Band 176
der Reihe "Lyrik"
18,50
€
inkl. MwSt
- Verlag: Pop, Traian
- Themenbereich: Kunst
- Genre: keine Angabe / keine Angabe
- Seitenzahl: 153
- Ersterscheinung: 01.08.2022
- ISBN: 9783863563653
Posledni sněh / Der letzte Schnee
Basnje / serbsce-němsce. Gedichte / sorbisch-deutsch.
Benedikt Dyrlich (Herausgeber), Benedikt Dyrlich (Übersetzer), Dorothea Šołćina (Scholze) (Übersetzer), Horst Fassel (Übersetzer), Edith Konradt (Übersetzer), Johann Lippet (Übersetzer), Dieter Schlesak (Übersetzer)
Begegnungen mit Traian Pop Traian
1
Dichter und Rebell, Verleger und Auswanderer, Musiker und Theatermann, Herausgeber und Redakteur.
Mit diesen und weiteren Etiketten lässt sich Traian Pop Traian markig charakterisieren. Ich selbst füge indes meinem Freund und Kollegen aus der Dichtergilde von Herzen hinzu: Traian zählt mit seinem am 18. Dezember 2002 gegründeten Pop Verlag zu den produktivsten Förderern neuer ost- und südeuropäischer Literatur in Deutschland und ist in diesem Rahmen ein wichtiger Herausgeber des sorbischen Schrifttums. Davon zeugen etliche Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften slawischer und damit auch sorbischer Dichterinnen und Dichter in seinem Verlag.
Im fünften Jahr des neuen Jahrtausends habe ich den großen, bärtigen und langhaarigen Rumänen, geboren 1952 in Kronstadt und seit 1990 in Ludwigsburg lebend und wirkend, kennengelernt, während einer Tagung im Exil-PEN-Club. Von Anfang an überraschte mich sein unmittelbares Interesse für die an den Rand gedrängten und manchmal verborgenen und verwaisten Literaturlandschaften Europas, auch für die Literatur und das Schicksal des kleinsten slawischen Volkes, das seit 1500 Jahren auf dem Territorium des heutigen östlichen Deutschlands siedelt. Dabei verriet Traian, dass ihn vornehmlich das dichterische Schaffen von Kito Lorenc [1938–2017] fessele, er verfolge mit Bewunderung stetig sein Schreiben. Aus seinen Anmerkungen sprachen Respekt und die Ansicht, dass die Poesie des sorbisch-deutschen Dichters den durchschnittlichen Rahmen der literarischen Produktion in Deutschland überragt; und dass aus seiner Dichtung ein Geist des Widerspruchs quillt, zudem eine gewisse Schlitzohrigkeit, mit der Grenzen des braven Redens und Schreibens überschritten und eine aufgeblasene und missionarische Sprache von Predigern in Politik und Medien infrage gestellt werden. Heute denke ich, dass uns die Gedichte des wichtigsten sorbischen Poeten im 20. Jahrhundert ein guter Grund für die Beschäftigung mit Lyrik überhaupt sowie für unsere Freundschaft waren und sind, die uns nunmehr schon fast zwei Jahrzehnte zu gemeinsamen literarischen Vorhaben trieb und treibt. Und selbstverständlich eint uns, dass ein jeder selbst dichtet und sich für das Schaffen des anderen offen und neugierig macht.
