7,50
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inkl. MwSt
- Verlag: Universität Duisburg - Essen SSC
- Themenbereich: Gesellschaft und Sozialwissenschaften
- Genre: Sachbücher / Politik, Gesellschaft & Wirtschaft
- Ersterscheinung: 2018
- ISBN: 9783934359529
UNIKATE 52: Risikoforschung
Interdisziplinäre Perspektiven und neue Paradigmen
Verehrte Leser*innen,
als Francis Fukuyama in den 1990er
Jahren versuchte, das „Ende der
Geschichte“ auszurufen, schien es
einigen für kurze Zeit, als könnte
die Menschheit eine politische Form
finden, mit der alle zukünftigen
Herausforderungen vernünftig und
global inklusiv bearbeitet werden
könnten. Die – wie wir heute wissen:
vorübergehende – Überwindung des
Risikos eines Atomkriegs erzeugte
den Eindruck, als wäre damit insgesamt
der Weg für einen besseren
Umgang mit den Bedrohungen
durch militärische, technologische
und natürliche Risiken geebnet.
Diesem Eindruck widersprachen
jedoch schon bald die Auseinandersetzungen
über vermeintlich oder
tatsächlich neue Risiken, die die Aufmerksamkeit
auf sich zogen, wie den
Klimawandel, die Wiederkehr des
Krieges vor allem in der Form von
Bürgerkriegen, die rasante Entwicklung
bio- und gentechnologischer
Möglichkeiten, den demographischen
Wandel und nicht zuletzt seit
dem 11. September 2001 den internationalen
Terrorismus.
Auf diese „neuen“ Risiken
reagiert politisch ein Sicherheitsdiskurs,
der nach deren Erforschung
und Management verlangt und darüber
eine Rationalisierung der Entscheidungsfindung
in Aussicht stellt.
Sicherheit ist aus dieser Perspektive
abhängig von der Informationslage
und prinzipiell erreichbar – folglich
kann auch zwischen (objektiv) richtigen
und falschen Entscheidungen
differenziert werden. Risiken sind
kalkulierbar und für den Fall, dass
aktuell kein ausreichendes Wissen
verfügbar ist, muss nach neuen
Wegen gesucht werden, Informationen
zu erschließen. Unsicherheiten
werden in Risiken transformiert,
indem sie in eine Wahrscheinlichkeitsrechnung
eingespeist werden;
hierauf können dann Politiken
zugreifen, um zu versuchen, Risiken
abzuwehren oder einzuhegen. Als
Orientierung der Risikoberechnung
dient die klassische (auch im Versicherungswesen
verwendete) Formel:
Risiko ist das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit
und erwartetem
Schadensmaß.
Diesem Sicherheitsdiskurs gegenüber
steht ein Umgang mit Risiken,
der herausstellt, dass sie abhängig
sind von Handlungen und Entscheidungen.
Während bei Gefahren eine
mögliche Schädigung von außen
angenommen wird, die unabhängig
von menschlichem Handeln existiert,
bestehen, dieser Betrachtung zufolge,
Risiken dann, wenn eigene Entscheidungen
selbst die Unsicherheit eines
zukünftigen Schadens hervorbringen.
Da Risiken auf unterschiedliche
Weise beobachtet werden können,
ist folglich auch die Zurechnung
auf Entscheidungen kontingent, das
heißt auf unterschiedliche Weise
möglich. Risiken lassen sich also
im Unterschied zu Gefahren nicht
von der Zuschreibung auf jeweilige
Urheber ablösen und erfordern
folglich auch eine Erforschung, die
mitberücksichtigt, unter welchen
Bedingungen der Zusammenhang
zwischen Entscheidung und Risiko
in welcher Weise thematisiert wird.
Die Konstruktion und Rekonstruktion
von Entscheidungssituationen
ist somit selbst Gegenstand der Risikoforschung.
Die beiden Betrachtungsweisen
– das informationsbasierte sowie das
entscheidungszentrierte Konzept –
unterscheidet also insbesondere, wie
sie Risiken grundsätzlich verstehen:
einerseits als gegebene Handlungsbedingungen,
die bestmöglich zu
verstehen und in Entscheidungen zu
beachten sind, oder aber andererseits
als Unsicherheiten, die durch Entscheidungen
selbst erzeugt werden.
Diese Unterscheidung hat zur Folge,
dass auch dasjenige verschieden ist,
was als Risiko in den Blick genommen
werden kann. Während in der
ersten Perspektive auch ein Kometeneinschlag
ein Risiko sein kann,
wenn er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
eintreten wird, ist in
der zweiten Perspektive ein solcher
Einschlag nur dann ein Risiko, wenn
etwas entschieden wird, dessen
Erfolg angesichts der Möglichkeit
des Kometeneinschlags unsicher
wird. Mit diesen beiden Differenzierungen
gehen schließlich auch sehr
unterschiedliche normative Herangehensweisen
an Risiken einher: die
Betonung der allgemeinen Unsicherheiten,
unter denen gehandelt wird,
und daraus resultierende Strategien
der vorbeugenden Absicherung für
die Einen und das Herausstellen des
komplexen Verhältnisses zwischen
aktuellen Handlungsoptionen und
zukünftigen Umständen, die ein
multiples Risikomanagement erfordern,
für die Anderen.
