Cover-Bild Erziehung zur Mündigkeit
(1)
  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Handlung
  • Charaktere
10,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Suhrkamp
  • Themenbereich: Gesellschaft und Sozialwissenschaften - Pädagogik
  • Genre: keine Angabe / keine Angabe
  • Seitenzahl: 160
  • Ersterscheinung: 01.11.1971
  • ISBN: 9783518365113
Theodor W. Adorno

Erziehung zur Mündigkeit

Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969
Gerd Kadelbach (Herausgeber)

Erziehung zur Mündigkeit sammelt Vorträge und Gespräche, die von 1959 bis 1969 im Hessischen Rundfunk gesendet wurden. Sie zeigen einen »anderen« Adorno als die meisten seiner Bücher: er wirkt unmittelbare kommunikativer, verständlicher; er leitet den Leser – wie einst den Hörer zum Mitdenken und schließlich zum Selbstdenken an."

Weitere Formate

Dieses Produkt bei deinem lokalen Buchhändler bestellen

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.01.2022

Über die Tatsachengläubigkeit des Fachmenschen (38)

0

Adorno (1903-69) kommt aus einer anderen Welt, die noch nach der Autonomie des Menschen gefragt hat. Wir leben heute in einer Welt, zumal in deutschen Landen, die lieber nach der Autonomie von Fahrzeugen ...

Adorno (1903-69) kommt aus einer anderen Welt, die noch nach der Autonomie des Menschen gefragt hat. Wir leben heute in einer Welt, zumal in deutschen Landen, die lieber nach der Autonomie von Fahrzeugen („autonomes Fahren“) fragt und die bereit ist, Unsummen in solche (und andere technische) Entwicklungen zu investieren. 50 Jahre nach Adorno könnte der Abstand zwischen ihm und uns nicht größer sein. Es sollte deshalb nicht wundern, dass alte Adorno-Bändchen von Suhrkamp im Antiquariat entweder ausverkauft oder sündhaft teuer sind. Den vorliegenden kleinen Band kann man also getrost neu kaufen, denn man bekommt acht Texte und zahlt für jeden nur einen Euro. Es handelt sich um vier Vorträge und vier Gespräche aus den 1960er Jahren zum Thema Bildung. Wer nach der Autonomie von Menschen statt von Fahrzeugen fragt, muss wohl ein anderes Verständnis von Bildung haben als wir heute mit unseren kompetenzorientierten G8 - Gymnasien. Der zweite Text („Philosophie und Lehrer“) stammt aus dem Jahr 1962 und reflektiert die Erfahrungen des Hochschullehrers mit Lehramtsprüfungen, in denen hessische Examenskandidaten jener Zeit unabhängig von ihrem Studien- und späteren Unterrichtsfach ein sog. Philosophicum (33) ablegen mussten und dabei auf Adorno treffen konnten - nicht immer zu ihrer Freude (29-49). Der vierte Text („Tabus über dem Lehrberuf“) geht der Frage nach den historischen und sozialen Wurzeln einer „Abneigung gegen den Lehrberuf“ (70) nach (70-88), die v.a. im Deutschen (Pauker, Steißtrommler) oder Englischen (schoolmarm) zu greifen sei (73) und im Kontrast stehe zu einer geradezu „magische(n) Verehrung“ von Lehrkräften in China oder im Judentum. (75) Lehrer waren hierzulande „zwar Akademiker, aber nicht eigentlich gesellschaftsfähig.“ (72) Adorno sieht sie im 4. Text als „Erbe der Scriba“ (73) oder „Erbe der Mönche“ (75), die ihren „Anspruch des Geistes auf Status und Herrschaft“ (72) noch nicht durchsetzen konnten. In der „Ontologie des Lehrers“ (77) sieht er eine gesellschaftlich eher beargwöhnte Neigung zu potentieller unfairness, die sich aus einer Lizenz zum Redenschwingen vor Minderjährigen und dem „Vorsprung des Wissens vor dem seiner Schüler“ (76), also einer ins Schulsystem eingebauten Asymmetrie verdankt, die „wirkliche Macht nur parodiert“ (75). Adorno erhofft sich 1965, dass „aus der Versachlichung des Lehrberufs (…) ein gewisser Umschwung“ eintritt, der auch die Hochschullehrer nicht unberührt lässt und bei diesen allerdings dazu führen könne, dass sie „allmählich (…) zum Verkäufer von Kenntnissen“ würden, „ein wenig bemitleidet, weil er jene Kenntnisse nicht besser für sein eigenes materielles Interesse zu verwerten vermag.“ (76) Der Hürde des Philosophicum stellten sich die meisten hessischen Lehramtsanwärter jener Zeit jedenfalls mit einem eher mulmigen Gefühl, „deren Ängste wir uns gut vorstellen können.“ (30) „Philosophie belastet die zukünftigen Lehrer“ (35), weil sie über den Tellerrand der eigenen Fächer hinaussehen sollen, sich aber lieber an die Sekurität des eigenen Fachwissens und des eigenen Fachmenschentums, den Adorno mit dem Vorwurf der Verdinglichung belegt, festklammern. „Wir möchten also in dieser Prüfung sehen, ob diejenigen, die als Lehrer an Höheren Schulen mit einem schweren Maß an Verantwortung für die geistige und reale Entwicklung Deutschlands belastet sind, Intellektuelle sind, oder, wie Ibsen vor nun schon achzig Jahren es nannte, bloße (!) Fachmenschen.“ (32) Die Nähe zur Einseitigkeit und Unbedingheit des Fachidiotentums ist nicht zu übersehen und „Ausdruck der Verdinglichung des Geistes, die dieser mit der zunehmend verdinglichten Tauschgesellschaft erfuhr.“ (33) Als Leser von Adornos Text darf man mit den damaligen Examenskandidaten gerne mitschwitzen, denn wer könnte heute in einer solchen Prüfungen „den Mangel an dynamischen Kategorien in der Cartesianischen Konzeption von der Natur“ (37) noch richtig einschätzen, den Zusammenhang von Bergsons Philosophie mit dem Impressionismus (40) noch zutreffend bestimmen oder in Zeiten von Donald Trump und Boris Johnson „vom Unterschied der Sprache als einem Mittel der Kommunikation und der als einem des präzisen Ausdrucks der Sache“ (41) noch verständnisvoll sprechen? Eine Entlastung durch Popmusik ließ der gestrenge Lehrer übrigens nicht durchgehen: „Mit Barbarei meine ich nicht die Beatles, obwohl ihr Kult dazu gehört.“ (86)
Michael Karl

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Handlung
  • Charaktere