2
Beim Lesen der Texte von Traian drang ich in Sprachräume, in denen eine ungewohnte, ja unordentliche Ordnung von Wendungen und Bildern herrscht. Es fällt vor allem auf, dass der Dichter seine Verse in die Länge zieht, sie oft jäh bricht und verkürzt. Die Interpunktion ist ihm genauso schnurz wie eine gängige Logik. Der Umgang des Dichters mit Sprache ist ausgesprochen eigenwillig, er zerstückelt deren Selbstverständlichkeit und schafft neue Zusammenhänge, achtend dabei auf Gegenstände und Sachverhalte aus ungewöhnlichen Blickwinkeln. Diese Brüche und Perspektivwechsel bewirken und gewährleisten überraschende Entdeckungen, mit denen man sein Umfeld und darin sich selbst auf neue, hin und wieder seltsame und zugleich erstaunliche Art und Weise erkennt und erlebt. Im Gedicht Einschlafen brennen frieren, geschrieben im Jahr 2001, heißt es, dass nicht immer nur der Kopf oder das Herz das Zentrum des Seins bestimmen, sondern zum Beispiel auch die Hand:
Meine Hand spielt Katz und Maus
Schläft ein brennt friert…
In der Poesie von Traian, der in den jungen und jüngeren Jahren –
vor seiner Übersiedlung nach Westdeutschland – ein begeisterter „Dubaş“, Toningenieur sowie Theatermann war, spielen unterschiedliche Glieder, Instrumente und Organe, Zeitebenen, Wahrnehmungen und Empfindungen die Hauptrolle oder eine wichtige Nebenrolle. Von der Bühne [dieser Poesie] schlagen ins Auge oder klimpern ins Ohr Sprachfiguren, die sich als Glatze aus Glas, ungeduldige Gitarren, Zäune, die ich nicht atmen höre, das runzlige Ohr des Stethoskops oder als der zerbrochene Buchstabe offenbaren. Mit dieser Wirklichkeit der Zufälle und unerwarteter Erscheinungen ist der Leser wie der Zuschauer im Theater zu einer gewissen Distanz verdammt, zumindest zu Beginn [der Vorführung], wenn er mit dem scheinbar verwirrenden, verschmitzten Angebot des Spielers [Dichters] konfrontiert wird. Früher oder später erkennt der Adressat jedoch, dass man sich vom Spiel und dem lyrischen, dennoch kaum hymnischen Wortschwall einspannen und entzücken lassen darf. Mit der Zeit fallen zwischen dem auch zornig wirkenden Gaukler und dem verworrenen Rezipienten alle Mauern – und die Texte regen zum Schmunzeln an, zur wiederholten Beschäftigung, zum Nachdenken in Reichweiten, welche die Enge des Alltags überschreiten. Plagegeister und Ungetüme verschwinden – und obschon man von schmerzlichen Beklemmungen erfasst wird, fühlt man, dass die Akteure der poetischen Bühne sich dem Diktat unübersichtlicher Kräfte widersetzen, die über uns herrschen.
Ja, der Dichter Traian Pop Traian trägt die Last der Erfahrungen aus der neostalinistischen Diktatur im verflossenen Rumänien mit in die Freiheit nach Ludwigsburg. Doch auch unter den neuen Umständen lähmen und bedrohen marternde Mächte und Mächtige, oft in Schafspelze gehüllt, das lyrische Ich, sein unbeschwertes Denken und Sprechen. Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit wird weiter untergraben durch Albträume und Todesängste. So staut die Flut von Wahnbildern in einem Gedicht aus dem Jahr 1979 die Liebesnacht im Herbst. In dem Text Unschuldig, geschrieben 22 Jahre später, geistern die alten Gespenster immer noch, der Herbst wirkt wiederholt bedrohlich, denn die Blätter am Neckar kehren mir den Rücken zu.
3
Temeswar, 15. August 2016
Am Vormittag fuhren M. und ich unter einer sengenden Sonne aus dem hügligen Banat zurück ins Hotel Delpack in Temeswar. Uns chauffierte [in seinem Auto] Slavomir Gvozdenović, ein rühriger Dichter, Übersetzer rumänischer Lyrik ins Serbische [und umgekehrt] sowie Abgeordneter der serbischen nationalen Minderheit in Rumänien. Die Rückreise führte durch eine fruchtbare Landschaft im Grenzgebiet zwischen Serbien und Rumänien. Im Gedächtnis bleiben werden mir unglaublich große Plantagen von Apfelbäumen und Felder mit Sonnenblumen, die – so Slavomir – Serbien nach Moskau schickt.
Gegen Abend besuchten wir mit Traian Pop Traian, der aus Rumänien stammt, und seiner Frau Dorina noch einen beliebten Park, tranken ein Bier in einem herrlichen Garten und begaben uns zu einem alten orthodoxen Kirchlein, wo gerade eine Trauung zu Ende ging. Dort erlebten wir eine Taufe mit einem jungen Geistlichen und herausgeputzten Menschen: Jungen und Männer in dunklen Anzügen und weißen Hemden, Mädchen und Frauen in leichten, vornehmlich blauen, weißen und violetten Kleidern. Den Täufling tauchte man, wie es in der orthodoxen Kirche Brauch ist, mit Hintern und Bäuchlein in einen Kessel voll Weihwasser. Die Zeremonie wurde von ständigen Gebeten begleitet.