Risikoforschung an der
Universität Duisburg-Essen
Gerade die zuvor herausgestellte
zweite Art der Risikoforschung
steht im Zentrum einer Reihe von
Forschungsprojekten, die aktuell
an der Universität Duisburg-Essen
verfolgt werden. So geht das
im Essener Historischen Institut
verortete DFG-Graduiertenkolleg
1919 Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage.
Kontingenzbewältigung
durch Zukunftshandeln der Frage
nach, wie sich verschiedene Formen
des Kontingenzbewusstseins in der
Geschichte ausgebildet haben und
zu welchen Strategien des Umgangs
mit Kontingenz diese jeweils geführt
haben. Es wird damit analysiert, wie
die Zukunft und ihre Unsicherheit
wahrgenommen und von historischen
Akteuren selbst zum Gegenstand
ihres Handelns und Entscheidens
gemacht wurden. Besonders in
den Blick genommen werden sollen
dabei Handlungsoptionen, die sich
erst durch bestimmte Verständnisweisen
und Konstruktionen von
Zukunft ergeben haben.
Im Rahmen des vom Bundesministerium
für Bildung und
Forschung (BMBF) geförderten
Verbundprojektes Multiple Risiken.
Kontingenzbewältigung in der
Stammzellforschung und ihren
Anwendungen befasst sich eine
transuniversitäre und interdisziplinäre
Forschergruppe unter einer auf
Risikofragen ausgerichteten gemeinsamen
Forschungsperspektive mit
dem Sujet „Stammzellforschung“,
das spätestens seit der Jahrtausendwende
weltweit für Schlagzeilen
sorgt. Das Duisburger Teilprojekt
geht dabei der politikwissenschaftlichen
Frage nach, wie durch den
Einbezug von gesellschaftlichen
Akteuren in politische Willensbildungsprozesse
die Legitimation
von politischen Entscheidungen in
diesem sensiblen biomedizinischen
Policyfeld auf eine breitere Basis
gestellt und damit das politische
Risiko für Entscheidungsträger
handhabbar gemacht werden kann.
Die dazu erforderliche empirische
Analyse des öffentlichen und medialen
Diskurses in Deutschland ist
eingebettet in die stärker normativ
orientierten Forschungsarbeiten des
ethischen Teilprojekts, das auf den
Risikoframe von Stammzelldiskursen
in internationalen Journals fokussiert,
sowie des juridischen Teilprojekts,
das den rechtlichen Umgang mit Risiken,
die mit der Stammzellforschung
verbunden werden, im Ländervergleich
untersucht. Auf Basis der
zusammengeführten Untersuchungsergebnisse
sollen Empfehlungen für
eine angemessene Regulierung der
Risiken in der Stammzellforschung
und ihren Anwendungen in Deutschland
erarbeitet werden.
Schließlich erforscht die von der
FUNK-Stiftung finanzierte interdisziplinäre
Forschungsgruppe Big
Risks. Perceptions and Management
of Neuralgic Societal Risks in the
21st Century den gesellschaftlichen
Umgang mit Großrisiken wie dem
Klimawandel, dem demographischen
Wandel oder Terrorismus. Hierbei
wird aus der Perspektive der politischen
Psychologie untersucht, wie
Risiken überhaupt öffentlich bewusst
werden und was jeweiliges bewusst
oder auch nicht-bewusst Sein für
deren gesellschaftlich-politische Bearbeitung
bedeutet. Mit den Mitteln der
Finanzmathematik wird gefragt, wie
dem paradoxen Effekt der Risikoaversität
aktueller Generationen entgegengewirkt
werden kann: Eigentlich
könnte es so scheinen, dass die Furcht
vor Risiken eher zu behutsamem
Umgang mit Ressourcen und vorsorgenden
Handlungen führt. Indem
jedoch Kalkulationen dahingehend
angestellt werden, wie sich die Risiken
einer erst späteren Konsumtion
würden vermeiden lassen, kann dies
paradoxerweise zur Folge haben, dass
die Ressourcen bereits aktuell konsumiert
werden, die in der Zukunft
damit nicht mehr zur Verfügung
stehen. Im Zentrum steht hierbei, wie
auch in der politischen Philosophie
der Umgang mit dem menschengemachten
Klimawandel. Die Philosophie
sucht nach einer normativen
Theorie, die überzeugend erklären
kann, was falsch an der versagenden
Klimapolitik ist und welche Pflichten
die heute Lebenden gegenüber
zukünftigen Generationen haben.
Zu dieser Ausgabe der UNIKATE
Die Ihnen hiermit vorliegende Ausgabe
der UNIKATE präsentiert
die große Bandbreite der Risikoforschung
an der Universität Duisburg-
Essen auch über die zuvor
vorgestellten Forschungsprojekte
hinaus.
