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- Verlag: Deutsches Jugendinstitut
- Themenbereich: Gesellschaft und Sozialwissenschaften - Soziologie und Anthropologie
- Genre: keine Angabe / keine Angabe
- Seitenzahl: 55
- Ersterscheinung: 08.06.2016
- ISBN: 9783863791865
Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen
Projektergebnisse und Handlungsempfehlungen
Aufwachsen auf dem Land – für viele k
lingt das nach Idy
lle, nach Weite und
Natur. Andere denken an Krise, an „ausgeblutete“ Orte und Perspektivlosig-
keit. Auf diesem Kontinuum bewegt sich die aktuelle Diskussion über ländli-
che Räume.
Wurden seit den 90er Jahren strukturschwache ländliche Räume insbeson-
dere mit Ostdeutschland in Verbindung gebracht, so handelt es sich bei Kon-
zentration von demografischen und
den damit verbundenen sozialen und
strukturellen Problemen nicht mehr läng
er um ein originäres „Phänomen Ost“
(Schubarth/Speck 2009). Zwar ist das stark ländlich geprägte Ostdeutschland
nachwievor in stärkerem Ausmaß von Strukturschwäche, Abwanderung und
Alterung betroffen, ein genauerer Blic
k auf die regionalen Entwicklungen of-
fenbart allerdings, dass inzwischen auch viele westdeutsche ländliche Regionen
vor ähnlichen Entwicklungen stehen und somit die Bewältigung demografi-
scher Herausforderungen zu einer ge
samtdeutschen Aufgabe geworden ist
(Maretzke/Weiss 2009).
Dennoch liegen für diese Räume nur wenige aktuelle Forschungen zu den
Lebensverhältnissen der dort aufwachsen
den Menschen vor. Dies ist insofern
verwunderlich, als dass die Bedeutung von jungen Menschen für die Vitalität
ländlicher Räume immer wieder betont wird (Höhne 2015) und Jugendliche
durch ihre Abwanderung eine „Absti
mmung mit den Füßen“ zu ihren Zu-
kunftsperspektiven vor Ort durchzuführen scheinen. Während mit dem The-
ma des demografischen Wandels in erster Linie die Sicherung der Lebensquali-
tät der älteren Generationen in den Blickp
unkt gerät, sind es gerade in ländli-
chen Gegenden Kinder und Jugendliche,
welche die Auswirkungen zuerst zu
spüren bekommen, etwa indem sie si
ch in ihren Wohnorten einer zunehmen-
den Vereinzelung sowie der Schließung
von Schulstandorten und Freizeitange-
boten gegenübersehen.
Vor dem Hintergrund dieser demografischen Entwicklungen entstand das
Vorhaben, die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen in ländli-
chen Räumen differenziert zu unter
suchen. Dafür entwickelte das Deutsche
Jugendinstitut gemeinsam mit Vertrete
rinnen und Vertretern des Arbeitsstabs
der Beauftragten der Bundesregierung
für die neuen Bundesländer die Projekt-
studie „Jugend im Blick – Regionale
Bewältigung demografischer Entwicklun-
gen“.
Ein wichtiges Anliegen bestand dabei da
rin, die aktuelle Lebenswirklichkeit
von Jugendlichen in strukturschwache
n ländlichen Räumen deutschlandweit
abzubilden. Dabei sollten sowohl jugendpolitische Akteure in den Regionen,
als auch Jugendliche selbst zu den Bedingungen des Aufwachsens in struktur-
schwachen, ländlichen Räumen befrag
t werden. Zudem sollte ein enger Aus-
tausch zwischen verschiedenen jugendpolitischen Akteuren der Untersu-
chungsregionen (Landkreise), des Landes und der Bundesebene initiiert und
gemeinsam an praxisnahen Handlungsempfehlungen für die Bundesebene ge-
arbeitet werden.
