Das Hotel als Mikrokosmos und Heterotopie
**Achtung Spoiler**
Ein sehr gelungenes Buch und eine talentierte Autorin, die leider immer noch zu wenig Anerkennung für ihre Werke erhält. Leider haftet diesem Werk (unverdienterweise) immer noch, ...
**Achtung Spoiler**
Ein sehr gelungenes Buch und eine talentierte Autorin, die leider immer noch zu wenig Anerkennung für ihre Werke erhält. Leider haftet diesem Werk (unverdienterweise) immer noch, der ihm oft zugeschriebene Titel "Trivialliteratur" an.
Schaut man jedoch genauer hin, ist dieses Buch auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht von Bedeutung.
Die Darstellung der Figuren in "Menschen im Hotel" und im dazugehörigen Film "Grand Hotel" ist absichtlich überspitzt und stellt somit ein wichtiges stilistisches Mittel für Kritik und eine verallgemeinerte Darstellung der Realität dar.
Besonders aufgefallen ist mir ebenfalls das individuelle Streben nach Erfüllung der Charaktere. Dies ist ein Motiv, das sich durch die gesamte Geschichte zieht und das Handeln, Denken und Verhalten der Charaktere maßgeblich beeinflusst und sogar antreibt. Dabei repräsentiert jede einzelne Figur im Buch verschiedene spezifische Aspekte des Lebens oder der Gesellschaft. Ob es sich um die alternde Tänzerin Grusinskaja handelt, deren Sehnsucht nach Erfüllung durch Liebe und Anerkennung ihren Lebensweg prägt, den mysteriösen Baron Gaigern, der zwischen Moral und eigenen Interessen hin- und hergerissen ist, oder den ehrgeizigen Geschäftsmann Preysing, der mit den Konflikten zwischen beruflichem Erfolg und persönlichem Glück kämpft - jede Figur verkörpert eine einzigartige Facette menschlicher Existenz. Die Figuren zeichnen sich somit auch durch ihre eigenen Probleme und Konflikte aus. Der sterbende und ein Leben lang geringverdienende Kringelein sehnt sich danach das Leben zu erfahren und glaubt dies nur in der Welt der Reichen tun zu können und der reiche und erfolgreiche Preysing flüchtet in eine Affäre, um den Anforderungen und der Kontrolle, die sein Leben zeichnen, zu entkommen.
Die Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen den Figuren formen den Mikrokosmos des Hotels und spiegeln die Vielfalt gesellschaftlicher Strukturen und Beziehungen wider. Die unterschiedlichen Charaktere repräsentieren verschiedene soziale Schichten, Lebensstile und Wertesysteme, was zu einer facettenreichen Darstellung der Gesellschaft führt. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Figurenkonstellation dazu beiträgt, das Hotel als einen repräsentativen Mikrokosmos der Gesellschaft zu formen. Die überspitzte und ironische Darstellung der Figuren ermöglicht es, gesellschaftliche Strukturen zu kritisieren und ein Abbild der Gesellschaft und des Lebens zu schaffen. Die Vielfalt der Charaktere und ihre individuellen Geschichten tragen dementsprechend dazu bei, ein lebendiges Bild des Mikrokosmos Hotels zu zeichnen.
Dies soll somit aufzeigen, dass die Darstellung der Figuren in "Menschen im Hotel" nicht nur trivialen Charakter hat, sondern auch eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem menschlichen Dasein und der Gesellschaft ermöglicht. Die Figurenkonstellation bietet Einblicke in die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen, dem Streben nach Erfolg, Gesellschaftsstrukturen und der Bedeutung von Leben und Tod.
Und auch der räumliche Aspekt, der während des Lesens schnell untergeht, ist bemerkenswert. Hierzu lässt sich sagen, dass das Grand Hotel in "Menschen im Hotel" als ein Raum präsentiert wird, der eine komplexe und ambivalente Heterotopie nach Foucault darstellt. Dabei ist es sein illusionärer Charakter, der es als Raum einzigartig macht. Die erste Illusion die dabei auffällt, ist die der scheinbaren Öffnung. Dabei sind sowohl die Tatsache gemeint, dass sich Besucher, aufgrund des alleingien Betretens des Hotels bereits als der Heterotopie zugehörig fühlen könnten, obwohl diese noch nicht zu Gästen aufgestiegen sind, als auch die Tatsache, dass selbst Gästen eine vollständige Öffnung der Heterotopie lediglich suggeriert wird, da diese nicht überall Zutritt haben. Eine weitere Illusion, die sich aufdecken lässt, ist die der Flucht und des Entkommens aus der Realität. Immerhin wird die Illusion von Freiheit und Privatsphäre durch verschiedene Widersprüche und Enthüllungen immer wieder aufs Neue im Roman aufgebrochen. Somit bleibt der Eindruck, dass das Hotel, obwohl es lediglich Illusionen zu verkaufen scheint, trotzdem durchaus reale Konsequenzen zur Folge hat.