Sie beginnt mit dem Gastbeitrag
eines der bedeutendsten europäischen
Risikotheoretikers, Sven Ove
Hansson, der auf die erste Risk Lecture
an der Universität Duisburg-Essen
zurückgeht, die er 2016 gehalten
hat. Hansson bietet in seinem Artikel
einen weiten Überblick über die
unterschiedlichen Ebenen und Disziplinen,
auf und in denen in der Philosophie
wichtige Aspekte des Risikobegriffs
und verschiedener Arten
von Risiken thematisiert werden.
Es schließt sich an eine kurze
Studie des Historikers Benjamin
Scheller zum Aufkommen des lateinischen
Vorläufers des heutigen
Risikobegriffs und der damit einhergehenden
Unterscheidung zwischen
Risiko und Gefahr. Scheller zeichnet
nach, wie sich daraus bereits im
Mittelalter eine Differenzierung von
Investor und Unternehmer ergab,
die in den nachfolgenden Jahrhunderten
zur Kommodifizierung von
Risiken in Versicherungen führte.
Die Frage, wie Unternehmen
oder auch politische Gemeinwesen
Entscheidungen angesichts von
Risiken treffen sollten, wird von den
Finanzmathematikern Björn Fischbach
und Rüdiger Kiesel und der
Wirtschaftswissenschaftlerin Antje
Mahayni aufgegriffen. Sie fragen in
ihrem Beitrag, wie unterschiedliche
Methoden der Entscheidungstheorie
Entscheidungen unter verschiedenen
Stufen von Unsicherheit modellieren,
und diskutieren vor diesem Hintergrund
mögliche Anwendungen im
Kontext der Klimapolitik.
Der Wirtschaftswissenschaftler
Gustav Horn hält in seinem Essay
fest, dass für die Wirtschaftswissenschaften
Unsicherheit nicht immer
gleichermaßen wichtig war. So trat
Unsicherheit nach der großen Wirtschaftskrise
am Ende der 1920er
Jahre ins Zentrum ökonomischer
Analysen, verlor danach aber wieder
an Bedeutung, um nicht zuletzt mit
der Finanzkrise der 2000er Jahre
erneut in den Fokus zu rücken.
Horn konstatiert, dass damit nicht
nur ein Themengebiet bezeichnet ist,
sondern dass sich in diesem Zusammenhang
auch die Methoden der
Wirtschaftswissenschaften grundlegend
verändern – weg von einem
natur- und hin zu einem sozialwissenschaftlichen
Selbstverständnis.
Wie wichtig die Interaktion zwischen
Politik und Öffentlichkeit für
die Konstruktion und Wahrnehmung
von Risiken ist, betrachten die Politikwissenschaftler*
innen Anne-Kathrin
Fischer und Achim Goerres
in ihrem Beitrag. Sie thematisieren
die Rolle der Politik für die mediale
Auseinandersetzung mit Risiken,
Veränderungen öffentlicher Sichtweisen,
die den politischen Umgang
mit Risiken neu ausrichten, sowie
die unterschiedlichen Haltungen zu
Risiko bei verschiedenen Wählergruppen
und deren Auswirkungen
auf entsprechende Parteien.
Angesichts der zentralen Rolle
von Risikokonstruktionen für die
Bewertung von und den Umgang
mit Risiken problematisieren die
Philosophen Ruben Langer und
Andreas Niederberger die übliche
Angleichung aller Arten von Risiken
an technische Risiken. Sie halten
wesentliche Charakteristika solcher
Risiken fest, um vor diesem Hintergrund
zu argumentieren, dass diese
Charakteristika für die wichtige
Gruppe sozialer Risiken nicht gelten.
Eine Berücksichtigung der Differenzen
hat ihrer Auffassung nach
zur Folge, dass auch das, was jeweils
im Umgang mit ihnen geboten ist,
anders zu bestimmen ist.
Die Politikwissenschaftler*innen
Helene Gerhards und Renate
Martinsen analysieren den öffentlichen
Risikodiskurs im Bereich
Stammzellforschung und -technologie
mit Mitteln der qualitativen
Sozialforschung. Unter Rückgriff auf
aktuelle Entwicklungen in der Technikfolgenabschätzung wird davon
ausgegangen, dass sich die klassische
Prognose der wahrscheinlichen
Folgen einer Technologie nicht mehr
als zielführend erweist, da Aussagen
über die Zukunft in einem dynamischen
Umfeld prinzipiell problematisch
sind. Der neuere Ansatz des
Vision Assessment fokussiert deshalb
auf die Ermittlung der Folgen von
gesellschaftlichen Diskursen über
eine Technologie, die in der Gegenwart
geführt werden. Diese Diskurse
sowie die darin transportierten Risikokonstruktionen
sind für die Legitimation
von politischen Entscheidungen
insbesondere in risikobehafteten
Politikfeldern von Relevanz.
Risiken in der modernen Gesellschaft
sind häufig technologische
Risiken. Die mit dem Fortschritt
von Wissenschaft und medizinischer
Technik entstehenden
vielschichtigen Risikoaspekte bei
(insbesondere Hüft-)Implantaten,
die mit Blick auf die Patientensicherheit
bedacht werden müssen,
unterzieht der Mediziner Marcus
Jäger einer differenzierten Betrachtungsweise.
