Historisch und literaturgeschichtlich interessant
REZENSION – Über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946, in dem die vier Siegermächte gemeinsam über die wichtigsten Nazi-Funktionäre zu Gericht saßen, wurde ...
REZENSION – Über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946, in dem die vier Siegermächte gemeinsam über die wichtigsten Nazi-Funktionäre zu Gericht saßen, wurde schon viel geschrieben. Somit könnte man meinen, es sei alles gesagt. Doch mit seinem faszinierenden Sachbuch „Das Schloss der Schriftsteller“, im April beim Verlag C. H. Beck erschienen, beweist uns Autor Uwe Neumahr das Gegenteil: Basierend auf der 2015 von Steffen Radlmaier anlässlich des 50. Jahrestages des Prozessbeginns veröffentlichten Broschüre „Das Bleistiftschloss als Press Camp“ sowie bislang unveröffentlichten Quellen, steht in Neumahrs Buch nicht unbedingt der Prozess im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Alltag der zur Berichterstattung nach Nürnberg entsandten Korrespondenten aus aller Welt, ihre Arbeit, ihre Gefühle und die Auswirkungen des Nürnberger Prozesses auf ihr späteres Wirken. Die meisten Journalisten und Schriftsteller waren in dem von den Amerikanern beschlagnahmten Schloss der Fabrikantenfamilie Faber-Castell im nahen Dorf Stein untergebracht.
Dieses Gipfeltreffen der „Crème de la Crème der damaligen Presse- und Literaturszene“ war ebenso ein in der Geschichte einmaliges Ereignis wie der Prozess: „Weltliteratur traf auf Weltgeschichte“. Obwohl sein Werk auch ein „Buch über Sprachlosigkeit und den literarischen Umgang mit dem Unsagbaren“ ist, gelingt es dem Autor immer wieder durch Einbindung von Klatsch- und Tratschgeschichten wie den Schilderungen von Eifersüchteleien oder Liebschaften zwischen den literarischen Beobachtern sein Sachbuch auch für Freunde der Belletristik interessant zu machen. So beschreibt Erich Kästner die aus dem US-Exil angereiste Erika Mann als „patriotisch amerikanisch“, während die Mann-Tochter dem nach Norwegen berichtenden Korrespondenten Willy Brandt „ein wenig auf die Nerven [ging, indem sie] vorgab, sie könne nicht mehr deutsch reden.“ Sogar Golo Mann fühlte sich von seiner Schwester genervt, die Deutschland und alle Deutschen unterschiedslos verdammte.
Klatsch und Tratsch gab es zur Genüge, mussten sich doch die Korrespondenten nicht nur während der oft mehrtägigen Verhandlungspausen des „Kaugummiprozesses“ ihre Zeit fern der Heimat vertreiben, sondern sich auch psychisch von dem im Gerichtssaal Gesehenen und Gehörten entlasten. „Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. … Im Gerichtsaal blickten sie den Verbrechern ins Angesicht, im Press Camp auf dem Schloss versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen.“ Ihr Blick „in den Abgrund der Geschichte“ veränderte nicht nur die Bewohner des Schlosses, sondern auch ihre Art zu schreiben.
Wie dies beim Einzelnen spürbar wurde, zeigt Uwe Neumahr nach einführenden Kapiteln über das unkomfortable Leben und Arbeiten auf dem Faber-Schloss sowie dessen Verwaltung durch amerikanische Offiziere in den nachfolgenden Kapiteln, in deren Vordergrund jeweils ein bekannter Reporter oder Schriftsteller steht: John Dos Passos, Erich Kästner, Erika Mann, William Shirer, Alfred Döblin, Janet Flanner, Elsa Triolet, Willy Brandt, Markus Wolf, Rebecca West, Martha Gellhorn und nicht zuletzt Wolfgang Hildesheimer. Er war damals noch nicht Schriftsteller, sondern arbeitete als Simultandolmetscher im Gerichtssaal. Das schnellere Simultandolmetschen war zwecks Zeitersparnis erstmals beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eingeführt worden.
Nicht nur am Beispiel Hildesheimers, aber besonders bemerkbar an dessen weiterem Lebenslauf zeigt Neumahr, wie sich jene Eindrücke in Nürnberg auf sein späteres Wirken und die schriftstellerische Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen auswirkte. So ist „Das Schloss der Schriftsteller“ vor allem eine für literaturgeschichtlich interessierte Leser unbedingt empfehlenswerte Lektüre.