Lesen mit allen Sinnen über die Wechselwirkung zwischen Mensch und Technik
Einschätzungen zum Sprach- und Erzählstil:
Der Sprachgebrauch mit poetischen Einflüssen lässt tief in die Atmosphäre eintauchen, die sich sehr kontrastreich gestaltet. Da ist zum einen die tiefste Provinz, ...
Einschätzungen zum Sprach- und Erzählstil:
Der Sprachgebrauch mit poetischen Einflüssen lässt tief in die Atmosphäre eintauchen, die sich sehr kontrastreich gestaltet. Da ist zum einen die tiefste Provinz, in der „sich Mensch und Landschaft gegenseitig vergessen“, die von Naturbelassenheit, Bodenständigkeit, handwerklicher Arbeit und dem persönlichen Austausch geprägt ist. Diese Welt prallt auf Elemente aus Science-Fiction-, Nahe-Zukunft- und Cyber-Thrillern, überspitzte Bilder einer immer schnelllebigeren Gesellschaft.
Ein ungewöhnlicher Genre-Mix, der fantastisch funktioniert und eine außergewöhnliche Geschichte formt.
Bei dem umstrittenen Bestseller "Die Tyrannei des Schmetterlings" findet sich ein ähnliches Sprachkonzept, das aber allzu oft in blumigen Beschreibungen ausufert und die Fokussierung vermissen lässt. Aber hier wird für meinen Geschmack genau das richtige Maß gefunden, damit Bilder im Kopf entstehen und man mithören, mitriechen und vor allem mitfühlen kann, es aber auch mit der Handlung vorangeht.
Es ist spürbar, dass der Autor etwa drei Jahre lang an den Details gefeilt hat.
Der Roman ist unterteilt in fünf sowohl thematisch als auch stilistisch klar abgegrenzte Abschnitte in der Vergangenheits- und Gegenwartsform mit prägnanten Überschriften, es gibt insgesamt 33 Kapitel, sehr gelungen wie ich finde.
Einschätzungen zu Handlung und Figuren:
Zur Geschichte möchte ich bewusst nichts verraten. Sie gestaltete sich für mich sehr spannend und faszinierend, bietet einen packenden Showdown und ein krasses, aber stimmiges Ende.
Die 20-jährige Hauptfigur Teo, aus dessen Perspektive alle Kapitel wiedergegeben werden, wirkt sympathisch. Er ist kein Übermensch, offenbart ein riesiges Repertoire an Gefühlen und klugen Gedanken, was ihn authentisch macht und zum Mitfiebern einlädt.
Nebenfiguren sind von überschaubarer Anzahl und wissen zu gefallen. Viele treten mehrfach auf, sind mysteriös und auf ihre Weise besonders, alle erfüllen bestimmte Funktionen, verdeutlichen Umstände.
Weitere Einschätzungen, Besonderheiten:
Ein Herausstellungsmerkmal bildet das mögliche Mitdenken und Spekulieren über Gleichnisse rund um den Wandel der Kommunikation (Assoziationen zum Internet, zu sozialen Medien usw.), Symbole und tiefere Bedeutungen. Es lohnt sich, zu sinnieren, z. B. über den Wert von Individualität, Sicherheit, Fortschritt, viele schnelle Informationen, Gedankenfreiheit, z. B. anhand dieses Satzes: „Wie schnell man sich daran gewöhnen kann, über alles Auskunft zu erhalten, dachte er, sei sie richtig oder falsch.”
Mir hat das Denkanstöße gegeben. Gleichzeitig so gut eingebettet, dass ich es nicht als anstrengend empfunden habe und stattdessen großen Spaß hatte. Ein echter Geheimtipp also (noch). Mit Sicherheit ein Buch, das man so schnell nicht vergisst! Für mich als Vielleserin absolut ein Highlight des Jahres 2018.
Zum Adressatenkreis:
Da Gewalt auftritt und die Geschehnisse bildhaft düster und beängstigend (nicht gewaltverherrlichend) inszeniert werden, empfehlenswert erst ab etwa 14 Jahren. Eine Vorliebe für ausdrucksvolle, mit Metaphern angereicherte Sprache, gesellschaftskritische und philosophische Töne und ein intellektueller Hintergrund sind von Vorteil, wenn man in den vollen Lesegenuss kommen möchte.