Neben der Erörterung
von werkstofftechnischen Risiken,
die zu Verschleißerscheinungen des
künstlichen Gelenkersatzes führen
können, werden die Bedeutung von
nationalen strukturellen Standards in
der Endoprothetik sowie die Rolle
der postoperativen Rehabilitation als
Strategien der Risikominimierung im
Kontext gesundheitsökonomischer
Entwicklungen in der Gegenwart
kritisch diskutiert.
Eines der Risiken, das erst in
den letzten Jahren zu einem solchen
geworden ist, ist dasjenige der
Armut: Wenn Armut nicht mehr
als „naturwüchsig“, sondern als mit
Entscheidungen zusammenhängend
begriffen wird, dann müssen Handelnde
so verstanden werden, dass
sie durch ihre Entscheidung selbst
ihr Armutsrisiko mitbestimmen.
Die Soziolog*innen Daniela Schiek
und Carsten G. Ullrich untersuchen
in ihrem Artikel die Bedingungen,
unter denen Neigungen zu Entscheidungen,
die Armutsrisiken nach sich
ziehen, in sozialen Zusammenhängen
über Generationen hinweg weitergegeben
werden. Damit umreißen
sie zugleich einen neuen Weg, den
die Armutsforschung einschlagen
könnte.
Prozesse sozialen Wandels haben
offensichtlich auch zu einer Risikoverschiebung
geführt: Ging es in der
Industriegesellschaft am Ende des 19.
Jahrhunderts um die Absicherung in
sozialen Risikosituationen, die mit
einem Einkommensausfall einhergingen,
so treten gegenwärtig neue
soziale Risiken in den Fokus der
wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.
Die Politikwissenschaftlerin Sybille
Stöbe-Blossey untersucht in ihrem
Beitrag das Prekärwerden der sozialen
Absicherung beim Übergang von
der Schule in die Ausbildung, der
mit einem verstärkten Exklusionsrisiko
einhergeht. Die identifizierten
Risiken an der Schnittstelle zwischen
Sozial- und Bildungspolitik stellen
neue Herausforderungen nicht nur
für die Betroffenen, sondern auch
für die Sozialpolitik dar, die verstärkt
auf Strategien der Prävention, aber
auch auf Kooperation setzen muss.
Neue soziale Risikolagen im
biographischen Verlauf werden auch
von den Soziologi*nnen Ariane
Kellmer und Anja Weiß thematisiert.
Dabei liegt die Stoßrichtung
ihres Forschungsinteresses auf der
Frage, warum Menschen biographische
Risiken zuvorderst als Risiken
der individuellen Lebensführung
wahrnehmen und dabei strukturelle
gesellschaftliche Hindernisse unterbelichten.
Auf der Basis von Fallstudien
wird argumentiert, dass solche
strukturellen Barrieren – anders als
die gängige Individualisierungstheorie
annimmt – nicht nur Emanzipationsbestrebungen
im Rahmen
des Nationalstaates, sondern auch
Lebensgeschichten im Migrationsprozess
tangieren.
Den Blick auf fremde Kulturräume
richten Flemming Christiansen
und Mei Yu, indem sie
Ergebnisse von drei Doktorarbeiten
präsentieren, die im Rahmen des
DFG-Graduiertenkollegs Risiko und
Ostasien entstanden sind. Mit diesem
Blick über den Tellerrand lässt sich
die kulturelle Prägung und soziale
Konstruktion von Risiken besonders
deutlich vor Augen führen, wobei
im Zuge von Reformprozessen in
China das Ineinandergreifen von
offiziellen politisch-administrativen
Risikobewältigungsstrategien und
informellem Krisenmanagement der
Betroffenen ein spezifisches Charakteristikum
darzustellen scheint.
Drei Interviews runden den Blick
auf aktuelle Risikoforschung ab:
Die Historikerin Korinna Schönhärl
erläutert, dass die Risikoterminologie
zwar weitgehend erst im 20. Jahrhundert
entwickelt wird, sich aber
ökonomische Entscheidungsprozesse
auch in früheren Jahrhunderten
z.T. nur dann verstehen lassen,
wenn sie als Auseinandersetzung
mit Risiken begriffen werden. Die
Politikwissenschaftlerin Cornelia
Ulbert zeichnet im Gespräch nach,
welche Folgen der Übergang vom
Krisen- zum Risikobegriff für politische
Aushandlungsprozesse und
deren Resultate nach sich zieht. Und
schließlich stellt der Politikwissenschaftler
Dirk Messner angesichts
der Schwierigkeiten der internationalen
Gemeinschaft, adäquat
auf Risiken zu reagieren, die die
Menschheit insgesamt bedrohen
könnten, ein Forschungsprogramm
vor, in dem es um Möglichkeiten
geht, globale Kooperation zu verbessern.
Die Beiträge des Heftes verdeutlichen,
dass der Risikobegriff
zu einer zentralen Kategorie gesellschaftlicher
Selbstbeobachtung
geworden ist, der über die Wissenschaftsdisziplinen
hinweg Wandlungsprozesse
in der modernen, von
wachsender Kontingenz geprägten
Gesellschaft zu verdeutlichen
vermag.
