Cover-Bild Pandemie: Wissenschaft – Politik – Medien
Band 152 der Reihe "Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V."
29,80
inkl. MwSt
  • Verlag: trafo Wissenschaftsverlag
  • Genre: keine Angabe / keine Angabe
  • Seitenzahl: 265
  • Ersterscheinung: 09.2022
  • ISBN: 9783864642289
Wolf-Dieter Ludwig, Jonas Schmidt-Chanasit

Pandemie: Wissenschaft – Politik – Medien

Disputation der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften am 14.10.2021 sowie weitere Einzelbeiträge zum Thema Pandemie
Lutz-Günther Fleischer (Herausgeber), Gerhard Pfaff (Herausgeber)

Der Band 152 der „Sitzungsberichte der Leibniz Sozietät der Wissenschaften zu Berlin“ vereint interdisziplinäre und transdisziplinäre wissenschaftliche Ausführungen sowie argumentativ begründete und empirisch gestützte Auffassungen von Disputanten zum Thema: Pandemie: Wissenschaft – Politik – Medien. Mit großer Resonanz veranstaltete die Leibniz-Sozietät am 14. Oktober 2021 dazu eine zum Denken anregende und zum Handeln bewegende Disputation. Die von den Disputanten aufgezeigten Perspektiven wurden von Mitgliedern unserer Gelehrtengesellschaft, die wir als Herausgeber um themenrelevante Beiträge für diesen Band ersucht haben, mit den Erkenntnissen, Mitteln und Methoden ihrer Fachgebiete erkennbar bereichert. Trotz dieser wertvollen Einzelbeiträge bleibt das dynamische Problemfeld wesensgemäß inhaltlich fragmentarisch ausgeleuchtet und zeitlich offen. „Die Lektion der Mikrobe – unsere neue Normalität heißt Komplexitätskrise“ überschrieb die Neue Zürcher Zeitung am 25.09.2021 einen Gastkommentar des Physikers und promovierten Philosophen Eduard Kaeser. Die Genesis: Ende 2019 durchbrach in China das zoonotische Coronavirus SARS-CoV-2 die Artengrenze. Sich rasch global ausbreitend infizierte es Millionen Menschen, da es weltweit weder ein wirksames antivirales Medikament zur Vorbeugung oder Behandlung von COVID-19, noch einen Impfstoff gab, der im bestimmten Maße vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 schützte. In der Abhandlung des Mediziners und Pharmakologen Wolf-Dieter Ludwig für diesen Band werden die für die Zulassung entscheidenden klinischen Studien besprochen – sowohl für die antiviralen Arzneimittelkandidaten zur Behandlung von COVID-19 als auch für die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2, die inzwischen in Europa, den USA und anderen Ländern der Erde zur Verfügung stehen. Bereits 6 Monate nach der Sequenzierung von SARS-CoV-2 konnten mehrere Impfstoffe gegen dieses Virus in frühen klinischen Studien untersucht werden. Dabei handelt es sich um neuartige gentechnisch hergestellte mRNA- oder DNA-Impfstoffe sowie neuerdings auch um einen Protein-Impfstoff. Inzwischen (Frühjahr 2022) sind bereits 5 COVID-19-Impfstoffe von der Europäischen Arzneimittelagentur zugelassen worden. Sie repräsentieren herausragende wissenschaftliche und technisch-technologische Team- Leistungen. Rein numerisch ist das gegenwärtige endemische Ereignis nicht unikal. Zum dritten Mal im jüngsten Dezennium (und höchstwahrscheinlich nicht zum letzten Mal) löste ein Virus aus dem Tierreich eine Epidemie aus. Die rezente gipfelte allerdings in einer einzigartig herausfordernden multidimensionalen Pandemie. Sowohl für