Freundschaft und andere (Wahl-) Verwandtschaften
Nicht immer ist die Familie, in die man hineingeboren wird, auch wirklich die erste Wahl - sie ist halt einfach da. Ändern lässt sich weder an der Situation etwas noch am Verwandtschaftsgrad, well, abgesehen ...
Nicht immer ist die Familie, in die man hineingeboren wird, auch wirklich die erste Wahl - sie ist halt einfach da. Ändern lässt sich weder an der Situation etwas noch am Verwandtschaftsgrad, well, abgesehen von Kontaktabbruch, aber das ist ja dann nun wirklich das allerletzte Mittel. Ich persönlich kenne das Gefühl sehr gut - die eigenen Eltern sind nie da, wenn man sie braucht – oder wenn sie da sind, nerven sie nur (statt in lebenswichtigen Fragen wirklich mal zuzuhören oder einen guten Rat zu geben). Aus unerfindlichen Gründen ist da aber diese tiefe Beziehung zu einem Großcousin oder einem Neffen, die so viel wertvoller und geistig ergiebiger ist als die Unterhaltung mit der eigenen Mutter.
Die beiden Protagonisten von "Auf nach Irgendwo", Jakob und Miro, teilen dieses Schicksal. Nun, bei Jakob ist es nochmal komplizierter, aber ich will nicht spoilern, das nimmt ja ein Stück weit die Entwicklung der Geschichte vorweg. Jakob ist in der DDR aufgewachsen, unter der Ägide eines enorm strengen und darüber hinaus auch noch extrem linientreuen Vaters, mit dem er nichts, aber auch gar nichts gemeinsam hat. Lichte Momente sind die wenigen Stunden, die er mit seiner Tante Inge verbringt. Er entscheidet sich zur Flucht aus der unmenschlichen Enge des eigenen Elternhauses in das Haus seines Großvaters auf dem Land und bricht alle bisherigen Brücken hinter sich ab.
Bei dem Gedanken, wie zurückgezogen und isoliert er sein ganzes Leben verbracht hat (abgesehen von den kumpelhaften Alltagsbeziehungen im Dorf, die es selbstverständlich gibt), bleibt bei mir nur Fassungslosigkeit zurück. Ja, das ist eine fiktionale Geschichte, das ist mir bewusst - aber sie ist lebensnah. Ich sehe hier eine ganz deutliche Parallele zum Leben meiner Großtante und ihrer Tochter - ursprünglich aus einer Künstlerfamilie in Cottbus, die, um finanziell als alleinerziehende Mutter zu überleben, in die brandenburgische Pampa zog. Die beiden waren da beileibe nicht unglücklich, aber sie waren (und sind) dort sehr isoliert. Das darf man nicht vergessen: das System im Osten hat zwar viele Familien und Freundeskreise stark zusammengeschweißt, aber es gibt unzählige Menschen, die aus dem Raster fielen, die in die (innere) Emigration fliehen mussten.
Auch Miro, der 17-Jährige aus dem Westen, der ungefähr in dem Alter ist, in dem Jakob war, als er von zu Hause wegging, hat ein engeres Verhältnis zu seiner Großmutter als zu seiner Mutter, die eben irgendwie nicht für die Elternschaft gemacht ist (shit happens). Da erscheint es nur logisch, dass es den Jungen ausgerechnet zum eigenbrötlerischen Jakob hinzieht - er ist in der Lage, ihn eben nicht als "alten Sack" abzutun, den es keines Blickes zu würdigen gilt, sondern sich auf ihn als Menschen und auch auf seine Geschichte einzulassen. Diese Zufallsbegegnung und der sich anschließende Roadtrip im alten gelben VW-Bus "Bienchen" (beinahe die 3. Protagonistin dieser Geschichte, denn ohne sie geht gar nichts).
Zwischen den beiden entstehen durch die gemeinsamen Erlebnisse auf dieser Fahrt Richtung Kroatien und auch durch die nach und nach geteilten Gefühle, das Gespräch über Träume und Enttäuschungen ein so enges Band der Freundschaft, dass man hier am Ende wirklich von einer Wahlverwandtschaft sprechen muss. Sie haben sich nicht gesucht, aber sie haben sich definitiv gefunden. Sich - und später dann noch diverse weitere Menschen. Sie haben am Ende geliebt und die Liebe verloren und letztlich doch etwas kostbares Neues wiederentdeckt.
"Auf nach Irgendwo!" ist eine sehr berührende Geschichte mit durchaus detektivischen Elementen, die einen ab einem gewissen Punkt so fesselt, dass man das Buch definitiv nicht mehr aus der Hand legen kann. Mir ging es jedenfalls so - soviel zum Thema "Nur noch schnell ein Kapitelchen vor dem Schlafengehen...". Kleiner Wehmutstropfen: am Anfang dauert es doch ein bisschen lang, bis die Geschichte in Fahrt kommt – gewissermaßen dem Zeitraum analog, den Bus "Bienchen" braucht, um in Fahrt zu kommen. Es lohnt sich aber defintiv dranzubleiben!
Worüber ich mich übrigens täglich (oder vielmehr abendlich) gefreut habe, wenn ich das Buch in die Hand genommen habe, ist das Buchcover. Dieser lustige quietschgelbe Bus mit den chaotischen Insassen ist ein echter Blickfang und gibt gleich gute Laune, wenn es nur auf dem Nachttisch liegt!