Im Laufe der Umsetzung des Projekts sind auf der Bundesebene die The-
men Jugend, Demografie und ländlicher
Raum verstärkt in den politischen
5
Fokus geraten. Somit konnten die Erge
bnisse unmittelbar in politische Wil-
lensbildungsprozesse auf der Bundesebene
, etwa in die im Jahr 2014 einberu-
fene Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet
Zukunft“ beim BMFSFJ zur Weiterent-
wicklung der Demografiestrategie
des Bundes eingebracht werden.
2
Ausgangslage und Fragestellungen der
Studie
Auch wenn in der Diskussion oftmals
von „dem ländlichen Raum“ die Rede
ist, so ist sich doch die Wissenschaft einig, dass es diesen als solchen gar nicht
gibt.
Im Zuge von Modernisierungs- und
strukturellen Wandlungsprozessen so-
wie durch den Umbau von der Plan- zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland
haben sich ländliche Räume in der Bundesrepublik regional sehr unterschied-
lich entwickelt. Städtische Räume und deren infrastrukturell gut erschlossenes
Umland erleben einen Zuzug, wohing
egen peripher gelegene Regionen zu-
nehmend an Bevölkerung verlieren.
Zeigten sich nach der Wiedervereinigung insbesondere im Osten Deutsch-
lands starke demografische Veränderungspr
ozesse, so geht inzwischen auch in
Westdeutschland in der Hälfte der lä
ndlichen Regionen die Bevölkerung zu-
rück. In den strukturschwachen ländliche
n Räumen in Ost und West altert die
Gesellschaft, wandern überproportional
viele, insbesondere junge Menschen
ab und steigt das Durchschnittsalter entsprechend. Kennzeichen der Entwick-
lungen sind dabei regional sehr untersc
hiedliche Ausprägungen, die eine zu-
nehmende räumliche Spaltung entstehen lassen und zu einem Nebeneinander
von Wachstums- und Schrumpfungsräumen führen (Faulde 2014: 212).
Für Jugendliche auf dem Land haben
sich die Bedingungen ihres Aufwach-
sens in den vergangenen Jahrzehnten er
heblich verändert. Ihr Leben ist einer-
seits aus einer gesamtgesellschaftlichen
Perspektive – wie das von den in Städ-
ten aufwachsenden jungen Menschen – durch Globalisierung, Internationalisie-
rung, Inter- und Transkulturalität, Mob
ilität, Heterogenität und Urbanisierung
geprägt (Stein 2013: 25). Andererseits ha
ben sich die sozialräumlich gerahmten
Lebenswelten von städtischen und länd
lichen Jugendlichen nicht gänzlich an-
geglichen. Vielmehr konstatierte Böhn
isch (1992: 5) ein Nebeneinanderstehen
verschiedener Lebenswelten:
Jugendliche in ländlichen Räumen leben heute zwischen der urban-
industriellen Welt der Bildung, de
r Medien, der Freizeit und des Kon-
sums auf der einen Seite und der We
lt der dörflichen Kontrolle, der
Durchgängigkeit der alltäglichen Le
bensbereiche, der Tabus und tradi-
tionellen Selbstverständlichkeiten, aber auch der Vertrautheit, Gebor-
genheit und sozialen Sicherheit auf der anderen Seite.
Andere Autoren gehen noch weiter. So spricht Herrenknecht vom „regionalen
Dorf“, in dem sich eine kaum übersc
haubare Menge von kulturellen Strömun-
gen und Ausdifferenzierungen treffen, so
dass nicht mehr zwischen den beiden
oben stehenden konkurrierenden Welten der Tradition und der Moderne
6
unterschieden werden könne (Herrenknecht 2000: 48). Eisenbürger und Vo-
gelsang formulieren, dass Landjugendlic
he durch die erhöhte Mobilität gleich-
sam in mehreren Welten leben, jedoch nur in einer Welt wohnen würden (Ei-
senbürger/Vogelsang 2002: 36). Aus den sich verändernden Bedingungen des
ländlichen Raums ergeben sich für junge Menschen sowohl neue Freiräume
und Chancen, als auch neue Anforderungen. Sie haben weitaus größere Entfal-
tungsmöglichkeiten in ihrer Lebensgestaltung als es bspw. ihre Eltern hatten.
