Bismarckzeit – gut nachvollziehbare und leicht lesbare Historie UND Schmöker
• Alvin von Briest, ohne Erbe als jüngerer Bruder von Levin. 1840 ist er 19 – also geb 1821. Er geht zum Militär – auf einen Tipp von Otto von Bismarck hin (ja, DER Bismarck)
• Louise Ferrand ist 17 im ...
• Alvin von Briest, ohne Erbe als jüngerer Bruder von Levin. 1840 ist er 19 – also geb 1821. Er geht zum Militär – auf einen Tipp von Otto von Bismarck hin (ja, DER Bismarck)
• Louise Ferrand ist 17 im Jahre 1840 - also 1823 geboren. Nach dem Selbstmord des Vaters wegen Spielschulden sind ihre Mutter Amélie und sie verarmt und aus einem Leben im Wohlstand in eine kleine Wohnung umgezogen. Der verheiratete Liebhaber der Mutter finanziert sie
• Paul Baermann aus München, 19 (*1821). Er liebt das neue Wunderwerk Eisenbahn, plant eine Ausbildung zum Ingenieur in England und hat dafür auch bei den Eltern Geld geliehen, sehr zum Missfallen seiner älteren Schwester Lily
Diese drei sind die Hauptfiguren der von 1840 bis 1871 reichenden Handlung. Alvin und Paul lernen einander kennen, als sie spontan gleichzeitig einem Mann helfen, der ihrer beider Leben nach Paris lenken wird. Und in Paris ist Louise, die Frau, in die sich beide Männer verlieben werden. Alle finden sie wahre Freunde in Frankreich und Deutschland, deren Unterstützung sie sich gewiss sein können. Allerdings gibt es auch mächtige Feinde, Gefahren und Nöte.
Soweit der Part „Schmöker“. Mich hat das Buch positiv überrascht damit, wie genial gut Autor Dübell die historischen Ereignisse integriert hat. Es wirkt nur ein, zwei Mal (auf über 1000 Seiten ist das nichts) wie eine Aufzählung aus einer Liste (Beispiel um S. 566), sonst entfalten sich Handlung und Historie sehr geschickt nebeneinander. Ernsthaft, ich hatte das (na ja, fast) alles in der Schule gelernt, den Zusammenhang, das „große Ganze“, aber tatsächlich erst durch den Roman ziehen können (der Geschichtsunterricht hatte die unsägliche Angewohnheit von Themenwechseln, ohne dass bei Wiederaufnahme die Vorgänge DAVOR rekapituliert und in Bezug gesetzt worden).
Die Leistung: Keine der Personen wirkt wie ein reiner Stichwortgeber wie bei Prange „Unsere wunderbaren Jahre“ (nicht „wir brauchen jemanden aus Berlin, um die Entwicklung von xy darzustellen“) – dadurch wirkt es nicht aufgesetzt, welche historischen Ereignisse die Charakere miterleben. Dübell kann Prozesse und Akteure in ihrem Widerspiel nachvollziehbar machen – der Code Civil nach dem Weggang Napoleons und die Wünsche der „einfachen Leute“ nach mehr Rechten, dagegen die Junker mit ihrem Bestreben, die alten Machtgefüge zu erhalten, als Beispiel zum März 1848. Historische Personen sind überzeugend eingebaut, vor allem Bismarck und das preussische Königshaus; sie haben nicht nur „Cameo-Auftritte“ wie z.B. Königin Victoria in „Winterengel“ von Bomann. Das Buch geht ins Detail, teils sehr viel, aber nie so viel wie „1813“ von Ebert, bei dem dann wirklich JEDE Uniform mit jedem Detail abgearbeitet wird.
Dennoch gibt es gelegentlich zu viele Informationen für mich „…die Soldaten … , die dort in langer, langer Reihe eintreffen und daran vorbeimarschieren würden – die Infanterieregimenter der Ersten, Zweiten und der Elbarmee und der Landwehr, die Füsiliere, die Jäger, die Grenadiere, die Pioniere, die Artillerie mit ihren Gespannen und aufgeprotzten Geschützen, zu Pferd die Kürassiere, die Dragoner, die Husaren, die Ulanen und natürlich die Garde.“ S. 763 …oder einfach „die Soldaten“?!
