Erweiterter Horizont und Faszination bei hochgestochener Sprache
Gleich auf den ersten Seiten fallen die gewöhnungsbedürftige, hochgestochene Wortwahl (z. B. sekkant, kalmiert, hibernieren, amikabel) und die langen Satzkonstruktionen auf. An der Übersetzung kann es ...
Gleich auf den ersten Seiten fallen die gewöhnungsbedürftige, hochgestochene Wortwahl (z. B. sekkant, kalmiert, hibernieren, amikabel) und die langen Satzkonstruktionen auf. An der Übersetzung kann es nicht liegen, denn Raphaela Edelbauer kommt aus Wien. Dementsprechend hatte ich ein Stopp-Schild vor Augen: Achtung, nicht gedacht für Personen ohne Studienabschluss. Schade, denn mit einem normalen Erzählstil könnten mehr Interessierte ermutigt werden, an der faszinierenden Story teilzuhaben.
Die Handlung gerät manchmal langatmig, mit trockenen Exkursen, z. B. wissenschaftliche Abhandlungen, Aktenvermerke. Ab Kapitel 3 (Prolog nicht mitgerechnet) wurde es für mich verständlicher, interessant und spannend. Hauptfigur Syz soll fortan als geistig emotionale Blaupause für eine Künstliche Intelligenz herhalten, um dieser zu einer höheren Bewusstseins- und Kreativitätsebene und Urteilsfähigkeit zu verhelfen. Ablauf, Gedankengänge und Ängste sowie die Lobbyarbeit verschiedener Gruppierungen zu übergeordneten Zielen für die KI sind hochinteressant, nachvollziehbar, faszinieren und lassen eine gewisse Genialität erkennen. Manchmal fehlt es den ethischen, philosophischen und technischen Gedankenspielen und Gesprächen an Selbstverständlichkeit, erkennbar dienen diese der Aufklärung der Leserschaft.
Für mich als technikaffinen Laien entsteht der Eindruck, dass sich die Autorin intensiv mit den Anfängen von Computern und mit möglichen Wegen, Konflikten, Chancen und Risiken befasst hat. Jedem Nerd (ich mag Nerds) dürfte zu dem Bogen, der hier gespannt wird, das Herz aufgehen, vorausgesetzt, den Profis fallen keine üblen Fehler in der Darstellung auf. Anscheinend spielt der Roman am Ende des 20. Jahrhundert: Es wird über das „kommende Jahrhundert“ gefachsimpelt, während der Handlung zugrundeliegende Technik veraltet wirkt und Innovationen wie z. B. Smartphones nicht vorkommen.
Der sich stückchenweise offenbarende Weltenbau (Postapokalypse, Dystopie, Leben und Arbeiten in einem riesigen, hierarchisch geordneten 5-stöckigen Gebäude) führt zu Wow-Effekten und animiert zum Nachdenken. Das gelungene Ende verschafft Aufklärung.
Humor wird dezent eingesetzt. Treffsicher, mit Anspruch, gern mal bissig, zum Beispiel als die KI in einer Simulation Subjekt und Objekt verwechselt und dem Braten den zerlegten Gast serviert.
Surreale Begegnungen und Entdeckungen häufen sich. Ich bin geneigt, Syz zu bemitleiden. Man rätselt, inwieweit der aufkommende Verfolgungswahn berechtigt ist.
Die Nebenfigur Khatun bereichert die Handlung mit charmantem Zauber und mit Rätseln und Wendungen. Auch weitere Nebenfiguren mit umfangreichen Lebensläufen (Pawel, Fröhlich, …) faszinieren.
Was ich nicht mag, ist die gelegentlich eingestreute Vorausschau, inwieweit der personale Erzähler bestimmte Entscheidungen im Nachgang als positiv oder negativ wertet. Das hemmt die Spannung. Ich bin beim Lesen lieber unvoreingenommen live dabei.
Im Vergleich mit dem Autor Clemens J. Setz finde ich „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ähnlich ausschweifend und einprägsam, dabei eingängiger und kurzweiliger, dafür ist „DAVE“ thematisch reiz- und wertvoller.
Dieser Roman ist etwas Besonderes und dürfte nachhaltig in Erinnerung bleiben. Surreal und - je nach Neigung des Lesers - mit Potenzial für einen großen Kenntniszuwachs. Ich habe es geliebt und gehasst. Als mein Interesse entfacht war, konnte ich besser darüber hinwegsehen, dass er streckenweise trocken, kompliziert und für Unterhaltungsbelletristik anstrengend zu lesen ist.