Eine anregende Lektüre
wünschen Ihnen
Renate Martinsen
und Andreas Niederberger
als Francis Fukuyama in den 1990er
Jahren versuchte, das „Ende der
Geschichte“ auszurufen, schien es
einigen für kurze Zeit, als könnte
die Menschheit eine politische Form
finden, mit der alle zukünftigen
Herausforderungen vernünftig und
global inklusiv bearbeitet werden
könnten. Die – wie wir heute wissen:
vorübergehende – Überwindung des
Risikos eines Atomkriegs erzeugte
den Eindruck, als wäre damit insgesamt
der Weg für einen besseren
Umgang mit den Bedrohungen
durch militärische, technologische
und natürliche Risiken geebnet.
Diesem Eindruck widersprachen
jedoch schon bald die Auseinandersetzungen
über vermeintlich oder
tatsächlich neue Risiken, die die Aufmerksamkeit
auf sich zogen, wie den
Klimawandel, die Wiederkehr des
Krieges vor allem in der Form von
Bürgerkriegen, die rasante Entwicklung
bio- und gentechnologischer
Möglichkeiten, den demographischen
Wandel und nicht zuletzt seit
dem 11. September 2001 den internationalen
Terrorismus.
Auf diese „neuen“ Risiken
reagiert politisch ein Sicherheitsdiskurs,
der nach deren Erforschung
und Management verlangt und darüber
eine Rationalisierung der Entscheidungsfindung
in Aussicht stellt.
Sicherheit ist aus dieser Perspektive
abhängig von der Informationslage
und prinzipiell erreichbar – folglich
kann auch zwischen (objektiv) richtigen
und falschen Entscheidungen
differenziert werden. Risiken sind
kalkulierbar und für den Fall, dass
aktuell kein ausreichendes Wissen
verfügbar ist, muss nach neuen
Wegen gesucht werden, Informationen
zu erschließen. Unsicherheiten
werden in Risiken transformiert,
indem sie in eine Wahrscheinlichkeitsrechnung
eingespeist werden;
hierauf können dann Politiken
zugreifen, um zu versuchen, Risiken
abzuwehren oder einzuhegen. Als
Orientierung der Risikoberechnung
dient die klassische (auch im Versicherungswesen
verwendete) Formel:
Risiko ist das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit
und erwartetem
Schadensmaß.
Diesem Sicherheitsdiskurs gegenüber
steht ein Umgang mit Risiken,
der herausstellt, dass sie abhängig
sind von Handlungen und Entscheidungen.
Während bei Gefahren eine
mögliche Schädigung von außen
angenommen wird, die unabhängig
von menschlichem Handeln existiert,
bestehen, dieser Betrachtung zufolge,
Risiken dann, wenn eigene Entscheidungen
selbst die Unsicherheit eines
zukünftigen Schadens hervorbringen.
Da Risiken auf unterschiedliche
Weise beobachtet werden können,
ist folglich auch die Zurechnung
auf Entscheidungen kontingent, das
heißt auf unterschiedliche Weise
möglich. Risiken lassen sich also
im Unterschied zu Gefahren nicht
von der Zuschreibung auf jeweilige
Urheber ablösen und erfordern
folglich auch eine Erforschung, die
mitberücksichtigt, unter welchen
Bedingungen der Zusammenhang
zwischen Entscheidung und Risiko
in welcher Weise thematisiert wird.
Die Konstruktion und Rekonstruktion
von Entscheidungssituationen
ist somit selbst Gegenstand der Risikoforschung.
Die beiden Betrachtungsweisen
– das informationsbasierte sowie das
entscheidungszentrierte Konzept –
unterscheidet also insbesondere, wie
sie Risiken grundsätzlich verstehen:
einerseits als gegebene Handlungsbedingungen,
die bestmöglich zu
verstehen und in Entscheidungen zu
beachten sind, oder aber andererseits
als Unsicherheiten, die durch Entscheidungen
selbst erzeugt werden.
Diese Unterscheidung hat zur Folge,
dass auch dasjenige verschieden ist,
was als Risiko in den Blick genommen
werden kann. Während in der
ersten Perspektive auch ein Kometeneinschlag
ein Risiko sein kann,
wenn er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
eintreten wird, ist in
der zweiten Perspektive ein solcher
Einschlag nur dann ein Risiko, wenn
etwas entschieden wird, dessen
Erfolg angesichts der Möglichkeit
des Kometeneinschlags unsicher
wird. Mit diesen beiden Differenzierungen
gehen schließlich auch sehr
unterschiedliche normative Herangehensweisen
an Risiken einher: die
Betonung der allgemeinen Unsicherheiten,
unter denen gehandelt wird,
und daraus resultierende Strategien
der vorbeugenden Absicherung für
die Einen und das Herausstellen des
komplexen Verhältnisses zwischen
aktuellen Handlungsoptionen und
zukünftigen Umständen, die ein
multiples Risikomanagement erfordern,
für die Anderen.
