Moderne Geschichten aus dem 19. Jahrhundert
REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, ...
REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, Romanen und vielen Erzählungen. Während der 1895 erstveröffentlichte und seit 1954 mehrfach auf Deutsch übersetzte Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ auch durch seine Verfilmung mit Audie Murphy (1951) vielleicht noch manchem Leser ein Begriff sein mag, hat es sich der Pendragon Verlag zur Aufgabe gemacht, auch die Erzählungen des über Jahrzehnte vergessen Schriftstellers der heutigen Leserschaft bekannt zu machen. Im September erschien mit dem Erzählband „Das Monster und andere Geschichten“ mit überwiegend erstmals auf Deutsch übersetzten Erzählungen im Bielefelder Verlag schon die vierte Ausgabe mit Werken Cranes.
Es sind vor allem seine Erzählungen, die in ihren feinen Milieu-Schilderungen das literarische Talent Stephen Cranes beweisen. Die von ihm mit scheinbar leichter Hand in ihrem Charakter so treffend beschriebenen Menschen sind offensichtlich keine fiktiven Figuren, sondern dürften ausnahmslos reale Vorbilder im Leben des Schriftstellers haben – ob in seiner Kindheit in der ländlichen Provinz oder in seinem späteren Leben als Kriegsberichterstatter oder als Reporter in den Slums von New York. Denn die einfachen Soldaten, die kleinen Leute in den Armenvierteln und die Bürger des Provinzstädtchens Whilomville, die gleich in mehreren seiner Erzählungen wiederkehren, sind Cranes Hauptpersonen – allen voran die Arztfamilie Trescott mit dem kleinen Jimmy, in dem man das Alter Ego des Autors vermuten darf. Vielleicht ist es gerade diese Nähe zu realen Vorbildern, weshalb Crane seine Figuren manchmal durchaus kritisch wie in „Das Monster“, aber meistens humor- und liebevoll beschreibt.
Die titelgebende Erzählung „Das Monster“ (1898), mit ihrer Länge eher schon ein Kurzroman, ist zweifellos die beeindruckendste Geschichte in diesem Band. Der Schwarze Henry, Stallbursche der Familie Trescott und Freund des kleinen Jimmy, rettet diesen aus den Flammen und erleidet dabei schwerste Verbrennungen im Gesicht, die ihn zum „Monster“ machen. Jimmys Vater, der Henry gesund gepflegt hat, sorgt aus Dankbarkeit auch weiterhin für ihn. Crane beschreibt hier die typische Situation der Schwarzen im Norden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die zwar nicht als Sklaven, sondern frei, aber dennoch als Menschen letzter Ordnung sowohl räumlich als auch sozial am äußersten Rand der Gesellschaft leben. Zugleich prangert er die Bigotterie und Engstirnigkeit der weißen Provinzler an: Als vermeintlich tödlich verletzter Lebensretter wird Henry von ihnen noch gefeiert, als lebendes „Monster“ nun mitleidslos erst recht ausgegrenzt. Sogar der „Schwarzen-Freund“ Trescott, einst ein allseits beliebter Arzt, wird fortan gemieden.
Äußerst amüsant sind dagegen Cranes Erzählungen aus der Kindheit – mit uns vertrauten Szenen: So will der kleine Horace („Neue Handschuhe“) aus Angst vor Ärger mit der Mutter nach Kalifornien ausreißen: „Er würde fortlaufen. … Aber am Tor hielt er inne. … Da der Sturm sehr kalt war und dieser Punkt sehr wichtig, entschied er sich zum Rückzug in den Holzschuppen.“ Wer kennt nicht die Not des Schülers („Redner in Nöten“), beim Vortrag vor der Klasse zu versagen, und der deshalb seiner Mutter eine Krankheit vortäuscht: „Am nächsten Tag – ein Samstag und somit schulfrei – war er wunderbarerweise aus der Umklammerung der Krankheit befreit und nahm seine Spiele wieder auf, ein gesunder Junge, wie er lautstark bewies.“ In „Der kleine Engel“ erscheint uns die Jimmys selbstbewusste Cousine aus der Stadt wie eine frühe Ausgabe von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf: Sie lädt an ihrem Geburtstag die staunenden Dorfkinder zu Eis und anderen Süßigkeiten ein sowie – zum späteren Entsetzen der Eltern – zum gemeinsamen Friseurbesuch.
„Das Monster und andere Geschichten“ ist mit thematisch ganz unterschiedlichen Geschichten ein Buch zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken. Obwohl alle Erzählungen bereits vor 1900 entstanden, sind sie dank ihrer neuen Übersetzung von Lucien Deprijck (62), der im Nachwort Interessantes zum Autor und seinen Geschichten beisteuert, überhaupt nicht altbacken, sondern wirken modern wie aus unserer Zeit: Provinzielles Denken, Überheblichkeit und Rassismus sind immer noch aktuell wie vor 125 Jahren. Die beschriebenen Charaktere treffen wir auch heute so oder ähnlich in Familie und Nachbarschaft. Genau dies macht die Lektüre dieses Sammelbandes so reizvoll und empfehlenswert.