Von Traian und Dorina erfuhren wir, dass sich die Rumänen wieder stärker der Religion zuwenden. Viele jedoch betrachten die kirchlichen Rituale eher oder gar nur als Veredelung von Feiertagen im Jahreslauf und von prägnanten Ereignissen in Familie und Verwandtschaft.
Mein Lieblingstheologe und -soziologe aus Jugendtagen, Harvey Cox, hat wohl recht: Der Mensch ist ein »homo festivus«, was heißen soll: Er singt, tanzt und betet, plaudert und feiert gern. Ohne dergleichen kommt keine Kultur und kein Glaube aus, was wir erneut in Serbien und Rumänien erleben konnten. Und der Mensch, so Cox weiter in seinem Buch Das Fest der Narren von 1969, ist zugleich ein homo phantasia. Das bedeutet, der Mensch träumt und schafft, erzählt und dichtet, inszeniert und spielt. Unser Wesen ist auf fromme und gottlose Feierlichkeit und Fantasie, auf strenge, ernste und fröhliche Riten, auf solches und anderes Theater ausgerichtet.
Tagebuch
4
Im Verlauf der Jahre hatte ich etliche Begegnungen und Erlebnisse mit dem Dichter, Herausgeber und Verleger aus Ludwigsburg. Unvergesslich bleiben M. und mir die Ausflüge mit ihm und seiner Dorina in das rumänische und vielsprachige Temeswar und seine Umgebung im Jahr 2016. Darüber sind Aufzeichnungen in der zweisprachigen Sammlung meiner Erinnerungen Leben im Zwiespalt 2 sowie in der Anthologie sorbischer Prosa Susodźa [Nachbarn] und in der deutschsprachigen Edition meiner Geschichten Grüne Hasen dampfen ab erschienen.
Unterwegs brachte mir Traian etliche ursprüngliche Quellen seiner engeren und multikulturellen Heimat näher, aus denen der Wortkünstler und Editor weiterhin schöpft. Traian öffnete mir Fenster zu Nachbarn und Volksgruppen, deren Schicksal sich außerhalb des westeuropäischen Gesichtskreises abspielt. Gerade Temeswar erscheint aber heute ein fruchtbarer Nabel kultureller und literarischer Diskurse unter nationalen Minderheiten und Mehrheiten zu sein.
Mehrere Auftritte hatte ich mit Traian und seinem Verlag auf Buchmessen in Frankfurt am Main und in Leipzig, wo ich meine Sammlungen und Anthologien sorbischer Literatur, verlegt im Unternehmen meines Freundes, vorstellen und verbreiten helfen durfte, oft im Zusammenspiel mit Autorinnen und Autoren aus Rumänien, Georgien, Russland, Tschechien, Ukraine, Serbien, Polen und selbstverständlich aus Deutschland. Auch war Traian Teilnehmer des internationalen Festes der sorbischen Poesie 2016 in Bautzen und an weiteren Orten der Lausitz und Nordböhmens.
In diesem Kontext ermöglichte Traian mir und vielen Literaten und Übersetzern die Überschreitung sprachlicher und kultureller Hindernisse, die auch das Publizieren und Verbreiten des sorbischen Schrifttums traditionell einschränken und behindern.
Zum Ertrag dieser konkreten Begegnungen zähle ich nicht nur meine drei deutschsprachigen Gedicht- und Prosasammlungen aus dem Pop Verlag. Ausdruck unserer Freundschaft und eines kollegialen und solidarischen Umgangs sind vornehmlich mehrere Anthologien sorbischer Literatur etlicher Wortschöpfer und unserer Nachdichter und Förderer im In- und Ausland. Diese Editionen in den Literaturzeitschriften MATRIX und BAWÜLON aus dem Verlag in Ludwigsburg schreiben wohl schon ein Stück der Literatur- und Verlagsgeschichte des Volkes der Sorben und des sorbisch-deutschen und sorbisch-rumänischen Literaturaustausches mit.
5
In der vorliegenden Ausgabe sind 51 Gedichte aus der Feder von Traian Pop Traian in sorbischer und deutscher Sprache versammelt. Die Übertragungen aus dem Deutschen ins Sorbische hat Dorothea Šołćina mit mir verfasst, in Konsultation mit Traian und im Vergleich mit seinen rumänischen Originalen. Nach der sorbisch-deutschen Sammlung der Gedichte von Mićo Cvijetić aus Serbien, die 2019 unter dem Titel Donjebjesspěće/Himmelfahrt erschienen ist, beschert uns der Verlag aus Ludwigsburg nun eine weitere zweisprachige Ausgabe von Gedichten, die aus der Feder eines aufrichtigen Förderers der sorbischen Literatur außerhalb der Lausitz stammen.
