Klassische Essays über die Liebe
„Über die Liebe“ ist der ambitionierte Versuch des Schriftstellers Henri Beyle alias Stendhal ein Thema, das alle Menschen eminent betrifft und beschäftigt in all seinen Facetten zu behandeln. In seinen ...
„Über die Liebe“ ist der ambitionierte Versuch des Schriftstellers Henri Beyle alias Stendhal ein Thema, das alle Menschen eminent betrifft und beschäftigt in all seinen Facetten zu behandeln. In seinen Essays geht es ihm zunächst darum die Liebe in ihren psychologischen Aspekten zu betrachten, es geht um die verschiedenen Arten der Liebe, ihre Anfänge und Voraussetzungen, ihre unterschiedlichen Gesichter und Ausprägungen. Was bewirkt Schönheit für die Liebe? Ist sie so etwas wie eine Visitenkarte bei Frauen, bestimmt sie deren Marktwert? Wie unterschiedlich lieben Männer und Frauen? Gibt es Liebe auf den ersten Blick und wie wichtig ist Intimität für das Zusammensein, was bedeutet Eifersucht, kann einer mehr lieben als der andere? Diese Fragen sind wahrscheinlich so alt wie die Liebe selbst, aber vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts, in dem die romantische Liebe erst richtig Einzug in die Breite der Gesellschaft hält, man nicht mehr nur Konvenienzehen eingehen will, sondern sich bewusst für ein Individuum entscheiden kann, das nicht mehr aus gesellschaftlichem Interesse gewählt wird - in diese Zeit gehören die Essays von Stendhal. Man muss das Buch also vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit (1822 ist das Buch erschienen, 1826, 1834 und 1842 verfasste der Autor neue Vorreden dazu) betrachten, auch wenn viele Aussagen und Fragen die er stellt allgemeingültig und zeitlos sind. Natürlich ist auch das zweite Buch in Hinblick auf den Horizont der Zeit zu lesen, in der Stendhal es geschrieben hat. Dort geht es um die Ausprägungen und Charakteristika der Liebe in den verschiedenen Nationen, immer wieder gespickt mit Entlehnungen aus Memoiren anderer oder den eigenen Erfahrungen. Interessant sind auch noch die zum Schluss angefügten Fragmente, die teilweise aphoristisch kurz, teilweise auch eine halbe bis ganze Seite lang sind. Es sind die von Stendhal aufgefundenen Notizen, die er sich zum Thema gemacht hatte und sonst nirgendwo unterbringen konnte.
Was mir sehr gefallen hat an diesem – ja man kann es schon sagen – Sachbuch über die Liebe ist die teilweise sehr ironische Sicht der Dinge, die Stendhal zu Tage treten lässt. Aussagen wie: „Sehr oft ist es das beste, ohne eine Miene zu verziehen, abzuwarten, bis der Nebenbuhler durch seine eignen Torheiten dem geliebten Wesen fade geworden ist.“, S. 191), augenzwinkernde Selbstironie („Aber da mir der Himmel die schriftstellerische Begabung versagt hat…“, S. 71) oder Seitenhiebe auf literarische Bestseller der Zeit (wie z.B. „Seit langer Zeit habe ich nicht mehr Richardsons langweilige Clarissa gelesen;“, S. 90) und gesellschaftliche Moden („Dreiviertel aller Liebesbriefchen in Wien wie in London sind französisch geschrieben oder voll Anspielungen und auch Zitaten auf Französisch und Gott weiß was für ein Französisch.“, S. 156) haben beim Lesen dieser nicht ganz einfach zu verdauenden Traktate ein Lächeln auf meine Lippen gezaubert.
Stendhal hat in einer seiner Vorreden von 1834 geschrieben dass dies ein Buch für „nur für hundert Leser“ sei. Ich kann ihm da nur rechtgeben, denn anstatt theoretisch über die Liebe zu lesen ist es für mich persönlich ein größeres Vergnügnen Stendhals Romane an die Hand zu nehmen. Dennoch: das Buch hat als historische Betrachtung des Phänomens „Liebe“ durchaus seine Berechtigung und wenn man sich aus soziologischem Interesse damit beschäftigt ist es in jedem Fall eine Lektüre wert. Dem „normalen“ Leser allerdings würde ich eher Stendhals „Rot und Schwarz“ empfehlen, damit er seine theoretischen Ansichten zu Liebe und Macht, Kirche und Staat literarisch verpackt genießen kann („Die Karatuse von Parma“ ist wohl noch geeigneter, den Roman habe ich allerdings selbst noch nicht gelesen).
Ich finde die Ausgabe editorisch wirklich gut, die zahlreichen Extras wie das ausführliche „Inhaltsverzeichnis“, die „Daten zu Leben und Werk“ und vor allem der Beitrag aus dem Kindler’schen Literaturlexikon sind dem Leser, der stärker in die Materie eintauchen möchte ein hilfreiches Kompendium. An der verwendeten Übersetzung von Franz Hessel aus dem Jahr 1921 habe ich ebenfalls nichts auszusetzen, ich finde sie trifft den Ton, allerdings könnte man angesichts des Alters der Übersetzung mal an eine neue denken.