Empfehlung! Achtung, KEIN Thriller oder Krimi, eher …so etwas wie ein dramatisches Psychogramm?!
Das soll heißen: Leseempfehlung. Aber: bitte nicht den Klappentext lesen. Bitte nicht den Aufkleber/Einleger „Der Thriller des Jahres“ lesen. Die werden dem Buch nicht gerecht: Wer Thriller mag, wird speziell ...
Das soll heißen: Leseempfehlung. Aber: bitte nicht den Klappentext lesen. Bitte nicht den Aufkleber/Einleger „Der Thriller des Jahres“ lesen. Die werden dem Buch nicht gerecht: Wer Thriller mag, wird speziell den Beginn zwingend zu langsam, zu langatmig, zu wenig vorantreibend empfinden. Wer keine Thriller mag, wird leider leider das Buch verpassen. Aber leider leider war wieder einmal jemand bei einem Verlag der Ansicht, die Schublade „Thriller“ sei doch ganz nett – damit könne man das Buch gut verkaufen.
Laut Wikipedia gilt: „Charakteristisch für Thriller ist das Erzeugen eines Thrills, einer Spannung, die nicht nur in kurzen Passagen, sondern während des gesamten Handlungsverlaufs präsent ist, ein beständiges Spiel zwischen Anspannung und Erleichterung.“ Nein, dieses Buch fängt sehr gemächlich an. Ja, zugrunde liegt ein Verbrechen, ein wirklich brutales, abscheuliches Verbrechen – die Vergewaltigung an der sechzehnjährigen Jenny. Jetzt würden viele das Buch meiden, weil Gewalt nicht ihr Thema ist, vielleicht speziell auch sexuelle Gewalt. Der Leser bekommt hier jedoch das Thema zuerst mit einer gewissen Distanz vermittelt, das Verbrechen ist „bereits vorher“ passiert, wir sehen "nur" medizinische und polizeiliche Berichte (ja, das ist explizit – aber „Zusehen/-hören/-lesen“ ist etwas ganz anderes, zumindest für meine „Mit-Ertragens-Schwelle“).
Weiter mit Wikipedia: „In Thrillern muss sich der Held meist gegen moralische, seelische oder physische Gewalteinwirkung durch seinen Gegenspieler behaupten, während dies in Kriminalgeschichten weniger der Fall ist. Auch ist im Kriminalroman meist die Aufklärung des Verbrechens der Höhepunkt, während im Thriller erst der darauf folgende, oft sehr knappe, aber endgültige Sieg über den Widersacher den Höhepunkt darstellt, mit dem der Held sich selbst und womöglich auch andere rettet….Normalerweise wird in Thrillern viel Wert auf die Beschreibung der Handlung gelegt. Werden hingegen die Figuren und deren Psyche ebenso stark oder gar stärker betont, spricht man von einem Psychothriller. Meist ist hier ein emotionaler Konflikt zwischen mehreren Personen oder auch ein Konflikt innerhalb einer Person Thema, beispielsweise aufgrund früherer Erlebnisse. Typische Merkmale von Psychothrillern sind der Einsatz der Bewusstseinsstromtechnik, ein Erzähler oder die ausgedehnte Thematisierung einer Vorgeschichte.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Thriller Ja, meinetwegen gibt es so einen Hauch Psychothriller („so richtig“ Psychothriller wäre eher der von mir im Original gelesene und bewertete „und morgen dein Tod“ = „Hunted“ = „What does not kill her“). Und: Nein. Auch ein Krimi ist das hier nicht, vielleicht eher etwas neues, eigenes, wie bei „Fusion-Küche“. Wir sehen zu, was ein Ereignis mit Menschen macht: wie zum Beispiel Jennys Eltern mit der Tat umgehen, mit ihr, miteinander. Dabei merken wir peu à peu, dass da schon vorher bestimmte Tendenzen vorherrschten.
Aber Jenny ist eher nicht die Hauptperson. Und eigentlich geht es auch nicht um die Vergewaltigung, es geht – zuerst - darum, was die danach zuerst angestrebte Therapie an ihr auslöst – die Therapie, nach der sie alles vergessen soll. Das klappt zwar, aber andererseits doch nicht, denn sie fühlt sich nicht gut – kann das aber keiner Erinnerung als Auslöser zuordnen. Die Idee finde ich genial: Darf man das, sollte man das? Was ist wichtiger, den Täter zur Verantwortung ziehen zu können (eventuell, wenn man ihn findet, wenn er verurteilt würde) – oder dem Opfer keine Erinnerung an das Schreckliche zu lassen? Das allein hätte schon reichlich Stoff geboten, Autorin Wendy Walker belässt es aber nicht dabei; wie gesagt, Jenny ist meiner Meinung nach nicht die Hauptperson. Der Roman wird aus der Sicht des sie behandelnden studierten Mediziners, ihres Psycholgen, als Ich-Erzähler aufgespannt als ein komplexes Psychogramm: da gibt es noch Jennys Eltern, die Arbeit des Psychologen in einer Strafanstalt, seine Vor-Meinungen (gegen die „Vergessens-Pille“, für bestimmte andere Vorgehensweisen, beeinflusst durch weitere Erfahrungen).
Nein, ich möchte hier nicht weiter schreiben. Ich habe viel markiert während der Lektüre, doch jeder Ausschnitt könnte zu viel verraten, es wird so einiges in den Raum geworfen; der Psychologe schreibt eindeutig im Rückblick aus einer Perspektive, in der schon mehr klar ist, und greift dadurch häufig vor – oft, vielleicht sogar immer merkt man das – aber: die Autorin beherrscht es tatsächlich, dass NICHTS davon den Leser bis zum Ende der Geschichte wirklich weiterführt: Dieses Buch hat mich durch ein Wechselbad der Gefühle gejagt. Nie wusste ich, woran ich war. Insofern war es ein Pageturner und ich musste nach und neben der Lektüre noch viel über das Buch nachdenken. Wie manipulierbar ist die Erinnerung? Wie real sind überhaupt unsere Beziehungen, unsere Selbstbild, unsere Werte? Was richten unsere besten Absichten an? Welche Konsequenzen hat jedes Handeln, jedes Unterlassen? Was verursachen unsere Erwartungen?