deren Realität, als auch für die Reflexionen sind die häufig benutzten Charakterisierungen, wie heterogen, beziehungsreich, vielschichtig, ineinandergreifend, verflochten, vernetzt, verwickelt, mannigfaltig, vielfältig, vielseitig, diffizil, unauflösbar, markant, etc. Sie illustrieren das enorm ausgedehnte und nuancenreiche Wortfeld der Begriffe komplex bzw. Komplexität. Allein für das Substantiv Komplexität weist die Linguistik 1008 andere Wörter in 38 Wortgruppen aus. Die noch problematischere Kompliziertheit wird häufig – allerding vereinfacht – als exzessive Komplexität deklariert, die ins stochastische Chaos münden kann. Wer sich mit der Pandemie befasst, wird mit den Herausforderungen beider Kategorien konfrontiert. Udo Di Fabio – von 1999 bis Dezember 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht – hob schon 2009 hervor, dass die "Nebelwand der KomPlexität" zu einem "Verlust der Alltagsvernunft" führt. Und invers: Mit der Alltagsvernunft allein lassen sich komplexe Systeme nicht mehr stabilisieren Daraus entwickelt sich ein fundamentaler demokratietheoretischer Konflikt (Handelsblatt 24.12.2009). Regierende, Abgeordnete und autorisierte Sachwalter sollen über die wirksame und schnelle Regulierung hochkomplexer systemischer Probleme entscheiden, die selbst Experten und erfahrene Insider kaum noch angemessen begreifen, geschweige denn rasch und umfassend genug lösen können. Das ist eine wesentliche Ursache dafür, dass sich das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Medien immer wieder auflädt und gelegentlich bei enorm steigender Stromstärke mit einem Kurzschluss nullt. „In diesem Kontext fällt dem Informationsjournalismus mehr denn je die Aufgabe zu, den Info-Nebel zu lichten, die markanten Objekte in der Ereignislandschaft zu erkennen, zu beschreiben und einzuordnen – kurz: den Menschen Orientierungshilfe zu geben. Es versteht sich, dass diese Funktion eine besondere Bedeutung gewinnt, wenn – wie derzeit in der „Corona-Pandemie“ genannten Sozialkrise – die zu beschreibenden Objekte keinen festen Ort haben, sondern nebulös auftauchen und wieder verschwinden, derweil an anderer Stelle plötzlich neue hervorzubrechen“, schreibt der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Michael Haller in seinem Beitrag für diesen Band. Eine der Kernaufgaben des Informationsjournalismus sei es, so Michael Haller in seinem Fachbeitrag, der Unwissenheit mit Informationen über aktuelle Ereignisse entgegenzuwirken. Besonders in Krisen- und Katastrophenzeiten erwartet die Bevölkerung von den Medien, dass sie relevante Wissensbestände erschließen, abwägen und für eine fassbarere Rezeption aufbereiten. Die überwiegende Mehrheit medialer Informationsangebote zur Pandemie bestand aber aus hypothetischen, spekulativen, interpretierenden oder wertenden Aussagen, die häufig als Tatsachenberichte offeriert wurden. Diese Fehlfunktionen verstärkten sich noch, weil die drei relativ eigenständigen Subsysteme Wissenschaft, Politik und Medien während der Pandemie als rückgekoppelter "Wissenschafts-Politik-Komplex" fungierten. Über viele Monate hinweg wurden publizierte Informationen als wahrheitsgemäßes Wissen präsentiert; davon abweichende Aussagen zu oft mit spitzen Fingern beiseitegeschoben und