Dresden, 10. Mai 2022
Benedikt Dyrlich
1
Dichter und Rebell, Verleger und Auswanderer, Musiker und Theatermann, Herausgeber und Redakteur.
Mit diesen und weiteren Etiketten lässt sich Traian Pop Traian markig charakterisieren. Ich selbst füge indes meinem Freund und Kollegen aus der Dichtergilde von Herzen hinzu: Traian zählt mit seinem am 18. Dezember 2002 gegründeten Pop Verlag zu den produktivsten Förderern neuer ost- und südeuropäischer Literatur in Deutschland und ist in diesem Rahmen ein wichtiger Herausgeber des sorbischen Schrifttums. Davon zeugen etliche Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften slawischer und damit auch sorbischer Dichterinnen und Dichter in seinem Verlag.
Im fünften Jahr des neuen Jahrtausends habe ich den großen, bärtigen und langhaarigen Rumänen, geboren 1952 in Kronstadt und seit 1990 in Ludwigsburg lebend und wirkend, kennengelernt, während einer Tagung im Exil-PEN-Club. Von Anfang an überraschte mich sein unmittelbares Interesse für die an den Rand gedrängten und manchmal verborgenen und verwaisten Literaturlandschaften Europas, auch für die Literatur und das Schicksal des kleinsten slawischen Volkes, das seit 1500 Jahren auf dem Territorium des heutigen östlichen Deutschlands siedelt. Dabei verriet Traian, dass ihn vornehmlich das dichterische Schaffen von Kito Lorenc [1938–2017] fessele, er verfolge mit Bewunderung stetig sein Schreiben. Aus seinen Anmerkungen sprachen Respekt und die Ansicht, dass die Poesie des sorbisch-deutschen Dichters den durchschnittlichen Rahmen der literarischen Produktion in Deutschland überragt; und dass aus seiner Dichtung ein Geist des Widerspruchs quillt, zudem eine gewisse Schlitzohrigkeit, mit der Grenzen des braven Redens und Schreibens überschritten und eine aufgeblasene und missionarische Sprache von Predigern in Politik und Medien infrage gestellt werden. Heute denke ich, dass uns die Gedichte des wichtigsten sorbischen Poeten im 20. Jahrhundert ein guter Grund für die Beschäftigung mit Lyrik überhaupt sowie für unsere Freundschaft waren und sind, die uns nunmehr schon fast zwei Jahrzehnte zu gemeinsamen literarischen Vorhaben trieb und treibt. Und selbstverständlich eint uns, dass ein jeder selbst dichtet und sich für das Schaffen des anderen offen und neugierig macht.
2
Beim Lesen der Texte von Traian drang ich in Sprachräume, in denen eine ungewohnte, ja unordentliche Ordnung von Wendungen und Bildern herrscht. Es fällt vor allem auf, dass der Dichter seine Verse in die Länge zieht, sie oft jäh bricht und verkürzt. Die Interpunktion ist ihm genauso schnurz wie eine gängige Logik. Der Umgang des Dichters mit Sprache ist ausgesprochen eigenwillig, er zerstückelt deren Selbstverständlichkeit und schafft neue Zusammenhänge, achtend dabei auf Gegenstände und Sachverhalte aus ungewöhnlichen Blickwinkeln. Diese Brüche und Perspektivwechsel bewirken und gewährleisten überraschende Entdeckungen, mit denen man sein Umfeld und darin sich selbst auf neue, hin und wieder seltsame und zugleich erstaunliche Art und Weise erkennt und erlebt. Im Gedicht Einschlafen brennen frieren, geschrieben im Jahr 2001, heißt es, dass nicht immer nur der Kopf oder das Herz das Zentrum des Seins bestimmen, sondern zum Beispiel auch die Hand:
Meine Hand spielt Katz und Maus
Schläft ein brennt friert…
In der Poesie von Traian, der in den jungen und jüngeren Jahren –