Risikoforschung an der
Universität Duisburg-Essen
Gerade die zuvor herausgestellte
zweite Art der Risikoforschung
steht im Zentrum einer Reihe von
Forschungsprojekten, die aktuell
an der Universität Duisburg-Essen
verfolgt werden. So geht das
im Essener Historischen Institut
verortete DFG-Graduiertenkolleg
1919 Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage.
Kontingenzbewältigung
durch Zukunftshandeln der Frage
nach, wie sich verschiedene Formen
des Kontingenzbewusstseins in der
Geschichte ausgebildet haben und
zu welchen Strategien des Umgangs
mit Kontingenz diese jeweils geführt
haben. Es wird damit analysiert, wie
die Zukunft und ihre Unsicherheit
wahrgenommen und von historischen
Akteuren selbst zum Gegenstand
ihres Handelns und Entscheidens
gemacht wurden. Besonders in
den Blick genommen werden sollen
dabei Handlungsoptionen, die sich
erst durch bestimmte Verständnisweisen
und Konstruktionen von
Zukunft ergeben haben.
Im Rahmen des vom Bundesministerium
für Bildung und
Forschung (BMBF) geförderten
Verbundprojektes Multiple Risiken.
Kontingenzbewältigung in der
Stammzellforschung und ihren
Anwendungen befasst sich eine
transuniversitäre und interdisziplinäre
Forschergruppe unter einer auf
Risikofragen ausgerichteten gemeinsamen
Forschungsperspektive mit
dem Sujet „Stammzellforschung“,
das spätestens seit der Jahrtausendwende
weltweit für Schlagzeilen
sorgt. Das Duisburger Teilprojekt
geht dabei der politikwissenschaftlichen
Frage nach, wie durch den
Einbezug von gesellschaftlichen
Akteuren in politische Willensbildungsprozesse
die Legitimation
von politischen Entscheidungen in
diesem sensiblen biomedizinischen
Policyfeld auf eine breitere Basis
gestellt und damit das politische
Risiko für Entscheidungsträger
handhabbar gemacht werden kann.
Die dazu erforderliche empirische
Analyse des öffentlichen und medialen
Diskurses in Deutschland ist
eingebettet in die stärker normativ
orientierten Forschungsarbeiten des
ethischen Teilprojekts, das auf den
Risikoframe von Stammzelldiskursen
in internationalen Journals fokussiert,
sowie des juridischen Teilprojekts,
das den rechtlichen Umgang mit Risiken,
die mit der Stammzellforschung
verbunden werden, im Ländervergleich
untersucht. Auf Basis der
zusammengeführten Untersuchungsergebnisse
sollen Empfehlungen für
eine angemessene Regulierung der
Risiken in der Stammzellforschung
und ihren Anwendungen in Deutschland
erarbeitet werden.
Schließlich erforscht die von der
FUNK-Stiftung finanzierte interdisziplinäre
Forschungsgruppe Big
Risks. Perceptions and Management
of Neuralgic Societal Risks in the
21st Century den gesellschaftlichen
Umgang mit Großrisiken wie dem
Klimawandel, dem demographischen
Wandel oder Terrorismus. Hierbei
wird aus der Perspektive der politischen
Psychologie untersucht, wie
Risiken überhaupt öffentlich bewusst
werden und was jeweiliges bewusst
oder auch nicht-bewusst Sein für
deren gesellschaftlich-politische Bearbeitung
bedeutet. Mit den Mitteln der
Finanzmathematik wird gefragt, wie
dem paradoxen Effekt der Risikoaversität
aktueller Generationen entgegengewirkt
werden kann: Eigentlich
könnte es so scheinen, dass die Furcht
vor Risiken eher zu behutsamem
Umgang mit Ressourcen und vorsorgenden
Handlungen führt. Indem
jedoch Kalkulationen dahingehend
angestellt werden, wie sich die Risiken
einer erst späteren Konsumtion
würden vermeiden lassen, kann dies
paradoxerweise zur Folge haben, dass
die Ressourcen bereits aktuell konsumiert
werden, die in der Zukunft
damit nicht mehr zur Verfügung
stehen. Im Zentrum steht hierbei, wie
auch in der politischen Philosophie
der Umgang mit dem menschengemachten
Klimawandel. Die Philosophie
sucht nach einer normativen
Theorie, die überzeugend erklären
kann, was falsch an der versagenden
Klimapolitik ist und welche Pflichten
die heute Lebenden gegenüber
zukünftigen Generationen haben.
Zu dieser Ausgabe der UNIKATE
Die Ihnen hiermit vorliegende Ausgabe
der UNIKATE präsentiert
die große Bandbreite der Risikoforschung
an der Universität Duisburg-
Essen auch über die zuvor
vorgestellten Forschungsprojekte
hinaus.
Sie beginnt mit dem Gastbeitrag
eines der bedeutendsten europäischen
Risikotheoretikers, Sven Ove
Hansson, der auf die erste Risk Lecture
an der Universität Duisburg-Essen
zurückgeht, die er 2016 gehalten
hat. Hansson bietet in seinem Artikel
einen weiten Überblick über die
unterschiedlichen Ebenen und Disziplinen,
auf und in denen in der Philosophie
wichtige Aspekte des Risikobegriffs
und verschiedener Arten
von Risiken thematisiert werden.