Die „neuen“ Kommunikationswege (sozia
len Netzwerke) eröffnen ihnen weit-
reichende Möglichkeiten des Austauschs mit Gleichaltrigen.
Die deutliche Verschiebung der Altersstruktur zu Gunsten der höheren Al-
tersjahrgänge wirft auch die Frage auf,
welchen Stellenwert die betroffenen
Kommunen und Landkreise den Belangen und Bedürfnissen junger Menschen
als kleiner werdender Gruppe überha
upt noch einräumen (können). Nachwie-
vor lassen sich in den lebensweltliche
n Settings von Jugendlichen (Bildung,
Familie, Freunde, Freizeit, Vernetzung)
anhand des DJI-Surveys „Aufwachsen
in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) von 2009 Unterschiede zwischen
Stadt- und Landjugendlichen ausmachen. Diese zeigen sich insbesondere in
den Teillebensbereichen der Mobilität
sowie in der Nutzung und Erreichbar-
keit von kommerziellen, insbesondere
aber auch nichtkommerziellen Angebo-
ten (Tully/Schippan 2014: 207f.).
Denn oftmals werden die Mindestgrößen, die zur Aufrechterhaltung von
Einrichtungen und Angeboten für Jugend
liche erforderlich sind, nicht mehr
erreicht und somit Schulen zusammengeleg
t oder geschlossen und der öffentli-
che Nahverkehr nur noch während der
Schulöffnungszeiten aufrechterhalten.
Jugendclubs schließen und Kommunen können sich ihre Schwimmbäder nicht
mehr leisten. Vereine ringen um den jungen Nachwuchs und kommerzielle
Angebote wie Diskotheken, Kinos oder Läden sind bestenfalls in den Kreis-
städten angesiedelt; doch auch dort ri
chten sich die Angebote vermehrt an den
Bedürfnissen der älteren Generationen aus.
Im Jugendalter stellen allerdings gera
de solche Orte und Gelegenheitsstruk-
turen, an denen sich junge Menschen mi
t Gleichaltrigen tr
effen können, wich-
tige Lern-, Erfahrungs- und Experime
ntierräume bereit. Der Erwerb von Nor-
men und Verhaltensweisen erfolgt dabei zunehmend im Freundes- und Be-
kanntenkreis und außerhalb des Elternhause
s. In diesem Kontext von unglei-
chen Zugängen zu jugendbezogenen An
geboten gewinnt die Frage an Bedeu-
tung, wie das im Grundgesetz festgeleg
te Postulat der „Herstellung gleichwer-
tiger Lebensverhältnisse“ (Artikel 72,
Absatz 2 GG) für junge Menschen dau-
erhaft gewährleistet und ausgestaltet werden kann.
Im Zuge der Klärung, was zu den starken Abwanderungsbewegungen jun-
ger Menschen aus ländlichen Regionen beit
rägt, stand lange Zeit die fehlende
Verfügbarkeit von Ausbildungs- und Arbe
itsstellen im Vordergrund. Qualitati-
ve Studien mit jungen Menschen weisen jedoch darauf hin, dass es sich bei den
Dagebliebenen oder Rückwanderungsorie
ntierten – bezogen auf die Bildungs-
aspirationen und Lebensorientierungen
– um eine durchaus heterogene Grup-
pe handelt, deren (vorläufige) Entschei
dung für das Dableiben in der Region
von den unterschiedlichsten Motiven geprägt ist (Beetz 2009; Speck/Schu-
barth/Pilarczyk 2009). So scheint sich di
e soziale und kulturelle Infrastruktur
maßgeblich auf die Lebensqualität und somi
t auf die Bleibeorientierung junger
7
Menschen auszuwirken (Neu 2009) und sollte auch bei einer Verbesserung der
Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht vernachlässigt werden.