vor seiner Übersiedlung nach Westdeutschland – ein begeisterter „Dubaş“, Toningenieur sowie Theatermann war, spielen unterschiedliche Glieder, Instrumente und Organe, Zeitebenen, Wahrnehmungen und Empfindungen die Hauptrolle oder eine wichtige Nebenrolle. Von der Bühne [dieser Poesie] schlagen ins Auge oder klimpern ins Ohr Sprachfiguren, die sich als Glatze aus Glas, ungeduldige Gitarren, Zäune, die ich nicht atmen höre, das runzlige Ohr des Stethoskops oder als der zerbrochene Buchstabe offenbaren. Mit dieser Wirklichkeit der Zufälle und unerwarteter Erscheinungen ist der Leser wie der Zuschauer im Theater zu einer gewissen Distanz verdammt, zumindest zu Beginn [der Vorführung], wenn er mit dem scheinbar verwirrenden, verschmitzten Angebot des Spielers [Dichters] konfrontiert wird. Früher oder später erkennt der Adressat jedoch, dass man sich vom Spiel und dem lyrischen, dennoch kaum hymnischen Wortschwall einspannen und entzücken lassen darf. Mit der Zeit fallen zwischen dem auch zornig wirkenden Gaukler und dem verworrenen Rezipienten alle Mauern – und die Texte regen zum Schmunzeln an, zur wiederholten Beschäftigung, zum Nachdenken in Reichweiten, welche die Enge des Alltags überschreiten. Plagegeister und Ungetüme verschwinden – und obschon man von schmerzlichen Beklemmungen erfasst wird, fühlt man, dass die Akteure der poetischen Bühne sich dem Diktat unübersichtlicher Kräfte widersetzen, die über uns herrschen.
Ja, der Dichter Traian Pop Traian trägt die Last der Erfahrungen aus der neostalinistischen Diktatur im verflossenen Rumänien mit in die Freiheit nach Ludwigsburg. Doch auch unter den neuen Umständen lähmen und bedrohen marternde Mächte und Mächtige, oft in Schafspelze gehüllt, das lyrische Ich, sein unbeschwertes Denken und Sprechen. Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit wird weiter untergraben durch Albträume und Todesängste. So staut die Flut von Wahnbildern in einem Gedicht aus dem Jahr 1979 die Liebesnacht im Herbst. In dem Text Unschuldig, geschrieben 22 Jahre später, geistern die alten Gespenster immer noch, der Herbst wirkt wiederholt bedrohlich, denn die Blätter am Neckar kehren mir den Rücken zu.
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Temeswar, 15. August 2016
Am Vormittag fuhren M. und ich unter einer sengenden Sonne aus dem hügligen Banat zurück ins Hotel Delpack in Temeswar. Uns chauffierte [in seinem Auto] Slavomir Gvozdenović, ein rühriger Dichter, Übersetzer rumänischer Lyrik ins Serbische [und umgekehrt] sowie Abgeordneter der serbischen nationalen Minderheit in Rumänien. Die Rückreise führte durch eine fruchtbare Landschaft im Grenzgebiet zwischen Serbien und Rumänien. Im Gedächtnis bleiben werden mir unglaublich große Plantagen von Apfelbäumen und Felder mit Sonnenblumen, die – so Slavomir – Serbien nach Moskau schickt.
Gegen Abend besuchten wir mit Traian Pop Traian, der aus Rumänien stammt, und seiner Frau Dorina noch einen beliebten Park, tranken ein Bier in einem herrlichen Garten und begaben uns zu einem alten orthodoxen Kirchlein, wo gerade eine Trauung zu Ende ging. Dort erlebten wir eine Taufe mit einem jungen Geistlichen und herausgeputzten Menschen: Jungen und Männer in dunklen Anzügen und weißen Hemden, Mädchen und Frauen in leichten, vornehmlich blauen, weißen und violetten Kleidern. Den Täufling tauchte man, wie es in der orthodoxen Kirche Brauch ist, mit Hintern und Bäuchlein in einen Kessel voll Weihwasser. Die Zeremonie wurde von ständigen Gebeten begleitet.
Von Traian und Dorina erfuhren wir, dass sich die Rumänen wieder stärker der Religion zuwenden. Viele jedoch betrachten die kirchlichen Rituale eher oder gar nur als Veredelung von Feiertagen im Jahreslauf und von prägnanten Ereignissen in Familie und Verwandtschaft.