marginalisiert, unzureichend geprüft, als unwahres Gerede derer apostrophiert, die es nicht wissen oder nicht wissen wollen, ("Corona-Leugner", "Schönredner", "Querdenker"). Auf diese Weise trugen leider auch Leitmedien zur Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung und zumindest indirekt zur Radikalisierung verängstigter Skeptiker bei. Wissenschaft ist in einer aufgeklärten Gesellschaft ubiquitär und ohne echte Alternative. Das hat spätestens die Coronavirus-Pandemie mehr als deutlich gemacht, resümiert der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit in seinem rückblickenden Beitrag für diesen Band. Der Wissenschaftskommunikation kommt in herausfordernden Krisenzeiten erwiesenermaßen eine Schlüsselrolle zu. Aber sie stellt zudem – gerade unter solchen Bedingungen – eine enorme Herausforderung dar, für den Journalismus und die Wissenschaft gleichermaßen. „Denn es prallen Welten aufeinander. Und zwar nicht unbedingt die besten aller möglichen Welten“. Neben subjektiven Momenten, vor allem unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Interessen der kollektiven Protagonisten (herausragend ihrer ‚Exzellenzen,), divergenten Erwartungshaltungen, verschiedenartigen empirischen Erfahrungen, diversem theoretischen Wissen, andersgearteten Wahrnehmungs- und Denkweisen sowie widersprüchlichen Strategien der Handelnden, wird das Spannungsfeld zwischen den Polen Wissenschaft, Politik und Medien von originären strukturellen und funktionellen Konstellationen der selbst komplexen, vernetzten und interagierenden Subsysteme konstituiert. Lutz-Günther Fleischer, Vizepräsident der Leibniz-Sozietät, skizziert in seinen Reflexionen einige praktische und theoretische Aspekte der generischen Komplexität der Corona-Pandemie in dem Spannungsfeld, dessen spezifische Formen, Ursachen und Folgen in den vorliegenden Beiträgen dieses Sitzungsberichts detailliert erörtert werden. Diskutiert werden zudem Erscheinungsformen und Wirkungen der sogenannten ‚Komplexitätskrise‘ und denkbare Reaktionen darauf. Die Universalität der Auswirkungen erstreckt auf alle Bereiche der Zivilisation, erfasst naturgemäß auch die komplexen Systeme der Kommunikation. Dazu gehören im allgemeinen Sinn insbesondere die natürlichen Sprachen der Menschen, die konstruierten Sprachen und Zeichensysteme. Gerda Hassler, Präsidentin der Leibniz-Sozietät, dokumentiert und interpretiert faktenreich, dass kaum ein anderes Thema innerhalb von zwei Jahren so viele Innovationen in der deutschen Sprache hervorbrachte, wie die COVID-19-Pandemie. Das neuartige Virus mit seinen fortwährenden Mutationen, die Schwierigkeit der Menschen, mit einer unvorhergesehenen und unbeherrschbaren Situation umzugehen, aber auch die Notwendigkeit, sich darüber zu verständigen, einschließlich des Verfassens eigener, origineller Standpunkte, führten zu zahlreichen lexikalischen Neuerungen. Daneben gab es aber auch Wandlungen im Sprachgebrauch, die zu veränderten Ausdrucksweisen, Kommunikationsstrategien und sogar zur Etablierung neuer Textformen und Diskursstrategien führten. Der zukünftige Sprachgebrauch wird über beide Schicksale entscheiden. In besonderer und individuell vielfach erlebter Weise beansprucht COVID-19-Pandemie alle Lebenswissenschaften.