Fragestellung der Studie
Aus den dargestellten Herausforderungen
der demografischen Entwicklungen
für Jugendliche in ländlichen Räumen
wurde die Konzeption der Studie „Ju-
gend im Blick“ entwickelt, um die Di
skursstränge zu bündeln und handlungs-
orientierte Perspektiven zu eröffnen.
Zum einen wurde die Perspektive von den in strukturschwachen länd-
lichen Räumen aufwachsenden Jugendlichen ermittelt. Dabei wurde
analysiert, wie junge Menschen ihr Aufwachsen in solchen Regionen
wahrnehmen und welche typischen jugendbezogenen Herausforderun-
gen sich für sie durch ihren Wohnort ergeben. Zudem wurden die Zu-
kunftsperspektiven der heranwachsenden jungen Menschen beleuchtet.
Da insbesondere auch interessierte,
wie die Landkreise auf die demo-
grafischen Veränderungsprozesse reagieren, wurden zum anderen ju-
gendpoltische Entscheidungsträger/innen dazu befragt, wie sich die
Wandlungsprozesse aus ihrer Sicht
auf Jugendliche auswirken und wie
Jugendpolitik in ihren Landkreisen ausgerichtet ist.
Auf Basis der zuvor genannten Analyseschwerpunkte wurde daraufhin
unter Zuhilfenahme von Regionaldaten
die Frage beantwortet, wie sich
das Aufwachsen junger Menschen in räumlicher Perspektive – insbe-
sondere in Hinblick auf gleichwertige Teilhabechancen – unterscheidet.
Das Ziel des Projekts war es schließlich, auf Basis der empirischen Er-
kenntnisse in einem Diskurs zwischen Akteuren der Kreis-, Landes- und
Bundesebene praxisnahe Handlungsemp
fehlungen für die Bundesebene zu
entwickeln, welche den spezifischen
Bedürfnissen heranwachsender Men-
schen in ländlichen Räumen gerecht werden.
lingt das nach Idy
lle, nach Weite und
Natur. Andere denken an Krise, an „ausgeblutete“ Orte und Perspektivlosig-
keit. Auf diesem Kontinuum bewegt sich die aktuelle Diskussion über ländli-
che Räume.
Wurden seit den 90er Jahren strukturschwache ländliche Räume insbeson-
dere mit Ostdeutschland in Verbindung gebracht, so handelt es sich bei Kon-
zentration von demografischen und
den damit verbundenen sozialen und
strukturellen Problemen nicht mehr läng
er um ein originäres „Phänomen Ost“
(Schubarth/Speck 2009). Zwar ist das stark ländlich geprägte Ostdeutschland
nachwievor in stärkerem Ausmaß von Strukturschwäche, Abwanderung und
Alterung betroffen, ein genauerer Blic
k auf die regionalen Entwicklungen of-
fenbart allerdings, dass inzwischen auch viele westdeutsche ländliche Regionen
vor ähnlichen Entwicklungen stehen und somit die Bewältigung demografi-
scher Herausforderungen zu einer ge
samtdeutschen Aufgabe geworden ist
(Maretzke/Weiss 2009).
Dennoch liegen für diese Räume nur wenige aktuelle Forschungen zu den
Lebensverhältnissen der dort aufwachsen
den Menschen vor. Dies ist insofern
verwunderlich, als dass die Bedeutung von jungen Menschen für die Vitalität
ländlicher Räume immer wieder betont wird (Höhne 2015) und Jugendliche
durch ihre Abwanderung eine „Absti
mmung mit den Füßen“ zu ihren Zu-
kunftsperspektiven vor Ort durchzuführen scheinen. Während mit dem The-
ma des demografischen Wandels in erster Linie die Sicherung der Lebensquali-
tät der älteren Generationen in den Blickp
unkt gerät, sind es gerade in ländli-
chen Gegenden Kinder und Jugendliche,
welche die Auswirkungen zuerst zu
spüren bekommen, etwa indem sie si
ch in ihren Wohnorten einer zunehmen-
den Vereinzelung sowie der Schließung
von Schulstandorten und Freizeitange-
boten gegenübersehen.