Mein Lieblingstheologe und -soziologe aus Jugendtagen, Harvey Cox, hat wohl recht: Der Mensch ist ein »homo festivus«, was heißen soll: Er singt, tanzt und betet, plaudert und feiert gern. Ohne dergleichen kommt keine Kultur und kein Glaube aus, was wir erneut in Serbien und Rumänien erleben konnten. Und der Mensch, so Cox weiter in seinem Buch Das Fest der Narren von 1969, ist zugleich ein homo phantasia. Das bedeutet, der Mensch träumt und schafft, erzählt und dichtet, inszeniert und spielt. Unser Wesen ist auf fromme und gottlose Feierlichkeit und Fantasie, auf strenge, ernste und fröhliche Riten, auf solches und anderes Theater ausgerichtet.
Tagebuch
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Im Verlauf der Jahre hatte ich etliche Begegnungen und Erlebnisse mit dem Dichter, Herausgeber und Verleger aus Ludwigsburg. Unvergesslich bleiben M. und mir die Ausflüge mit ihm und seiner Dorina in das rumänische und vielsprachige Temeswar und seine Umgebung im Jahr 2016. Darüber sind Aufzeichnungen in der zweisprachigen Sammlung meiner Erinnerungen Leben im Zwiespalt 2 sowie in der Anthologie sorbischer Prosa Susodźa [Nachbarn] und in der deutschsprachigen Edition meiner Geschichten Grüne Hasen dampfen ab erschienen.
Unterwegs brachte mir Traian etliche ursprüngliche Quellen seiner engeren und multikulturellen Heimat näher, aus denen der Wortkünstler und Editor weiterhin schöpft. Traian öffnete mir Fenster zu Nachbarn und Volksgruppen, deren Schicksal sich außerhalb des westeuropäischen Gesichtskreises abspielt. Gerade Temeswar erscheint aber heute ein fruchtbarer Nabel kultureller und literarischer Diskurse unter nationalen Minderheiten und Mehrheiten zu sein.
Mehrere Auftritte hatte ich mit Traian und seinem Verlag auf Buchmessen in Frankfurt am Main und in Leipzig, wo ich meine Sammlungen und Anthologien sorbischer Literatur, verlegt im Unternehmen meines Freundes, vorstellen und verbreiten helfen durfte, oft im Zusammenspiel mit Autorinnen und Autoren aus Rumänien, Georgien, Russland, Tschechien, Ukraine, Serbien, Polen und selbstverständlich aus Deutschland. Auch war Traian Teilnehmer des internationalen Festes der sorbischen Poesie 2016 in Bautzen und an weiteren Orten der Lausitz und Nordböhmens.
In diesem Kontext ermöglichte Traian mir und vielen Literaten und Übersetzern die Überschreitung sprachlicher und kultureller Hindernisse, die auch das Publizieren und Verbreiten des sorbischen Schrifttums traditionell einschränken und behindern.
Zum Ertrag dieser konkreten Begegnungen zähle ich nicht nur meine drei deutschsprachigen Gedicht- und Prosasammlungen aus dem Pop Verlag. Ausdruck unserer Freundschaft und eines kollegialen und solidarischen Umgangs sind vornehmlich mehrere Anthologien sorbischer Literatur etlicher Wortschöpfer und unserer Nachdichter und Förderer im In- und Ausland. Diese Editionen in den Literaturzeitschriften MATRIX und BAWÜLON aus dem Verlag in Ludwigsburg schreiben wohl schon ein Stück der Literatur- und Verlagsgeschichte des Volkes der Sorben und des sorbisch-deutschen und sorbisch-rumänischen Literaturaustausches mit.
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In der vorliegenden Ausgabe sind 51 Gedichte aus der Feder von Traian Pop Traian in sorbischer und deutscher Sprache versammelt. Die Übertragungen aus dem Deutschen ins Sorbische hat Dorothea Šołćina mit mir verfasst, in Konsultation mit Traian und im Vergleich mit seinen rumänischen Originalen. Nach der sorbisch-deutschen Sammlung der Gedichte von Mićo Cvijetić aus Serbien, die 2019 unter dem Titel Donjebjesspěće/Himmelfahrt erschienen ist, beschert uns der Verlag aus Ludwigsburg nun eine weitere zweisprachige Ausgabe von Gedichten, die aus der Feder eines aufrichtigen Förderers der sorbischen Literatur außerhalb der Lausitz stammen.
Dresden, 10. Mai 2022
Benedikt Dyrlich
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