Multum non multa: Ich war übrigens zu der Zeit Direktor der LSE (111)
Der Wissenssoziologe Kurt H. Wolff (Jg.1912) äußerte in Trying Sociology (NY 1974) die Vermutung, dass er „unter Sozialwissenschaftler(n) (…) weniger Interesse an Erlebnismäßigem als an Theoretischem annehme.“ ...
Der Wissenssoziologe Kurt H. Wolff (Jg.1912) äußerte in Trying Sociology (NY 1974) die Vermutung, dass er „unter Sozialwissenschaftler(n) (…) weniger Interesse an Erlebnismäßigem als an Theoretischem annehme.“ (stw702, 13) Bei Lord Dahrendorf (RD, 1929-2009) trifft dies auch für die meisten der nicht mehr überschaubaren Publikationen zu, von ein paar Ausnahmen abgesehen wie in den „Reisen nach innen und außen (DVA 1984) oder in „Europäisches Tagebuch“ (Steidl 1994), etwa einen Rekurs auf die „Wahlheimat Bonndorf“, das Domizil im „Teilort Holzschlag“ (67) oder die Rückfahrten „zu nächtlicher Stunde durch das Jostal und durch Neustadt in unsere Ecke des Schwarzwaldes.“ (135) In seinem achten Lebensjahrzehnt nun also quasi ein dekonstruierter Dahrendorf (Das Patchwork) in „22 Geschichten“ (kurzen, verdichteten Kapiteln), die das 28. Lebensjahr am 1.Mai 1957 (12) „gleichsam (als) Entelechie“ verstehen und auffassen. (Kap.1) Übrigens stand auch der Vater im 28. Lebensjahr, „als ich geboren wurde.“ (35) „Was bleibt, ist ein sehr persönliches Buch der Erinnerungen“, in dem die bekannten Biografie-Highlights dieses eminenten Soziologen für einmal in den Hintergrund treten - mit 38 „mit Rudi Dutschke auf dem Autodach“, mit 42 EG - Kommissar, mit 53 von der Queen zum Ritter geschlagen (Sir Ralf) und mit 64 der Einzug in das britische Oberhaus (Lord Dahrendorf). Da waren die meisten Grenzen längst überwunden und der Hochgelehrte und Weltberühmte verspürte offenbar ein Bedürfnis, zu den nicht eben einfachen Anfängen zurückzukehren. Der Leser registriert eher en passant die Erwähnung von mehreren Suiziden in Dahrendorfs unmittelbarer Umgebung, die die Härten der Zeitläufte nicht zu ertragen vermochten und „freiwillig“ aus dem Leben schieden. Im 2.Kap. („Wurzelsuche“) geht es aber zunächst nur um Ahnenforschung, eine bei Soziologen sonst eher vernachlässigte Disziplin. Cousin Ingo aus Erftstadt ist die treibende Kraft und sammelt Beweise, dass die Dahrendorfs und ihr Anhang u.a. aus dem gleichnamigen Teilort im heutigen Altmarkkreis Salzwedel - der Stadt von Jenny Marx und Friedrich Meinecke - stammen (siehe auch Bild 15) und „einfache, ehrliche Leute“ waren, denen „viel an Ehrbarkeit und Anstand (lag)“, die aber früh aus den Schulen genommen und in Brotberufe gesteckt wurden, was sich erst bei RD geändert habe: „Wir acht (!) in meiner Generation waren allesamt in der Lage zu studieren.“ Der Bruder Frank ist fünf Jahre jünger als Ralf, wird Rechtsanwalt und Stadtverordneter, denn am Ende und schon beim SPD-Vater Gustav, dem MdR, ist „der wirkliche Wurzelgrund der Dahrendorfs“ die Hansestadt Hamburg (31-33), sodass weitere bekannte Hanseaten den Blick kreuzen, wie etwa H. Schmidt (116-18), W. Jens, C. Ahlers, J. Ponto, G. Bucerius, Th. Sommer oder Gräfin Dönhoff (109-12). Mit 21 Lebensjahren wollte RD Journalist werden und ähnlich wie Walser, Enzensberger und andere verdankte er seinem „Ritt auf den Radiowellen“ eine „gewisse Bekanntheit.“ (105) „Ralf ist so unpraktisch“ (28), weiß man in der Familie, aber erst im 16.Kap. ist davon die Rede, „dass ich seit 1947 Universitätsstudent war.“ (124) „Klassische Philologie“ war ein eher hartes Brot, zumal RD „zwischen 1938 und 1947 (…) auf sechs verschiedenen Schulen“ und im ersten Anlauf aufs Abitur ausgerechnet im Fach Englisch an dem durchaus unbedeutenden Wort chimney sweep gescheitert war. „Meine Bildung blieb punktuell, nicht generell. Überhaupt fehlte es mir an Allgemeinbildung.