen und Männer, oft bekannte Autoren, sich nach ...
Rainer Moritz, Mein Vater, die Dinge und der Tod, Kunstmann Verlag 2019, ISBN 978-3-95614-257-4
In den letzten Jahren haben Bücher Konjunktur, in denen Frauen und Männer, oft bekannte Autoren, sich nach dem Tod eines Elternteils erinnern, die Beziehung zu Vater oder Mutter reflektieren, sich so manches von der Seele schreiben und danach vielleicht besser weiterleben können, weil sie richtig Abschied genommen und alles, gerade auch das Schwere und Problematische losgelassen haben.
Zuletzt hat die Schweizerin Cristina Karrer in ihrem bei Orell Füssli erschienenen Buch „Meine Mutter, ihre Liebhaber und mein einsames Herz“ das auf eine bewegende und literarisch anspruchsvolle Weise getan. Bei längerem Nachdenken erinnere ich jedoch auch in der Vergangenheit meines langen Leselebens viele Bücher, die sich dem Vater oder der Mutter genähert haben. Unvergessen bleibt für mich das Buch des jüngst verstorbenen großen Peter Härtling, in dem er unter dem Titel „Nachgetragene Liebe“ 1980 seinem längst verstorbenen Vater ein literarisches Andenken widmete und für viele seiner literarischen Nachfolger Standards setzte.
Als der Autor des vorliegenden Buches am 12. Februar 2015 in seinem Büro von seiner Mutter die telefonische Nachricht erhält, sein Vater sei gestorben, kann er erst nicht wirklich begreifen, was sie ihm da mitteilt. Die Bestattung ist lange vorbei, als er sich daran macht, seine Erinnerungen an seinen Vater niederzuschreiben, und sich auf diese Weise so etwas wie einem Begreifen zu nähern.
Es geht in seinem sehr persönlichen Buch nicht nur um Verlust und Trauer, sondern auch um die Geschichte einer Generation der jetzt etwa Sechzigjährigen und ihre Beziehung zu ihren Eltern. Und es geht darum, wie wir uns eigentlich erinnern:
„Ein Mensch lebt so lange, wie sich andere an ihn erinnern. Vielleicht denke ich deshalb häufiger an meinen Vater als zu seinen Lebzeiten. Weil die Selbstverständlichkeit seines Daseins fehlt. Was für Erinnerungen sind es? Was haben sie mit den Dingen seines Lebens zu tun, mit den Objekten, die ihn Tag für Tag umgaben? Je länger ich an meinen toten Vater denke, desto mehr sprechen seine Dinge zu mir.“
Wie bei Cristina Karrers oben erwähntem Buch sind es die Dinge, die lange nicht beachteten, so selbstverständlichen, die nach dem Tod Erinnerungen vermitteln und transportieren.
Warmherzig und authentisch vergegenwärtigt sich Rainer Moritz das Leben seines Vaters und damit auch sein eigenes. Es ist vergänglich, wird irgendwann ein schnelles oder quälendes Ende haben. Gerade angesichts dieses Endes ist es gut, sich zu vergewissern, wer wir sind.
Ohne es erst recht zu merken, wird der Leser mitgenommen in diese Selbstvergewisserung und beginnt schon bald, sich beim Lesen von Moritz` Erinnerungen mit seinem eigenen Leben zu befassen.
Selbst Jahrgang 1954 hat mich neben der Auseinandersetzung mit dem patriarchalischen Vater am meisten angesprochen, wie er das Lebensgefühl einer Generation beschreibt, zu der ich selbst gehöre.