Vor dem Hintergrund dieser demografischen Entwicklungen entstand das
Vorhaben, die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen in ländli-
chen Räumen differenziert zu unter
suchen. Dafür entwickelte das Deutsche
Jugendinstitut gemeinsam mit Vertrete
rinnen und Vertretern des Arbeitsstabs
der Beauftragten der Bundesregierung
für die neuen Bundesländer die Projekt-
studie „Jugend im Blick – Regionale
Bewältigung demografischer Entwicklun-
gen“.
Ein wichtiges Anliegen bestand dabei da
rin, die aktuelle Lebenswirklichkeit
von Jugendlichen in strukturschwache
n ländlichen Räumen deutschlandweit
abzubilden. Dabei sollten sowohl jugendpolitische Akteure in den Regionen,
als auch Jugendliche selbst zu den Bedingungen des Aufwachsens in struktur-
schwachen, ländlichen Räumen befrag
t werden. Zudem sollte ein enger Aus-
tausch zwischen verschiedenen jugendpolitischen Akteuren der Untersu-
chungsregionen (Landkreise), des Landes und der Bundesebene initiiert und
gemeinsam an praxisnahen Handlungsempfehlungen für die Bundesebene ge-
arbeitet werden.
Im Laufe der Umsetzung des Projekts sind auf der Bundesebene die The-
men Jugend, Demografie und ländlicher
Raum verstärkt in den politischen
5
Fokus geraten. Somit konnten die Erge
bnisse unmittelbar in politische Wil-
lensbildungsprozesse auf der Bundesebene
, etwa in die im Jahr 2014 einberu-
fene Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet
Zukunft“ beim BMFSFJ zur Weiterent-
wicklung der Demografiestrategie
des Bundes eingebracht werden.
2
Ausgangslage und Fragestellungen der
Studie
Auch wenn in der Diskussion oftmals
von „dem ländlichen Raum“ die Rede
ist, so ist sich doch die Wissenschaft einig, dass es diesen als solchen gar nicht
gibt.
Im Zuge von Modernisierungs- und
strukturellen Wandlungsprozessen so-
wie durch den Umbau von der Plan- zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland
haben sich ländliche Räume in der Bundesrepublik regional sehr unterschied-
lich entwickelt. Städtische Räume und deren infrastrukturell gut erschlossenes
Umland erleben einen Zuzug, wohing
egen peripher gelegene Regionen zu-
nehmend an Bevölkerung verlieren.
Zeigten sich nach der Wiedervereinigung insbesondere im Osten Deutsch-
lands starke demografische Veränderungspr
ozesse, so geht inzwischen auch in
Westdeutschland in der Hälfte der lä
ndlichen Regionen die Bevölkerung zu-
rück. In den strukturschwachen ländliche
n Räumen in Ost und West altert die
Gesellschaft, wandern überproportional
viele, insbesondere junge Menschen
ab und steigt das Durchschnittsalter entsprechend. Kennzeichen der Entwick-
lungen sind dabei regional sehr untersc
hiedliche Ausprägungen, die eine zu-
nehmende räumliche Spaltung entstehen lassen und zu einem Nebeneinander
von Wachstums- und Schrumpfungsräumen führen (Faulde 2014: 212).