Es schließt sich an eine kurze
Studie des Historikers Benjamin
Scheller zum Aufkommen des lateinischen
Vorläufers des heutigen
Risikobegriffs und der damit einhergehenden
Unterscheidung zwischen
Risiko und Gefahr. Scheller zeichnet
nach, wie sich daraus bereits im
Mittelalter eine Differenzierung von
Investor und Unternehmer ergab,
die in den nachfolgenden Jahrhunderten
zur Kommodifizierung von
Risiken in Versicherungen führte.
Die Frage, wie Unternehmen
oder auch politische Gemeinwesen
Entscheidungen angesichts von
Risiken treffen sollten, wird von den
Finanzmathematikern Björn Fischbach
und Rüdiger Kiesel und der
Wirtschaftswissenschaftlerin Antje
Mahayni aufgegriffen. Sie fragen in
ihrem Beitrag, wie unterschiedliche
Methoden der Entscheidungstheorie
Entscheidungen unter verschiedenen
Stufen von Unsicherheit modellieren,
und diskutieren vor diesem Hintergrund
mögliche Anwendungen im
Kontext der Klimapolitik.
Der Wirtschaftswissenschaftler
Gustav Horn hält in seinem Essay
fest, dass für die Wirtschaftswissenschaften
Unsicherheit nicht immer
gleichermaßen wichtig war. So trat
Unsicherheit nach der großen Wirtschaftskrise
am Ende der 1920er
Jahre ins Zentrum ökonomischer
Analysen, verlor danach aber wieder
an Bedeutung, um nicht zuletzt mit
der Finanzkrise der 2000er Jahre
erneut in den Fokus zu rücken.
Horn konstatiert, dass damit nicht
nur ein Themengebiet bezeichnet ist,
sondern dass sich in diesem Zusammenhang
auch die Methoden der
Wirtschaftswissenschaften grundlegend
verändern – weg von einem
natur- und hin zu einem sozialwissenschaftlichen
Selbstverständnis.
Wie wichtig die Interaktion zwischen
Politik und Öffentlichkeit für
die Konstruktion und Wahrnehmung
von Risiken ist, betrachten die Politikwissenschaftler*
innen Anne-Kathrin
Fischer und Achim Goerres
in ihrem Beitrag. Sie thematisieren
die Rolle der Politik für die mediale
Auseinandersetzung mit Risiken,
Veränderungen öffentlicher Sichtweisen,
die den politischen Umgang
mit Risiken neu ausrichten, sowie
die unterschiedlichen Haltungen zu
Risiko bei verschiedenen Wählergruppen
und deren Auswirkungen
auf entsprechende Parteien.
Angesichts der zentralen Rolle
von Risikokonstruktionen für die
Bewertung von und den Umgang
mit Risiken problematisieren die
Philosophen Ruben Langer und
Andreas Niederberger die übliche
Angleichung aller Arten von Risiken
an technische Risiken. Sie halten
wesentliche Charakteristika solcher
Risiken fest, um vor diesem Hintergrund
zu argumentieren, dass diese
Charakteristika für die wichtige
Gruppe sozialer Risiken nicht gelten.
Eine Berücksichtigung der Differenzen
hat ihrer Auffassung nach
zur Folge, dass auch das, was jeweils
im Umgang mit ihnen geboten ist,
anders zu bestimmen ist.
Die Politikwissenschaftler*innen
Helene Gerhards und Renate
Martinsen analysieren den öffentlichen
Risikodiskurs im Bereich
Stammzellforschung und -technologie
mit Mitteln der qualitativen
Sozialforschung. Unter Rückgriff auf
aktuelle Entwicklungen in der Technikfolgenabschätzung wird davon
ausgegangen, dass sich die klassische
Prognose der wahrscheinlichen
Folgen einer Technologie nicht mehr
als zielführend erweist, da Aussagen
über die Zukunft in einem dynamischen
Umfeld prinzipiell problematisch
sind. Der neuere Ansatz des
Vision Assessment fokussiert deshalb
auf die Ermittlung der Folgen von
gesellschaftlichen Diskursen über
eine Technologie, die in der Gegenwart
geführt werden. Diese Diskurse
sowie die darin transportierten Risikokonstruktionen
sind für die Legitimation
von politischen Entscheidungen
insbesondere in risikobehafteten
Politikfeldern von Relevanz.
Risiken in der modernen Gesellschaft
sind häufig technologische
Risiken. Die mit dem Fortschritt
von Wissenschaft und medizinischer
Technik entstehenden
vielschichtigen Risikoaspekte bei
(insbesondere Hüft-)Implantaten,
die mit Blick auf die Patientensicherheit
bedacht werden müssen,
unterzieht der Mediziner Marcus
Jäger einer differenzierten Betrachtungsweise.