“ (101) Das interessierte den bekannten Gräzisten Bruno Snell indes reichlich wenig, als er von RD die kritische Edition einer Pergamenthandschrift aus dem 11.Jht. verlangte. (128) „Als Professor Bruno Snell mir die Doktorprüfung im Griechischen leicht machen wollte und mir Fragen zur griechischen Mythologie stellte, wäre ich beinahe durchgefallen.“ (101) Kap.3 - 13 handeln v.a. von den Jahren als Schüler, der „Blick auf das Klassenfoto“ zeigt schon in der Volksschule einen Knirps - „Förmlichkeit ist bis heute mein Stil geblieben“ (45) - unter Lederhosenträgern „als einziger“ mit Schlips und Krawattennadel, in den NS-Jahren aber eher aufmüpfig und flegelhaft, ein Tagebuchschreiber, der in der wilden und anomischen Zeit der ersten Kriegsjahre „einen Oberförster (…) Oberfurzer nannte.“ (53) Als „Hordenführer“ erreicht RD es, „als Kandidat() für die Jungenrolle in einem Aufmunterungsfilm (!)“ ausgewählt und bis „in die Endausscheidung in einem Studio in Babelsberg“ zu kommen, wo ein gewisser Hardy Krüger seine Filmkarriere startete. (55) Der 20. Juli (Kap.8) betrifft die Familie ganz unmittelbar, denn der eigene Vater steht am 20.10.44 neben Leber, Reichwein und Maass „vor dem Volksgerichtshof.“ (66) Ab Kap.14 wird der Lebensweg zu einer „Art Sternfahrt zur Freiheit.“ Mit 21 beginnt sie als Journalist (Kap.14) inkl. einer lebenslangen Affinität zur Tagespresse und zum Artikelschreiben - „die Faszination des gedruckten Wortes, die eitle Freude, den eigenen Namen als Autor zu sehen, und die noch eitlere Erwartung (schon dadurch …) einen profunden Einfluss auf die Welt und auf die Menschen auszuüben.“ (104) Kap.15+16 handeln den Politiker (115-23) wie den Gelehrten (123-32) ebenso kompakt wie uneitel auf unter 20 Seiten ab, eine Fahrt als Seemann über den Atlantik und die Umstände der ersten Diss (über Marx) beanspruchen gleichberechtigt die folgenden beiden Kapitel 17+ 18. (133-46) Bevor die LSE kommt (Kap.20), wird noch der Literatur und Poesie gedacht, und zwar in Rom, nicht nur die Stadt von Ingeborg Bachmann, sondern für RD sogar „der Inbegriff von Bedeutung.“ (150) Die zwei Jahre an der LSE ab 1952 waren bahnbrechend und machen aus dem Sozialisten, der Willy Brandt zu Füßen lag (121), einen Liberalen (120). Gelockt hat v.a. Karl Mannheims Diagnosis of our time, nachhaltig geprägt aber hat Karl Popper (163 u.ö sowie Bild 20), obwohl RD „den Weg zur Ökonomie nur langsam (fand)“ und in Klammern anfügt: „Ich habe eine wirtschaftlich argumentierende Bildungsreform nie akzeptiert.“ (117) Die Offenheit der Pluripotenz (ausgeborgt von den Forschungen über Stammzellen) führt zum PhD und am 1.7.1954 zum Dienstantritt in Frankfurt am Main bei keinem Geringeren als bei Max Horkheimer. Success at last? Weit gefehlt! Eher stand sehr bald der nächste (von 32) Umzug an, denn RD irritierte die sehr deutsche und sehr großbürgerliche Schieflage von Theorie und Empirie in der Heiligen Familie (Kap.21), diesen „Grosskopfeten und ihren kultischen Verrichtungen.“ (175) RD vermutete die Wirklichkeit eher bei den „Stahlkochern in Rheinhausen“ (177) und habilitierte sich mit einer Arbeit zur Industriesoziologie. (180) Er durfte Horkheimer an mondänen Orten wie Flims oder Montagnola noch Rede und Antwort stehen, aber Adorno war „ganz anders“ und eigentlich war der Mann „nicht von dieser Welt.“ (174) „Immer wieder stritten er und ich über Sinn und Zweck der Erfahrungswissenschaft.“
Michael Karl