Für Jugendliche auf dem Land haben
sich die Bedingungen ihres Aufwach-
sens in den vergangenen Jahrzehnten er
heblich verändert. Ihr Leben ist einer-
seits aus einer gesamtgesellschaftlichen
Perspektive – wie das von den in Städ-
ten aufwachsenden jungen Menschen – durch Globalisierung, Internationalisie-
rung, Inter- und Transkulturalität, Mob
ilität, Heterogenität und Urbanisierung
geprägt (Stein 2013: 25). Andererseits ha
ben sich die sozialräumlich gerahmten
Lebenswelten von städtischen und länd
lichen Jugendlichen nicht gänzlich an-
geglichen. Vielmehr konstatierte Böhn
isch (1992: 5) ein Nebeneinanderstehen
verschiedener Lebenswelten:
Jugendliche in ländlichen Räumen leben heute zwischen der urban-
industriellen Welt der Bildung, de
r Medien, der Freizeit und des Kon-
sums auf der einen Seite und der We
lt der dörflichen Kontrolle, der
Durchgängigkeit der alltäglichen Le
bensbereiche, der Tabus und tradi-
tionellen Selbstverständlichkeiten, aber auch der Vertrautheit, Gebor-
genheit und sozialen Sicherheit auf der anderen Seite.
Andere Autoren gehen noch weiter. So spricht Herrenknecht vom „regionalen
Dorf“, in dem sich eine kaum übersc
haubare Menge von kulturellen Strömun-
gen und Ausdifferenzierungen treffen, so
dass nicht mehr zwischen den beiden
oben stehenden konkurrierenden Welten der Tradition und der Moderne
6
unterschieden werden könne (Herrenknecht 2000: 48). Eisenbürger und Vo-
gelsang formulieren, dass Landjugendlic
he durch die erhöhte Mobilität gleich-
sam in mehreren Welten leben, jedoch nur in einer Welt wohnen würden (Ei-
senbürger/Vogelsang 2002: 36). Aus den sich verändernden Bedingungen des
ländlichen Raums ergeben sich für junge Menschen sowohl neue Freiräume
und Chancen, als auch neue Anforderungen. Sie haben weitaus größere Entfal-
tungsmöglichkeiten in ihrer Lebensgestaltung als es bspw. ihre Eltern hatten.
Die „neuen“ Kommunikationswege (sozia
len Netzwerke) eröffnen ihnen weit-
reichende Möglichkeiten des Austauschs mit Gleichaltrigen.
Die deutliche Verschiebung der Altersstruktur zu Gunsten der höheren Al-
tersjahrgänge wirft auch die Frage auf,
welchen Stellenwert die betroffenen
Kommunen und Landkreise den Belangen und Bedürfnissen junger Menschen
als kleiner werdender Gruppe überha
upt noch einräumen (können). Nachwie-
vor lassen sich in den lebensweltliche
n Settings von Jugendlichen (Bildung,
Familie, Freunde, Freizeit, Vernetzung)
anhand des DJI-Surveys „Aufwachsen
in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) von 2009 Unterschiede zwischen
Stadt- und Landjugendlichen ausmachen. Diese zeigen sich insbesondere in
den Teillebensbereichen der Mobilität
sowie in der Nutzung und Erreichbar-
keit von kommerziellen, insbesondere
aber auch nichtkommerziellen Angebo-
ten (Tully/Schippan 2014: 207f.).
Denn oftmals werden die Mindestgrößen, die zur Aufrechterhaltung von
Einrichtungen und Angeboten für Jugend
liche erforderlich sind, nicht mehr
erreicht und somit Schulen zusammengeleg
t oder geschlossen und der öffentli-
che Nahverkehr nur noch während der
Schulöffnungszeiten aufrechterhalten.
Jugendclubs schließen und Kommunen können sich ihre Schwimmbäder nicht
mehr leisten. Vereine ringen um den jungen Nachwuchs und kommerzielle
Angebote wie Diskotheken, Kinos oder Läden sind bestenfalls in den Kreis-
städten angesiedelt; doch auch dort ri
chten sich die Angebote vermehrt an den
Bedürfnissen der älteren Generationen aus.