Neben der Erörterung
von werkstofftechnischen Risiken,
die zu Verschleißerscheinungen des
künstlichen Gelenkersatzes führen
können, werden die Bedeutung von
nationalen strukturellen Standards in
der Endoprothetik sowie die Rolle
der postoperativen Rehabilitation als
Strategien der Risikominimierung im
Kontext gesundheitsökonomischer
Entwicklungen in der Gegenwart
kritisch diskutiert.
Eines der Risiken, das erst in
den letzten Jahren zu einem solchen
geworden ist, ist dasjenige der
Armut: Wenn Armut nicht mehr
als „naturwüchsig“, sondern als mit
Entscheidungen zusammenhängend
begriffen wird, dann müssen Handelnde
so verstanden werden, dass
sie durch ihre Entscheidung selbst
ihr Armutsrisiko mitbestimmen.
Die Soziolog*innen Daniela Schiek
und Carsten G. Ullrich untersuchen
in ihrem Artikel die Bedingungen,
unter denen Neigungen zu Entscheidungen,
die Armutsrisiken nach sich
ziehen, in sozialen Zusammenhängen
über Generationen hinweg weitergegeben
werden. Damit umreißen
sie zugleich einen neuen Weg, den
die Armutsforschung einschlagen
könnte.
Prozesse sozialen Wandels haben
offensichtlich auch zu einer Risikoverschiebung
geführt: Ging es in der
Industriegesellschaft am Ende des 19.
Jahrhunderts um die Absicherung in
sozialen Risikosituationen, die mit
einem Einkommensausfall einhergingen,
so treten gegenwärtig neue
soziale Risiken in den Fokus der
wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.
Die Politikwissenschaftlerin Sybille
Stöbe-Blossey untersucht in ihrem
Beitrag das Prekärwerden der sozialen
Absicherung beim Übergang von
der Schule in die Ausbildung, der
mit einem verstärkten Exklusionsrisiko
einhergeht. Die identifizierten
Risiken an der Schnittstelle zwischen
Sozial- und Bildungspolitik stellen
neue Herausforderungen nicht nur
für die Betroffenen, sondern auch
für die Sozialpolitik dar, die verstärkt
auf Strategien der Prävention, aber
auch auf Kooperation setzen muss.
Neue soziale Risikolagen im
biographischen Verlauf werden auch
von den Soziologi*nnen Ariane
Kellmer und Anja Weiß thematisiert.
Dabei liegt die Stoßrichtung
ihres Forschungsinteresses auf der
Frage, warum Menschen biographische
Risiken zuvorderst als Risiken
der individuellen Lebensführung
wahrnehmen und dabei strukturelle
gesellschaftliche Hindernisse unterbelichten.
Auf der Basis von Fallstudien
wird argumentiert, dass solche
strukturellen Barrieren – anders als
die gängige Individualisierungstheorie
annimmt – nicht nur Emanzipationsbestrebungen
im Rahmen
des Nationalstaates, sondern auch
Lebensgeschichten im Migrationsprozess
tangieren.
Den Blick auf fremde Kulturräume
richten Flemming Christiansen
und Mei Yu, indem sie
Ergebnisse von drei Doktorarbeiten
präsentieren, die im Rahmen des
DFG-Graduiertenkollegs Risiko und
Ostasien entstanden sind. Mit diesem
Blick über den Tellerrand lässt sich
die kulturelle Prägung und soziale
Konstruktion von Risiken besonders
deutlich vor Augen führen, wobei
im Zuge von Reformprozessen in
China das Ineinandergreifen von
offiziellen politisch-administrativen
Risikobewältigungsstrategien und
informellem Krisenmanagement der
Betroffenen ein spezifisches Charakteristikum
darzustellen scheint.
Drei Interviews runden den Blick
auf aktuelle Risikoforschung ab:
Die Historikerin Korinna Schönhärl
erläutert, dass die Risikoterminologie
zwar weitgehend erst im 20. Jahrhundert
entwickelt wird, sich aber
ökonomische Entscheidungsprozesse
auch in früheren Jahrhunderten
z.T. nur dann verstehen lassen,
wenn sie als Auseinandersetzung
mit Risiken begriffen werden. Die
Politikwissenschaftlerin Cornelia
Ulbert zeichnet im Gespräch nach,
welche Folgen der Übergang vom
Krisen- zum Risikobegriff für politische
Aushandlungsprozesse und
deren Resultate nach sich zieht. Und
schließlich stellt der Politikwissenschaftler
Dirk Messner angesichts
der Schwierigkeiten der internationalen
Gemeinschaft, adäquat
auf Risiken zu reagieren, die die
Menschheit insgesamt bedrohen
könnten, ein Forschungsprogramm
vor, in dem es um Möglichkeiten
geht, globale Kooperation zu verbessern.
Die Beiträge des Heftes verdeutlichen,
dass der Risikobegriff
zu einer zentralen Kategorie gesellschaftlicher
Selbstbeobachtung
geworden ist, der über die Wissenschaftsdisziplinen
hinweg Wandlungsprozesse
in der modernen, von
wachsender Kontingenz geprägten
Gesellschaft zu verdeutlichen
vermag.
Eine anregende Lektüre
wünschen Ihnen
Renate Martinsen
und Andreas Niederberger
Meinungen aus der Lesejury
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