Und–oder–entweder–manchmal–danach danach
Mit einem Hexagramm aus dem ›alten‹ Buch der Wandlungen präsentiert sich das vorliegende Erzählbändchen, hervorgehoben durch sein wohltuend weinrotes Cover. In das Hexagramm ist der Titel eingearbeitet: ...
Mit einem Hexagramm aus dem ›alten‹ Buch der Wandlungen präsentiert sich das vorliegende Erzählbändchen, hervorgehoben durch sein wohltuend weinrotes Cover. In das Hexagramm ist der Titel eingearbeitet: die Farbe Weiss auf einer durchgehend schwarz grundierten Linie, die Farbe Schwarz auf weiß gehaltener Linie – eine graphisch durchaus erhellende, sich von selbst erklärende Darstellung, um eine wichtige Aussage des alten wie des neuen Buchs der Wandlungen zu veranschaulichen: Beide – wenn auch nicht bunte, dennoch aus dem alltäglichen Leben der Kulturen nicht eliminierbare – Farben sind aufeinander angewiesen. Weiß ist nicht ohne Schwarz, und Schwarz nicht ohne Weiß denkbar.
Ganz spontan kommt bei Weiß und Schwarz auch das deutsche Märchen Schneewittchen in den Sinn. Die Königin wünscht sich ein Kind, dessen Haut so weiß wie Schnee, dessen Haar so schwarz wie Ebenholz und dessen Lippen so rot wie Blut sind. Weiß und Schwarz im gegensätzlichen Einklang scheinen in der Tat kulturüberschreitende Faszination auszuüben.
Wie indessen angedeutet, sind nach dem Buch der Wandlungen Weiß und Schwarz nicht bloß zwei Farben, sondern sie werden verstanden als Paar zweier entgegengesetzter Pole. Schwarz – Weiß stellt eines der vielen Entsprechungspaare zu Yin und Yang dar, im Hexagramm zu erkennen als unterbrochene bzw. durchgehende Linie.
Das auf dem vorliegenden Band dargestellte Hexagramm ist das der ›Mehrung‹, ein, nach Richard Wilhelm und seinen Kommentaren, hoffnungsvolles Zeichen des Gedeihens, bei dem sich das schöpferische Prinzip, Yang, dem empfangenden, Yin, gleichsam zu- oder auch unterordnet. Zu erkennen ist dies an der untersten, durchgehenden Linie und der unterbrochenen darüber. Die umgekehrte Anordnung bedeute Unheil. Aber das ist nur einer von vielen Deutungsaspekten, die diesem Hexagramm innewohnen.
Schon diese eine kurze Deutung macht klar, dass sich die Wechselbeziehung zwischen Yin und Yang nach keinem festen Schema vollzieht. Es kommt auf die jeweiligen Bedingungen, die Umstände an. Ein banales Beispiel sei erlaubt: Entsptrechend dem Gegensatzpaar Yin und Yang stellen bekanntlich auch Frau und Mann ein solches Gegensatzpaar dar. Allerdings, und das verdeutlichen die verschiedenen Episoden vorliegender Erzählung genau, besteht dazu kein Automatismus in Harmonie, das Zusammenkommen und -wirken geschieht vielleicht direkt, eher auf Umwegen, möglicherweise aber auch gar nicht, und ist obendrein konfliktreich. Noch ein weiteres simples Beispiel eines Yin-Yang-Paares in Form von Frau und weißer Kleidung. Dass es reine Spekulation ist, hier eine verborgene, innere Beziehung zu vermuten, sei dahingestellt. Die vorliegende Erzählung drückt die Vielfalt von Bedingungen der Yin-Yang-Wechselbeziehung ganz vortrefflich mit ihren Überschriften der einzelnen Kapitel aus: Und, Oder, Entweder, Manchmal. Das letzte, lange Kapitel trägt dann den Titel Danach, danach, und weist somit schon über den Kanon der Bedinungen hinaus.
Für den anspruchsvollen Sprachästhetiker, der an den teils etymologisch tiefsinnigen Erläuterungen zu diesen Konjunktionen großen Gefallen finden wird, bietet die vorliegende Erzählung verblüffende und zum Nachdenken anregende weitere sprachliche Überraschungen. Aber es gibt solche Überraschungen nicht nur auf der sprachlichen sondern auch auf der inhaltlichen Ebene, etwa wenn es sehr konkret um ›Liebesdinge‹, ob schwarz oder weiß, zwischen Frau und Mann geht. Alles wird, von der psychologischen Seite getragen, in die Suche nach dem tieferen Sinn des Seins geführt, und zwar speziell desjenigen, der sich Niemand nennt. Dieser Niemand, dieses Nichts also, ist gleichsam das lyrische Ich der Erzählung. Es, also Niemand, ist wie die Lichtfarbe Weiß, das sich ja aus verschiedenen Farben zusammensetzt, oder wie die Farbe Schwarz. Man sollte sich also hüten, womöglich dieses lyrische Ich, den Erzähler und den Autor in einen Topf zu werfen, auch wenn man dazu an manchen Stellen der Erzählung in Versuchung geraten könnte.
Bevor man vom Zauber der Erzählung über Weiß und Schwarz mit ihren sprachlichen und inhaltlichen Reizen in Bann gezogen wird, sollte man die einleitenden Verse als Wegweiser im Kopf behalten: »Was sich einmal sehr nahe ist,/ wird sich einmal umso ferner sein./ So wird sich einander näher finden,/ was einmal nichts als Ferne war?«