Zum Schmöker hätte ich mehr zu meckern, der Plot ist aus den „üblichen Verdächtigen“ zusammengesetzt. Zwei Männer aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten werden beste Freunde und verlieben sich in dieselbe Frau, jeder von ihnen hat Widersacher, die sich natürlich auch finden, die Geschichte zwingt die Freunde auf gegnerische Seiten, es kommt zu Gefahren und Nöten … Wer die „Clifton-Saga“ von Archer mochte, wird das hier auch lieben. Ich fand das ja „ganz nett“, die polyamouröse Liebesbeziehung ist sicher modern, wenn auch vielleicht unrealistisch (ohne Eifersucht?), die Bösen sind so richtig böse à la Blofield bei Bond – „das kann man lesen“. Ohne die geniale geschichtliche Verwebung müsste man es aber nicht (die Cliftons sind deutlich mehr „Schmöker“).
Und sonst? Mir gefiel der feine Humor, so wenn dem Münchner Paul bei Alvin in Preussen die Berge fehlen. Alvin: „Berge…verstellen einem die Sicht auf das Wesentliche“. Paul: „Berge sind das Wesentliche!“ S. 334 Die Prüderie auf den ersten 500 Seiten war seltsam: „Jedes Mal, wenn sie und er zusammen Erfüllung fanden…“ S. 256 oder am Morgen „danach“ „Mittlerweise wusste er genau, wie stark ihre Liebe zu ihm noch immer war...“ S. 336 Mit Louises Ergreifung der Initiative verliert sich das überraschenderweise. Kein Franzose sagt „Oh non, nous ne pas voulont de la dynamite alboche!” S.905 – ne pas voulont? Ach ja, und ein Adliger belehrt einen anderen Adligen nicht, dass der ihn mit „von“ anzusprechen habe statt nur mit dem Familiennamen, letzteres ist durchaus üblich unter den Herren; "man" weiß, wer "man" ist S. 51
Dafür erfasst Dübell pointiert die jweiligen Gegebenheiten, so „Selbst für ihn, der mit Buchhaltung nichts zu tun hattte, waren die Aufzeichnungen nachvollziehbar. Grundstücksbesitzer, die mehr Geld für ihre Grundstücke bekommen hatten als den reellen Preis, und den Überschuss mit den zuständigen Beamten geteilt hatten, … . Enteignungen, die auf Kosten einer effizienten Streckenführung gegen mächtige Schmiergelder verhindert worden waren, …. Verladebahnhöfe, die ursprünglich nicht vorgesehen waren, weil ein Fabrikbesitzer den Segen der Eisenbahn direkt vor seinen Produktionsanlagen erkannt und dafür ordentlich bezahlt hatte.“ S. 175. Wie wenig sich geändert hat.
Insgesamt liest sich das Buch als ein Manifest für ein vereintes Europa, Freundschaft über Klassen- und Ländergrenzen und gegen den Krieg. Die Bemerkungen zu Mechanismen von Aufhetzung und Hass sind erschreckend aktuell.
Dies ist Band 1 einer Reihe mit dem verbindenden Motiv der Eisenbahn, bei Band 2 scheint es das Flugzeug zu sein, mit einer Übergabe an die Enkelgeneration der Protagonisten. Ich werde hineinlesen, mindestens.
5 Sterne. TROTZ Schmöker-Bauchweh, so bleiben nämlich 1056 Seiten und VIELE Ereignisse noch verdaubar (ähnlich der TV-Dokumentary „Die Deutschen“ oder bei „Die Sendung mit der Maus“ ?. Ich werde mein altes Geschichtsbuch neu lesen mit dem Gefühl, dort zwar mit Details beworfen zu werden, aber den Zusammenhang erfasst zu haben.