Ganz konkret könnte man sagen, dass das Hotel als eine Art Spiegelheterotopie fungiert, indem es die Verzerrungen und Widersprüche der Gesellschaft widerspiegelt und kommentiert. Es ist somit eine Welt, die sowohl real als auch illusionär ist, und in der die Grenzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen. Die Charaktere des Romans finden sich in einem Labyrinth aus sozialen Konventionen, persönlichen Doppeltüren und verdeckten Motiven wieder. Dabei werden sie mit ihren eigenen Wünschen, Ängsten und moralischen Dilemmata konfrontiert, die in dieser speziellen Umgebung verstärkt und verzerrt werden. Das Grand Hotel wird somit zu einem metaphorischen Schauplatz für das Aufeinandertreffen von Träumen und Realitäten, an dem Illusionen sowohl genährt, aber auch gebrochen werden, was besonders an Preysings Schicksal deutlich wird. Die Charaktere im Hotel suchen außerdem nach verschiedenen Arten von Freiheit und Entkommen, sei es vor ihren persönlichen Problemen oder den gesellschaftlichen Zwängen und geben der Heterotopie durch diese individuellen Biographien und Perspektiven somit unterschiedliche Funktionen und Eigenschaften, was noch zu dem ambivalenten Charakter des Hotels beiträgt. Dadurch, dass jeder Charakter einen anderen Bezug zu dem Hotel hat, nimmt es auch für jede Figur eine andere Funktion ein, wobei diese verschiedenen Funktionen durchaus gegensätzlicher Natur sein können, genauso wie Fredersdorf als Herkunftsraum zu Beginn des Romans scheinbar widersprüchliche Funktionen für Kringelein und Preysing einnimmt. Hier verschwimmen erneut die Grenzen zwischen Realität und Illusion, da das Hotel eine Vielzahl von Bedeutungen und Funktionen für seine Bewohner bereithält, die oft im Widerspruch zu einander stehen. Somit wird das Hotel nicht nur als physischer Ort dargestellt, sondern auch als psychologischer Raum, der die inneren Konflikte und Sehnsüchte der Charaktere widerspiegelt. Ein Beispiel dafür ist erneut das Schicksal von Preysing, der im Hotel nach einem Ausweg aus seiner persönlichen und beruflichen Misere sucht. Für ihn verkörpert das Hotel sowohl die Möglichkeit zur Flucht als auch die Falle seiner eigenen Selbsttäuschung. Während er in den Illusionen des Hotels vorübergehend Trost findet, wird er letztendlich mit der harten Realität konfrontiert. Darüber hinaus unterliegt Kringelein der Illsuion von sozialer Mobilität und Gleichheit, obwohl das Hotel die bestehenden Hierarchien und Klassenunterschiede stets aufrechterhält. Trotz Kringeleins Raumwechsel und der Unterbringung aller Hotelgäste in einem gemeinsamen Raum, bleiben die Unterschiede in Macht, Prestige und Wohlstand deutlich spürbar und Kringelein wird stets als Außenseiter erkannt.
In diesem Kontext ist ebenfalls die Drehtür nennenswert, die ebenfalls für jede Figur eine andere Funktion einnimmt und durch ihren sowohl dynamischen als auch statischen Charakter in sich widersprüchlich ist. Der ambivalente Charakter des Grand Hotels zieht sich also sowohl durch die Figuren, als auch durch die der Heterotopie zugrunde liegenden Heterochronie sowie durch die Narration und die räumliche Gestaltung. Das Grand Hotel in Menschen im Hotel ist in der Konsequenz eine Heterotopie, die eine innere Ambivalenz aufweist und somit die Grenzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen lässt.
Und auch Dr. Otternschlag ist hier total interessant. Besonders in Verbindung zur Drehtür lässt sich die Bedeutung Dr. Otternschlags betonen, der zu Beginn des Romans zunächst anmerkt, dass nie etwas geschieht, bevor er von seinem Sofa aufsteht: „Alles war so tot. Die Stunde war tot. Die Halle war tot […] Grauenhaft ist es. Kein Leben. Gar kein Leben. Aber wo ist es? Nichts geschieht. Es geht nichts vor. Langweilig. Alt. Tot. Grauenhaft.“ Am Ende des Romans setzt er sich wieder auf das Sofa und merkt erneut an: „Grauenhaft ist es […] Immer das Gleiche. Nichts geschieht. Grauenhaft allein ist man. Die Welt ist ein abgestorbener Stern, sie wärmt nicht mehr. […] Rein – raus, rein – raus, rein – raus -“ So sieht man auch die „Kreisbewegung“ , die dieser Heterotopie zugrunde liegt an Otternschlag. Das Aufstehen markiert den Beginn des Romans und das Setzen das Ende der Geschichte, da der Kreis „vollendet ist“. Dr. Otternschlag befindet sich somit in einer ähnlichen Schleife, wie die Drehtür und ist dynamisch und statisch zugleich: immer in derselben Bewegung gefangen, ohne, dass sich etwas ändert. Dr. Otternschlags Zurückhaltung und seine metaphorische Verbindung zur statischen Natur der Drehtür werfen auch ein anderes Licht auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Zeit innerhalb des Hotels. Während die Gäste oft das Gefühl haben, dass die Zeit im Hotel schneller vergeht, da sich die Ereignisse dort rasch entfalten, scheint Otternschlag diese Wahrnehmung nicht zu teilen. Für ihn bleibt die Zeit gleichsam eingefroren, eine Abfolge von wiederholenden Mustern, in denen nichts Neues geschieht. Diese Aussage lässt sich jedoch mit dem Wissen um Otternschlags Verbindung zur Drehtür nun anders interpretieren. Denn während Gaigerns Totschlag, die Festnahme Preysings, intensive Liebesaffären und die Geburt eines Kindes für alle anderen aufregende Ereignisse darstellen, hat Otternschlag die Funktion und Bedeutung der Drehtür durchschaut. Alles, was er sieht, ist dieselbe Kreisbewegung, die sich immer und immer wieder auf dieselbe Art und Weise vollzieht, so endet auch der Roman mit der Beschreibung: „Die Drehtür dreht sich, schwingt, schwingt, schwingt…“
Für mich ein unglaublich facettenreicher Roman, den man aus so vielen Perspektiven betrachten kann!