Der Molekularbiologe und Virologe Detlev H. Krüger komprimiert in 9 Thesen seine Schlussfolgerungen aus den Umgangsformen von Wissenschaft, Politik und Medien mit der COVID-19-Pandemie in Deutschland. Er hebt die Bedeutung evidenzbasierter Entscheidungen und sachlicher Information der Öffentlichkeit hervor, die diese zu angstfreiem und konstruktivem Verhalten motivieren. Bei der Bewertung der Schwere der Infektion in der Bevölkerung sollte der Fokus auf der Krankheitslast und nicht auf der Infektionshäufigkeit liegen. In der aktuellen Corona-Krise erfährt die sichere Diagnose von Virusinfektionen eine ganz neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Aber auch zahlreiche andere virale Erreger bedürfen einer entsprechenden Diagnostik. Anhand ausgewählter Beispiele zeigt Detlev H. Krüger in seinem zweiten Beitrag, welche Bedeutung die molekulargenetische Diagnostik hat, wie neue Erreger erstmals nachgewiesen werden können und warum eine effektive Virusdiagnostik sowie die Entwicklung neuer Impfstoffe ohne "Gentechnik" nicht mehr denkbar sind. Die bisherigen Erfahrungen verweisen einerseits auf die Grenzen der Modellierung epidemiologischer Prozesse. Andererseits belegen sie, dass derartige Modelle sowie mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten zu ermittelnden Voraussagen von höchstem Wert sind. Die mit unterschiedlichen und variantenreichen Methoden der Modellierung erreichten Fortschritte sind ebenso deutlich, wie die bisher unbewältigten Anforderungen. Die Physiker Werner Ebeling und Sergey Trigger analysieren in ihrem Beitrag mehrere Phänomene der zeitlichen Entwicklung der Pandemie COVID-19 sowie neuer hochinfektiöser Stämme Eine Basis bilden die mathematischen Modelle des Lotka-Volterra-Typs, eine zweite die Evolutionsgeschichte und das evolutionäre Spiel. Optimistisch folgern die beiden Autoren, dass das Genom von SARS-CoV-2 nicht in der Lage ist, seine Eigenschaften im Hinblick auf etwaige Gegenmaßnahmen der menschlichen Bevölkerung zu optimieren und schließlich schwächer wird und an Macht und Einfluss verliert. Der Sozialmediziner Heinrich Niemann formuliert die Forderung und Erwartung einer umfassenden öffentlichen Bewertung der Bekämpfung der Corona-Pandemie in der Bundesrepublik Deutschland, auch um auf zukünftige epidemische Ereignisse besser vorbereitet zu sein. Dazu werden zum Zeitpunkt der Publikation relevante Fragen aufgeworfen, wie z.B. die unklaren Strukturen der Pandemiebekämpfung in Staat und Gesellschaft, die intransparente Expertenberatung der Politik sowie die Qualität der medizinisch-statistischen und epidemiologischen Forschung zur Pandemie und deren öffentliche Darstellung. Der Protagonist der Pflegewissenschaft und des Pflegemanagements Olaf Scupin exponiert in seinen Ausführungen die These: Jede Gesellschaft bekommt die Krankenpflege, die sie verdient! Die enormen Herausforderungen (und häufig Überforderungen) der Krankenpflege während der COVID-19-Pandemie werden in ambivalenter Erinnerung bleiben. Sie offenbaren essentielle Widersprüche, obwohl in der Bundesrepublik Deutschland in der jüngeren Vergangenheit kaum ein anderer Berufszweig – auf dem Weg zu gesetzlich verankerten hochschulischen Pflegeausbildung – einem so starken Wandel unterzogen wurde, wie die professionellen Pflegeberufe. Mit Hilfe eines historischen Exkurses zur Entwicklung der professionellen Pflegefunktionen und -berufe erläutert und diskutiert der Theorie-geleitete und Praxis-erfahrene Spezialist die aktuellen Entwicklungen in der Pflegelandschaft. Gisela Jacobasch und Edgar Klose diskutieren in Ihrem Beitrag insbesondere einen Mechanismus, wie bei der Translation der Virus-m RNA von SARS-CoV-2 mit dem bicyclischen Epoxy-Monoterpen 1,8-Cineol, das ca. 85% des Eukalyptusöls bildet, eine zentrale Protease effektiv inhibiert werden kann. Bei dieser komplexen Translation werden zunächst zwei inaktive Polypeptidketten gebildet. Die aktiven Proteine entstehen erst nach der proteolytischen Spaltung. Sie wird von dieser, am Anfang der Kette lokalisierten – mit Cineol zu hemmenden – spezifischen Protease katalysiert. Die Herausgeber hoffen, dass dieser Sitzungsbericht seine Leser anregt und mit vorausschauendem Denken sowie wissensbasiertem Handeln ermutigt, der ‚Nebelwand der Komplexität‘ mehr Transparenz zu verleihen.

Dieses Produkt bei deinem lokalen Buchhändler bestellen

Meinungen aus der Lesejury

Es sind noch keine Einträge vorhanden.