Im Jugendalter stellen allerdings gera
de solche Orte und Gelegenheitsstruk-
turen, an denen sich junge Menschen mi
t Gleichaltrigen tr
effen können, wich-
tige Lern-, Erfahrungs- und Experime
ntierräume bereit. Der Erwerb von Nor-
men und Verhaltensweisen erfolgt dabei zunehmend im Freundes- und Be-
kanntenkreis und außerhalb des Elternhause
s. In diesem Kontext von unglei-
chen Zugängen zu jugendbezogenen An
geboten gewinnt die Frage an Bedeu-
tung, wie das im Grundgesetz festgeleg
te Postulat der „Herstellung gleichwer-
tiger Lebensverhältnisse“ (Artikel 72,
Absatz 2 GG) für junge Menschen dau-
erhaft gewährleistet und ausgestaltet werden kann.
Im Zuge der Klärung, was zu den starken Abwanderungsbewegungen jun-
ger Menschen aus ländlichen Regionen beit
rägt, stand lange Zeit die fehlende
Verfügbarkeit von Ausbildungs- und Arbe
itsstellen im Vordergrund. Qualitati-
ve Studien mit jungen Menschen weisen jedoch darauf hin, dass es sich bei den
Dagebliebenen oder Rückwanderungsorie
ntierten – bezogen auf die Bildungs-
aspirationen und Lebensorientierungen
– um eine durchaus heterogene Grup-
pe handelt, deren (vorläufige) Entschei
dung für das Dableiben in der Region
von den unterschiedlichsten Motiven geprägt ist (Beetz 2009; Speck/Schu-
barth/Pilarczyk 2009). So scheint sich di
e soziale und kulturelle Infrastruktur
maßgeblich auf die Lebensqualität und somi
t auf die Bleibeorientierung junger
7
Menschen auszuwirken (Neu 2009) und sollte auch bei einer Verbesserung der
Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht vernachlässigt werden.
Fragestellung der Studie
Aus den dargestellten Herausforderungen
der demografischen Entwicklungen
für Jugendliche in ländlichen Räumen
wurde die Konzeption der Studie „Ju-
gend im Blick“ entwickelt, um die Di
skursstränge zu bündeln und handlungs-
orientierte Perspektiven zu eröffnen.
Zum einen wurde die Perspektive von den in strukturschwachen länd-
lichen Räumen aufwachsenden Jugendlichen ermittelt. Dabei wurde
analysiert, wie junge Menschen ihr Aufwachsen in solchen Regionen
wahrnehmen und welche typischen jugendbezogenen Herausforderun-
gen sich für sie durch ihren Wohnort ergeben. Zudem wurden die Zu-
kunftsperspektiven der heranwachsenden jungen Menschen beleuchtet.
Da insbesondere auch interessierte,
wie die Landkreise auf die demo-
grafischen Veränderungsprozesse reagieren, wurden zum anderen ju-
gendpoltische Entscheidungsträger/innen dazu befragt, wie sich die
Wandlungsprozesse aus ihrer Sicht
auf Jugendliche auswirken und wie
Jugendpolitik in ihren Landkreisen ausgerichtet ist.
Auf Basis der zuvor genannten Analyseschwerpunkte wurde daraufhin
unter Zuhilfenahme von Regionaldaten
die Frage beantwortet, wie sich
das Aufwachsen junger Menschen in räumlicher Perspektive – insbe-
sondere in Hinblick auf gleichwertige Teilhabechancen – unterscheidet.
Das Ziel des Projekts war es schließlich, auf Basis der empirischen Er-
kenntnisse in einem Diskurs zwischen Akteuren der Kreis-, Landes- und
Bundesebene praxisnahe Handlungsemp
fehlungen für die Bundesebene zu
entwickeln, welche den spezifischen
Bedürfnissen heranwachsender Men-
schen in ländlichen Räumen gerecht werden.
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